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Angesichts der COVID-19-Pandemie rückt die Debatte um verschiedene gesundheitspolitische Alternativen in den
Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Wir sprachen mit dem Sozialmediziner Dr. Heinrich Niemann über die Gesundheitspolitik und die Pandemie-Maßnahmen in DDR und BRD.
Unser Interviewpartner
istDr. med. Heinrich Niemann (75), Studium an der Berliner Charité,
Facharzt für Sozialmedizin, gesundheitspolitische Arbeit in Ostberlin, 1986 bis 1990 Geschäftsführer der DDR-Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Nuklearkrieges (IPPNW), 1992 bis
2006 gewählter Bezirksstadtrat in Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, bis 2001 für Gesundheit, in dieser Zeit Vorsitzender der Krankenhauskonferenz des Krankenhauses Kaulsdorf. Das Gespräch führte
Hasan Posdnjakow.
Auf welchen materiellen Grundlagen
wurde das Gesundheitssystem der DDR errichtet? Wie war die Situation 1945, und wie entwickelte sich das System in den Folgejahren? Und welche Merkmale waren für das Gesundheitssystem der DDR
besonders charakteristisch, inwiefern unterschied es sich vom Gesundheitssystem der BRD?
Die materiellen und auch geistigen Grundlagen für das
Gesundheitswesen nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone, in der späteren DDR, waren durch die Kriegszerstörungen, viele Kriegsflüchtlinge, das Auftreten von Seuchen (Tuberkulose, Typhus, Ruhr,
Geschlechtskrankheiten) kaum noch vorhanden. Es fehlte an Medikamenten, an allem. Dazu kam, dass sich deutsche Ärzte an Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Euthanasie – systematischer Mord von
Zehntausenden psychisch Kranken und Menschen mit Behinderungen, Menschenversuche in Konzentrationslagern) beteiligt hatten und sehr viele Ärzte Mitglieder der Nazipartei
waren.
Im Unterschied etwa zu Lehrern, die
deshalb vom Schuldienst entfernt wurden, waren Ärzte jedoch in der Pflicht, für die Gesundheit zu arbeiten. Die SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland; Anm. d. Red.) leistete
wirksame Hilfe, besonders bei der Seuchenbekämpfung. Politisch wurde von Beginn an von der deutschen Zentralverwaltung für Gesundheitswesen ein staatliches Gesundheitswesen angestrebt. Hier spielten
Erfahrungen und gesundheitspolitische Programme der SPD und KPD aus der Weimarer Republik vor 1933, die Erfahrungen der Sowjetunion und anderer Länder wie Großbritannien eine Rolle. Übrigens
orientierte sich das junge Sowjetrussland mit dem Volkskommissar Semaschko beim Aufbau seines Gesundheitswesens sehr stark an diesen deutschen Konzepten.
Die vor der Gründung der DDR mit deutschen Medizinern
ausgearbeiteten Befehle der SMAD über die Bildung von Polikliniken oder Betriebspolikliniken und zu anderen Medizinfragen bildeten die rechtliche und fachliche Orientierung. Die Krankenhäuser und
anderen Einrichtungen wurden verstaatlicht, eine Reihe kirchlicher Einrichtungen blieb jedoch bis 1990 erhalten. Die Ärzteausbildung wurde forciert und bald mit einer für alle Absolventen geregelten
Facharztweiterbildung sehr qualifiziert. Seit 1967 war auch der sogenannte Allgemeinmediziner oder Praktische Arzt eine gleichberechtigte Facharztrichtung in der DDR, eine Regelung, die in der
Bundesrepublik erst viele Jahre später erfolgte. Die vorbeugende Medizin, die Hygiene und vor allem der Gesundheitsschutz der Kinder und Jugendlichen wurden aufgebaut und
gefördert.
Ein flächendeckendes Netz poliklinischer
Einrichtungen entstand jedoch nur schrittweise. Anfangs waren die meisten Ärzte in der ambulanten Medizin in privaten Praxen tätig. Die unbestreitbaren Vorteile des poliklinischen Prinzips: fachliche
Zusammenarbeit, gemeinsame Nutzung von Labor, Röntgen und anderen Kapazitäten, kurze Wege, längere Öffnungszeiten und die Tatsache, dass der Arzt bei seinen ärztlichen Handlungen nicht immer an die
wirtschaftliche Seite denken musste, wurden allmählich immer deutlicher und wurden besonders von den neu ausgebildeten Ärzten angenommen. Weit mehr als die Hälfte, nämlich über 5.000 ambulante Ärzte,
waren noch 1955 privat niedergelassen. 1970 bestanden noch 1.888 private Praxen, das waren 18 Prozent der damals 10.687 ambulanten Ärzte.
Am Ende der DDR arbeiteten fast 21.000 ambulante
Ärzte in den rund 600 Polikliniken, den mehr als 1.000 Ambulatorien und über 2.500 staatlichen Arzt- und Zahnarztpraxen. 341 Praxen waren noch privat. Dieses bewährte System, dessen Vorzüge
westdeutschen Gesundheitspolitikern durchaus bewusst waren, wurde nach 1990 innerhalb von zwei, drei Jahren völlig umgestülpt und an das schon damals überholte, in der Kritik stehende private System
angepasst.
Über das DDR-Gesundheitswesen zu sprechen, geht
nicht, ohne die historische Tatsache zu erwähnen, dass bis 1961 (vor dem Mauerbau) und auch danach Tausende gut ausgebildete Ärzte aus der DDR in die Bundesrepublik gingen (zum großen Teil auch
abgeworben wurden). Die Embargopolitik des Westens bei modernen Technologien traf auch den medizinischen Bereich, was natürlich das DDR-Gesundheitswesen stark belastete.
Welche Schlüsse wurden aus der
sogenannten Hongkong-Grippe für die Seuchenbekämpfungspläne der DDR gezogen?
In der DDR wurden Fragen der Seuchenbekämpfung, der
vorbeugenden Medizin überhaupt und der medizinischen Bewältigung von Katastrophen sehr ernst genommen. Die erfolgreiche Zurückdrängung und schließlich praktische Ausrottung der Tuberkulose als
Volkskrankheit, die Impfungen gegen die spinale Kinderlähmung, die Umsetzung der Impfprogramme bei Kinderkrankheiten, der Aufbau der staatlichen Hygieneinspektionen, die auch die
Lebensmittelkontrolle ausübten oder die Hygienesituation in den Krankenhäusern oder Polikliniken regelmäßig kontrollierten, die vorbeugenden Aufgaben der Betriebspolikliniken sprechen dafür. Dazu kam
eine zunehmende Aufmerksamkeit für internationale Entwicklungen auf diesem Gebiet.
Die sogenannten akuten respiratorischen Erkrankungen,
speziell die Virusgrippe, rückten Ende der 1960er-Jahre in den Vordergrund, wurden auch von Forschungseinrichtungen in der DDR bearbeitet.
Ihr Gewicht, ihr Anteil am Krankheitsgeschehen nahm
zu (auch weil andere Krankheiten überwunden waren oder viel weniger auftraten). Diese in der DDR meldepflichtigen Erkrankungen erreichten 1969/70 einen hohen Stand.
Schon 1964 war ein Zentrallaboratorium für
respiratorische Viren gegründet worden, 1973 das Institut für Angewandte Virologie in Berlin-Schöneweide, das dann auch als "WHO-Influenzazentrum der DDR" fungierte, ehe 1974 das Epidemiologische
Zentrum der Staatlichen Hygieneinspektion diese Aufgabe übernahm. Nur am Rande sei daran erinnert, dass das 1910 gegründete und weltbekannte heutige Friedrich-Loeffler-Institut auf der kleinen Insel
Riems nahe der Insel Rügen in der DDR in der Virusforschung und Impfstoffherstellung für Tiere eine sehr wichtige Rolle spielte.
Die Analyse der DDR-Situation und der Erkenntnisse
aus der Hongkong Grippe mit ihren medizinischen, aber eben auch denkbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen führte zu den Entscheidungen, die Grippebekämpfung auch in der Regierung und
Verwaltung der DDR auf eine effektivere Stufe zu stellen. Sie führte zu dem "Führungsdokument" zur "Grippebekämpfung" vom 19. November 1970 mit einem Stufenplan von sogenannten "epidemiologischen
Situationsstufen" (I = Interepidemische Stufe – Basisstufe, II = Präepidemische Stufe, III = Epidemische Stufe) mit entsprechenden Maßnahmen. Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und anderen
Ländern wurde gesucht.
Es wurde darauf aufbauend in der DDR eine "Ständige
Kommission der Regierung zur Seuchenbekämpfung" eingerichtet, die unter Leitung des Gesundheitsministers stand, in der Vertreter aller relevanten gesellschaftlichen Bereiche und Ministerien vertreten
waren. Diese wurden vom Ministerpräsidenten der DDR persönlich ernannt und hatten bestimmte Entscheidungsbefugnisse. Es war ein schnell handlungsfähiges Gremium.
Eine einheitliche Struktur und Handlungsabläufe für
den Seuchenfall wurden erarbeitet und bis auf die Ebene der Kreise beziehungsweise Kommunen und im Gesundheitswesen eingerichtet, regelmäßig aktualisiert und angepasst. Es fanden auch Übungen
statt.
Da in der DDR der Gesundheitsminister, die meisten
seiner Stellvertreter, die zuständigen Ratsmitglieder (Bezirksärzte, heute Gesundheitsminister der Länder) in den Bezirken und den Territorialkreisen (Gesundheitsstadträte) in der Regel Ärzte waren,
stellte sich die heute sehr im Fokus stehende Wechselbeziehung zwischen medizinisch-fachlicher und politischer Entscheidung sehr praktikabel dar. Der Gesundheitsminister, der sich natürlich in seinen
Entscheidungsvorschlägen auf das Expertentum mehrerer medizinischer Fachrichtungen stützte (neben Virologen gehörten auch Epidemiologen, Krankenhaushygieniker, Kliniker, Notfallmediziner,
Kinderärzte, Pathologen sowie Vertreter weiterer Fachrichtungen dazu), hatte von Beginn an schon auch die politische Verantwortung und nahm sie wahr.
Letztlich sollten und müssen meiner Erfahrung nach am Ende Ärzte das
entscheidende Wort haben, wie eine Epidemie sachgerecht zu bekämpfen ist, und ob, wann oder wie eine Entwarnung gegeben werden kann. Dass mit Blick auf soziale oder wirtschaftliche Folgen auch
Fachleute anderer Disziplinen zurate zu ziehen sinnvoll und notwendig ist, versteht sich von selbst.
Zeitenwende : Was die DDR in der Seuchenbekämpfung besser machte
DDR-Sozialmediziner Heinrich Niemann fordert viel mehr Corona-Tests, kritisiert Fallpauschalen und fragt sich, warum der Schutz der Gesundheit nicht im Grundgesetz steht.
21.5.2020 - 22:05 , Heinrich Niemann
Obwohl ihre wirtschaftlichen Kräfte deutlich geringer als die der Bundesrepublik waren, konnte die DDR in der Tuberkulosebekämpfung, in der schnellen Zurückdrängung der spinalen Kinderlähmung, bei
Kinderkrankheiten und später auch bei Aids zum Teil bessere Ergebnisse erreichen. Auch auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung wies sie gute Ergebnisse auf. Wieso? Das möchte ich erklären.
Die Reaktion auf eine Epidemie/Pandemie war vom Gesetz her geregelt. Der Gesundheitsminister leitete eine ständige Kommission zur Verhütung und Bekämpfung von Epidemien. Bereiche wie Bildung, Handel,
Wirtschaft, Polizei gehörten dazu. Die staatliche Plankommission hatte die Aufgabe, schnellstmöglich zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren. In den 15 Bezirken und den Kreisen gab es
Kommissionen und Seuchenbekämpfungspläne. Die Einrichtungen des Gesundheitswesens – Universitätskliniken, Kreiskrankenhäuser, Polikliniken, Hygieneinspektionen, Arztpraxen, Kinder- und
Pflegeeinrichtungen, aber auch die Betriebe, Schulen, Behörden – wurden von Beginn einbezogen. Das war präzise vorbereitet. Es fanden dazu sogar Übungen statt.
Die Polikliniken in der DDR konnten mit ihrer Struktur (mehrere Ärzte, eigenes Labor, räumliche Abgrenzung von Infektionsbereichen, Aufstellung von Notbetten, längere Öffnungszeiten) ihre Kräfte
relativ schnell auf neue Aufgaben einstellen, ohne dass der einzelne Arzt wirtschaftlich in Gefahr geraten wäre. Das DDR-Gesundheitswesen war fast ausschließlich öffentliches Eigentum, wurde
staatlich organisiert und in der Regel ärztlich geleitet. Der Gesundheitsminister und seine Stellvertreter, die Verantwortlichen in den Bezirken oder in den Kommunen waren fast ausschließlich Ärzte,
vielfach erfahren in der Hygiene oder Sozialmedizin und Epidemiologie. Diese Autorität erleichterte die Abstimmung mit anderen Bereichen. Die DDR war in der WHO gerade wegen ihrer Expertise auf
diesem Gebiet geschätzt.
Als Facharzt für Sozialmedizin bewegen mich all diese Fragen sehr. Mich wundert, wie lange es in den letzten Wochen manchmal dauerte, ehe praktikable Regelungen erarbeitet werden und wurden – für
Gottesdienste, größere Kinos, Handel, Gaststätten, Hotels. Angeblich hatte sich der Berliner Senat mit der Gastronomie detailliert nicht beschäftigt, hieß es noch Ende April. Da ist der Protest der
Berliner Amtsärzte und anderer Gremien zu verstehen, dass sie nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen sind oder Leiter von Einrichtungen zuerst über die Medien von Entscheidungen erfahren. Man
staunt, dass es trotzdem einigermaßen funktioniert, jedoch um den Preis völlig unnötiger Verunsicherung und Zeitverlust.
Das Wort von Ärzten des öffentlichen Gesundheitsdienstes hat neben den Statistiken besonderes Gewicht. Denn die Mitarbeiter in den Gemeinden, Städten und Landkreisen kennen die jeweiligen
Lebensumstände von Corona-Betroffenen und die Art und Weise der Verbreitung oder Zurückdrängung von Infektionen. Bei ihnen werden aus Statistiken konkrete Vorgänge, auf die mit konkreten Maßnahmen
reagiert wird, natürlich einschließlich der korrekten Meldung an das Robert-Koch-Institut.
Es ist im Übrigen eine Unart, mit besserwisserischem Eifer unterschiedliche Datenerheber, Erhebungsmethoden und Messzeitpunkte ins Spiel zu bringen.
Heinrich Niemann
Ich plädiere dafür, die Tests weiter auszubauen. Sichere Erkenntnisse über Verlauf und Verbreitung der Krankheit werden sich am Ende auszahlen, besonders da es sich um ein Virus mit noch wenig
bekannten Eigenschaften handelt. Für Kinder und Jugendliche sind die Erkenntnisse entscheidend, auch die Meinung von Kinderärzten. Geöffnete Schulen und Kitas können mit medizinisch begleiteter
Überwachung auf Dauer einen besseren Gesundheitsschutz sichern als die jetzige Situation. Die Erfahrungen mit den „notbetreuten“ Kindern und dem begonnenen Schulunterricht machen Mut.
Lieber höhere bekannte Ziffern als Dunkelziffern! Und das Robert-Koch-Institut sollte bei seiner Methode der Datenerfassung und Berichterstattung bleiben. Das schließt die zügige Ausweitung der
Tests, die Komplettierung der zu erfassenden Daten und die Erweiterung von Meldepflichten ein. Es ist im Übrigen eine Unart, bei Statistiken mit besserwisserischem Eifer unterschiedliche
Datenerheber, Erhebungsmethoden und Messzeitpunkte je nach Bedarf und ohne entsprechende Erläuterung ins Spiel zu bringen. Nicht selten wird in bestimmte Zahlen mehr hineingedeutet, als sie aussagen
können. Die Ziffern der Hopkins-Universität haben bisher meines Erachtens keine signifikant anderen Erkenntnisse über Deutschland gebracht.
Eine Analyse der regionalen Unterschiede in den Corona-Fällen (so zum Beispiel die seit Beginn sehr günstigen Zahlen in Mecklenburg-Vorpommern oder auch in einigen Berliner Bezirken) kann dazu
beitragen, unterschiedliches Vorgehen bei Lockerungen gut zu begründen und nachvollziehbar zu machen. Alle Gestorbenen mit Corona-Verdacht sollten obduziert werden, wie es nach Hamburg nun häufiger
geschieht. Solche wichtigen Sektionen sind leider generell aus der Mode gekommen. Sie belegen zum Beispiel, dass es im Vergleich zur Influenza tatsächlich einen anderen Befall der Lungen bzw. anderer
Organe gibt. Der Behandlungsbedarf anderer Krankheiten muss trotzdem im Blick bleiben. In anderen Teilen der Welt bleiben Tuberkulose, Malaria, Hunger, unsauberes Wasser tödliche Bedrohungen,
obwohl wir die Mittel dagegen kennen und hätten.
Eine der wichtigsten politischen Forderungen ist, das Gesundheitswesen (endlich) zu verändern, ja, zu verstaatlichen. Das hieße, es aus den Fesseln einer gewinnorientierten Gesundheitswirtschaft zu
befreien. Denn dann könnten wir schneller und effektiver auf außergewöhnliche Aufgaben wie eine Epidemie reagieren. Der am Beginn der Corona-Krise erfolgte „Hilferuf“ von privatisierten
Krankenhäusern nach Ausgleich ihrer Einnahmeausfälle, weil sie planbare Operationen verschieben sollten, ist bezeichnend. Im ambulanten Bereich schienen viele Ärzte mit ihren Praxen allein gelassen.
Inwieweit sehen jedoch die kassenärztlichen Vereinigungen die Vorbereitung auf epidemische Situationen als Teil ihres Sicherstellungsauftrages? Der öffentliche Gesundheitsdienst, seit Jahren
heruntergefahren, wird wegen seiner offensichtlich nicht ersetzbaren Funktion gelobt. Besonders Ärzte in diesem Bereich werden aber schon seit längerem unanständig schlecht vergütet.
Die Änderung der Eigentumsverhältnisse muss einhergehen mit der Befreiung der Krankenhäuser vom Fluch der Fallpauschalen. Das wäre nicht nur kostengünstiger, sondern auch medizinisch wirksamer. Ein
Arzt ist kein (Klein-)Unternehmer! Diese Rolle führt zu Interessenkonflikten. Es ist kein Zufall, dass im ambulanten Bereich immer mehr Ärzte als Angestellte tätig sein wollen. Wenn das
Gesundheitswesen staatlich wäre, könnten die als Medizinische Versorgungszentren etablierten Kapitalunternehmen, die oft täuschend als Polikliniken firmieren, keine privaten Gewinne aus der über die
gesetzlichen Krankenversicherung erfolgenden Finanzierung ihrer Leistungen ziehen. Ja, es würde keiner mehr aus gesetzlichen Versicherungsbeiträgen sachfremde Erlöse erzielen.
Das Wort Gesundheit taucht im Grundgesetz überhaupt nicht auf! Wichtigste Verfassungsstütze bisher ist das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Ansatzpunkte bieten das Sozialstaatsgebot,
Aussagen über den Schutz von Frauen und Kindern und über die allgemeinen Katastrophen- und Notstandssituationen. Demgegenüber gibt es völkerrechtliche Aussagen zu Gesundheit in der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte, im Uno-Menschenrechtsabkommen. In unserem Land kann man lange spitzfindige Gutachten lesen, die die Nichtaufnahme von Rechten in das Grundgesetz rechtfertigen. Zwar
könnte man auch mit dem jetzigen Grundgesetz vieles ermöglichen, zum Beispiel den Aufbau von Polikliniken, die Abrechnung der Leistungen ohne Fallpauschalen, eine bessere Krankenhausplanung. Doch
sollte die Corona-Erfahrung Anlass sein, den Schutz der Gesundheit in das Grundgesetz aufzunehmen.
Wer das Gesundheitssystem verbessern will, sollte Konzept, Struktur und Ergebnisse des DDR-Gesundheitswesens kennen. Hier offenbart sich unaufschiebbarer Nachholbedarf. So nannte der letzte
DDR-Gesundheitsminister Prof. Dr. Jürgen Kleditzsch (CDU) in der Regierung de Maizière die Gesundheitspolitik in Gesamtdeutschland „konzeptionslos“, es fehlte an dem politischen Willen, die
„positiven Seiten beider Seiten“ zusammenwachsen zu sehen. Ähnlich erinnerte sich Franz Knieps als nach dem Osten gesandter Gesundheitsexperte. Ihm wurde „von den eigenen Leuten“ gesagt: „Ich sei
nicht in den Osten geschickt worden, um über den Erhalt von DDR-Strukturen nachzudenken, sondern um eine reibungslose Ausweitung der westdeutschen Krankenversicherung zu organisieren.“
Jeder Bürger hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und Arbeitskraft.
DDR-Verfassung, Artikel 35
Die DDR-Verfassung machte in fünf Artikeln Aussagen zur Gesundheit. Ich zitiere hier den Artikel 35:
(1) Jeder Bürger hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und Arbeitskraft.
(2) Dieses Recht wird durch die planmäßige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die Pflege der Volksgesundheit, eine umfassende Sozialpolitik, die Förderung der Körperkultur, des Schul-
und Volkssports und die Touristik gefördert.
(3) Auf der Grundlage eines sozialen Versicherungssystems werden bei Krankheit und Unfällen materielle Sicherheit, unentgeltliche ärztliche Hilfe, Arzneimittel und andere medizinischen Leistungen
gewährt.
In weiteren Artikeln wird auf das Recht auf Betreuung im Alter, bei Invalidität und Arbeitsunfähigkeit sowie den Schutz und die medizinische Betreuung von Mutter und Kind abgestellt.
Was muss geschehen?
Die Grenzen der gegenwärtigen ambulanten Medizin mit seinen privaten Niederlassungen und den privaten Versorgungszentren sollten durch das poliklinische Prinzip aufgelöst werden:
unbürokratische Zusammenarbeit zwischen Ärzten, eine breitere Zugänglichkeit, längere Öffnungszeiten, effektivere Nutzung von Geräten und Labors, kurze Wege, effektivere Verwaltung. Der öffentliche
Gesundheitsdienst muss gestärkt und qualifiziert werden. Es ist verantwortungslos, wenn zurzeit allein in Berlin wohl deutlich mehr als 50 Ärzte in diesem Bereich fehlen, weil sie nicht angemessen
bezahlt werden.
Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Augenblick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre
Fürsorge verloren.
Bernard Lown, Gründer der Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg
Eine vernünftige Krankenhausplanung muss ein Krankenhausnetz zum Ziel haben, dem sich die Interessen der einzelnen Träger und Eigentümer unterordnen müssen. Auch in der DDR wurden die Bettenzahlen
dem tatsächlichen Bedarf und den neuen Behandlungsmöglichkeiten angepasst und über die Jahre reduziert. Auch in der DDR spielte die Entwicklung von Kapazitäten bei schwierigen, seltenen Operationen
oder Therapien eine wichtige Rolle. Doch der Effekt für die Gesundheit hatte das Primat, nicht Profitabilität.
Der berühmte amerikanische Herzspezialist und Gründer der Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg, Bernard Lown, schrieb im Vorwort seines Buches „Die verlorene Kunst des Heilens“: „Ein
profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Augenblick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren.“
Dr. med. Heinrich Niemann, 75, Studium an der Charité, ist Facharzt für Sozialmedizin und war von 1992 bis 2001 Gesundheitsstadtrat in
Marzahn-Hellersdorf.
In diesem Jahr jährt sich die deutsche
Wiedervereinigung zum 30. Mal. Christian Lorenz, Keyboarder von Rammstein, ließ in einem Interview nun kein gutes Haar an der Wende.
Harte Worte von
Rammstein-Keyboarder Christian Lorenz: In einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung "Der Standard" bezeichnete der Musiker die deutsche Wiedervereinigung als "Sauerei". Außerdem legte er
nach: "Wir wurden als unnützes Land angegliedert, ganze Biografien für wertlos erklärt, Firmen geschlossen, damit sich die Westfirmen breitmachen konnten." Weil sich die Menschen im Osten deswegen
"zurückgesetzt" gefühlt hätten, würden bis heute "Groll und Enttäuschung anhalten". Die Folge davon sei der anhaltende Rechtsruck in den ehemals ostdeutschen Bundesländern.
LIVE ABSTIMMUNG 5.243 MAL ABGESTIMMT
Wie
finden Sie dieses Statement von Rammstein?
Sie haben eine ganz klare Meinung.
61%
8
%
31%
Toll
Nicht gut
"Das politisch Linke hatten sie (...) schon in ihrem Leben, jetzt probieren sie es mit rechts", so die Meinung von Lorenz. Warum die Gunst vieler Wähler auf die AfD umschlägt,
kann "Flake", wie sich der Musiker selbst nennt, aber nicht verstehen: "Wenn die AfD regieren würde, würden viele Leute sehr schnell merken, dass es nicht besser, sondern schlimmer wird." In Bezug
auf die DDR sagte er hingegen, dass eine Pauschalisierung als "Unrechtsstaat" nicht angemessen sei. "Ich möchte nicht wissen, wie viele unschuldige Menschen im Westen eingesperrt und überwacht wurden
beziehungsweise werden", fügte Lorenz hinzu
2017 veröffentlichte der Keyboarder mit "Heute hat die Welt Geburtstag" eine literarische Autobiografie über die Band, 2019 meldete sich die Rockband mit ihrem Studioalbum
"Rammstein" zurück.
Die DDR war das Ergebnis von der Befreiung des Hitlerfaschismus des II.Weltkrieges (1939-1945) durch die 4 Siegermächte UdSSR, USA, England und Frankreich.
Anmerkung: Auf dieser Seite wird von meiner Seite aus versucht, dass mitunter in der Bevölkerung der BRD und darüber hinaus bestehende Unkenntnis über die
Entstehung der DDR, ihr Wesen usw. objektiv und realistisch darzustellen. Ich kann auch nicht den Anspruch auf Vollstäbdigkeit erheben, was alleine schon durch die begrenzt zur Verfügung stehende
Seitenzahl nicht möglich ist.
Der RotFuchs Förderverein e.V. und hier die Regionalgruppe Rostock, deren Vorsitzender ich seit 2011 bin, hat am 5.Oktober 2019 aus Anlass des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 7.Oktober
1949,
eine Festveranstaltung durchgeführt.
Im einzelnen, werden hier folgend ein paar wichtige Ausschnitte dokumentiert dargelegt. Es war die einzige Veranstaltung in ganz Mecklenburg Vorpommern gewesen, die dieses historisch wichtige
Ereignis in würdevoller Form begangen hat.
Festveranstaltung
Aus Anlass des 70. Jahrestages der Gründung der DDR(7.Oktober 1949)
lädt der
RotFuchs Förderverein e.V.
Regionalgruppe Rostock
am Sonnabend 05. Oktober 2019
zum
Thema
„Gründung und
Niedergang der DDR - Wendepunkte europäischer Geschichte.“
(Bewahrender
wie selbstkritischer Rückblick über 40 Jahre DDR)
Wir begrüssen als Referent:
Egon Krenz (Staatsratsvorsitzender der
DDR a.D.)
und
Hartmut König(Liedermacher und Journalist)
Beginn: 14.00 Uhr - 17.00 Uhr (Einlass 13.00 Uhr)
Eintritt: frei
Ort:Stadtteilbegnungszentrum (SBZ) Toitenwinkel
Olaf-Palme- Str. 26 in 18147 Rostock
-Wir bitten zur Absicherung der Veranstaltung um eine
Spende-
-Der
Vorstand –
Vor und nach der Festveranstaltung konnten sich die Gäste an den verschiedenen Infoständen des RotFuchs Fördervereins, der DKP, der Basisorganisation Die Linke Rostock-Stadtteil
Dierkow sowie der Initiativgemeinschaft
zum Schutz der Sozialen Rechte Ehemaliger Angehöriger Bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR e.V. (ISOR)
informieren und Materialien
erwerben.
( Bild von der Veranstaltung am 5.Oktober 2019)
Die DDR war ein Arbeiter und Bauernstaat und kein mir bekannter Staat hat in seiner Flagge alle in der Bevölkerung existierenden Schichten so vereint wie die DDR. Der Hammer steht für die
Arbeiterklasse, der Zirkel für die Intelligenz inkl. der Kulturschaffenden, Wissenschaftler usw. Der Ehrenkranz welcher alle Schichten und Klassen vereint sind die Bauern bzw. gesamte
Landbevölkerung.
Oft wird in hetzerischer und diffarmierender Form, die DDR als Diktatur bezeichnet.
Die Diktatur (von lateinischdictatura) ist eine Herrschaftsform, die sich durch eine einzelne regierende Person, den Diktator, oder eine regierende Gruppe von Personen (z. B. Partei, Militärjunta, Familie) mit weitreichender bis unbeschränkter politischer Macht auszeichnet.
In ihrer klassischen Bedeutung wird die Diktatur als legitimes Verfassungsinstitut zum Schutz der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung verstanden. Heute wird der Begriff verbreitet pejorativ zur Beschreibung einer Gewaltherrschaft verwendet.
Die DDR ist eine Diktatur des Proletariats gewesen, eine ausbeutungsfreie Gesellschaft, wo die Arbeiterklasse durch ihre marxistisch-leninistische Partei, die SED geführt worden ist.
In der DDR herrschte ein Mehrparteiensystem die sich mit weiteren Massenorganisationen in der Nationalen Front gemeinsam zu den Wahlen stellten. Neben den Parteien der DDR wie z.B.
Viele fleißige Helfer hatten in ehrenamtlicher Arbeit im Vorfeld Kuchen gebacken und präsentierten zudem noch frisch belegte Brötchen für den kleinen Hunger der Gäste.
Noch waren kurz vor Einlass der Festveranstaltung die über 150 Plätze frei.
Mit einem Beamer wurden Bilder aus der DDR gezeigt, welche begleitet mit bekannter DDR-Musik auf die Veranstaltung einstimmten.
Mit einer kurzen Eröffnungsrede vom RotFuchs-Vorsitzenden Rostock, wurde die Festveranstaltung eröffnet.
Eröffnungsrede für den 5. Oktober 2019
Sehr geehrte Gäste, liebe RotFuchsmitglieder,
ich möchte Euch alle im Namen des Vorstandes der RotFuchs-Regionalgruppe Rostock, als
Vorsitzender, am Vorabend des 70. Jahrestages der Gründung der DDR auf das Herzlichste begrüßen.
Mein Name ist Carsten Hanke.
Ich freue mich, dass an unserer heutigen Veranstaltung 2 prominente Gäste
teilnehmen. Zum einen Egon Krenz, ehemaliger DDR Staatsratsvorsitzender und Hartmut König, einstiger stellvertretender Minister für Kultur der DDR.
Dr. Henning Schleif langjährige Oberbürgermeister unserer Hansestadt Rostock und
der ehemalige 1. Sekretär der SED Bezirksleitung Rostock Ulli Peck haben es sich nicht nehmen lassen ebenfalls an unserer Veranstaltung teilzunehmen.
Genauso freue ich mich, dass zahlreiche Mitglieder aus linksorientierten Parteien,
Organisationen wie zum Beispiel der DKP, Vertreter von ISOR, dem Rostocker Friedensbündnis,heute mit uns gemeinsam diese Veranstaltung begehen.
Wir wollen mit unserer heutigen Festveranstaltung, neben einem unter
historischen Gesichtspunkten geführten Rückblick auf die vor 70 Jahren gegründete DDR , eine realistische und objektive Betrachtung vornehmen, ohne den Anspruch der Vollständigkeit erheben zu wollen
und zu können.
Unser Anspruch ist es, bei unserem Rückblick auf die DDR, auf zu Bewahrendes aus den 40
Jahren ihrer Existenz hinzuweisen, wie unter einer selbstkritischen Betrachtung auch auf jene Erscheinungen aufmerksam zu machen, die dem Aufbau des Sozialismus in der DDR geschadet haben. Diese
selbstkritische Bewertung der DDR ist unerlässlich, wenn wir für die nachfolgenden Generationen glaubhaft und nachvollziehbar die Erkenntnis vermitteln wollen, dass der Sozialismus die einzige
gesellschaftliche Alternative ist, die die Existenz der Menschheit in einer friedlichen Zukunft garantiert, ein Leben ohne Hunger und Not bietet, soziale Gerechtigkeit unter allen Menschen
charakterisiert - kurzum, der Mensch im Mittelpunkt der Gesellschaft steht.
Wenn wir heute den Rückblick auf die DDR wagen, sollten wir stets in allen Bewertungen
berücksichtigen, dass uns aus heutiger Sicht viele Erkenntnisse über Zusammenhänge vorliegen und wir uns, gepaart mit reichlich Lebenserfahrung aus 30 Jahre erlebtem Kapitalismus, alle geformt und
verändert haben. Diese ganzen Erkenntnisse müssen im Zusammenhang der damaligen innerstaatlichen Entwicklung ebenso in der Bewertung ihre Berücksichtigung finden, wie die gesellschaftliche und
weltpolitische Lage insgesamt.
Wir sollten uns auch bewusst machen, dass der Aufbau einer völlig neuen Gesellschaft, wo
erstmals die Ausbeutung durch den Menschen abgeschafft worden ist, stets von den kapitalistischen Staaten mit allen Mitteln bekämpft wurde. In unseren Überlegungen sollten wir u.a. mit
berücksichtigen, wie lange der Kapitalismus in seiner Entwicklung brauchte, um in Europa vorherrschend zu sein und wie lange es die kommunistische Idee gibt. Der Weg zum Kapitalismus ist mit vielen
Kriegen gekennzeichnet. Kapitalismus ohne Krieg, ist kein Kapitalismus. Das gilt bis zum heutigen Tage. Ich will in diesem Zusammenhang nur an den Krieg gegen Jugoslawien und an Afghanistan
erinnern.
Nun haben Marx, Engels und Lenin uns in theoretischer wie in praktischer Form bewiesen,
dass die menschliche Gesellschaft Entwicklungsstufen durchläuft. Das ist ein Prozess, der durch Höhen und Tiefen und somit auch mit Siegen und Niederlagen gekennzeichnet ist.
Folgerichtig ist der europäische Sozialismusversuch als Niederlage 1989 zu bewerten. Es
liegt doch nun aber an uns, die sich links verstehen, diese für uns schmerzhafte Niederlage zu analysieren und gestärkt eine erneuten Versuch beim Aufbau einer friedlichen von Ausbeutung befreiten
Gesellschaft zu wagen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass jedem der hier Anwesenden mindestens eine Begebenheit aus
seinem Leben einfällt, wo nicht gleich beim Ersten Versuch etwas Neues zu schaffen, dieses so gelungen war, dass man mit dem Ergebnis zufrieden war, und ein erneuter Versuch gestartet
wurde.
Bei der Bewertung unserer Niederlage gilt es zu berücksichtigen, dass auf den Trümmern des
II.Weltkrieges quasi aus dem Nichts heraus ein gesellschaftlicher Neuanfang gewagt worden ist. Noch Die Menschen in der DDR, wie in den meisten Staaten der späteren sozialistischen
Staatengemeinschaft Europas, haben sich nicht durch eine Revolution selbst vom Faschismus befreit, (auch wenn viele daran beteiligt waren) sondern wurden durch die Heldentaten der UdSSR-Bürger
befreit. Das ist jene Tatsache, die uns von den Kubanern, Vietnamesen, Chinesen auch den Venezolanern unterscheidet.
Unter Berücksichtigung der aktuellen sehr angespannten innenpolitischen Situation in der
BRD mit der täglich wachsenden sozialen Ungerechtigkeit, dem zunehmenden Einfluss rechtsextremen Gedankengutes in gesellschaftlichen Prozessen, dem Abbau demokratischer Grundrechte - wie z.B. den
Ausbau der Überwachung, bis hin zur Militarisierung der Gesellschaft macht es zudem unter Beachtung der vielen territorialen noch weltweit begrenzten bewaffneten Konflikte und damit einhergehenden
Gefahr des Ausbruchs eines Weltkrieges für unabdingbar, die einzige friedliche gesellschaftliche Alternative, die des Sozialismus zu thematisieren, wo erst mit der Abschaffung des Profitstrebens auch
die Grundlage für ein ökologisches Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur geschaffen werden kann.
Bei aller notwendigen selbstkritischen Reflexion über die DDR, ist es notwendig, auf zu
Bewahrendes hinzuweisen und dieses ins Bewusstsein der nachfolgenden Generationen zu vermitteln.
Wir hoffen und wünschen Ihnen, liebe Anwesende, dass aus der heutigen Veranstaltung viele
Anregungen mitgenommen werden können, die neben eines persönlichen Nachdenkens auch dazu animieren, dass im Rahmen der persönlichen Möglichkeiten man sich an weiteren Aktivitäten beteiligt, neue
Aktionen entwickelt - einfach sich einbringt, um die gesellschaftliche Alternative des Sozialismus weiter zu vermitteln.
Danke für eure Aufmerksamkeit und nun lasst uns beginnen.
Dr.Hartmut König (Mitbegründer des Oktoberklubs der DDR und stellv. Minister der DDR für Kultur), sorgte für seine Gesangseinlagen und Gedichtvorträge für die kulturelle Umrahmung der
Festveranstaltung
Macht euch die Trauer nicht
bequem
Text und Musik: Hartmut König
Die Fahne, Freunde, ausgebleicht. Das Ziel der Klasse nicht erreicht.
Macht euch die Trauer nicht bequem...
in Ohnmacht, Hass und alledem.
Was uns aus
Trümmern auferstand: Der alte Traum von Volkes Land, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die brauchen Zeit. Trotz alledem.
Der Wind ist kalt. Die Lage heiß. Das wirft kein' Linken aus dem Gleis, der nicht den Marxschen Wink vergisst, dass unsre Welt zu ändern ist.
Nicht nur an Feindes Fäden hing, dass unser Land zu Scherben ging. Die Freiheit, die der Sache nützt, war schlecht beschützt. Trotz alledem.
Darum Genossen, rote Zunft! Vergangenheit wird durch Vernunft gesiebt in Fehler und Gewinn. Nehmen wir's hin. Trotz alledem.
Und lasst uns Linke einig sein, verschieben alle Streiterein, bis, was an unsrer Seele frisst, der braune Mob, zerschlagen ist.
Gebt keinen auf, der heute spürt, er wird von oben durchregiert, und seine Wut den Falschen leiht. Auch er kann lernen mit der Zeit.
Der Wind ist kalt. Die Lage heiß. Das wirft kein' Linken aus dem Gleis, der nicht den Marxschen Wink vergisst, dass unsre Welt zu ändern ist.
Den Krieg ins Gegenteil verkehrt! Die Völker, wieder aufgeklärt, die fordern ihre Rechte ein. So wird es sein. Trotz alledem.
Der Wind ist kalt. Die Lage heiß. Das wirft kein' Linken aus dem Gleis, der nicht den Marxschen Wink vergisst, dass unsre Welt zu ändern ist.
Unser Gastredner Egon Krenz (letzter Staatsratsvorsitzender der DDR a.D.) hielt eine sehr faktenreiche und emotional gehaltene Rede.
Nicht das DDR-Erbe,
sondern Nazis und Neonazis sind eine Gefahr für Deutschland
(Rede von Egon Krenz auf der RotFuchsveranstaltung am 5.10.2019 in Rostock und auf der Erinnerungsveranstaltung des DDR- Kabinetts Bochum zum 70. Jahrestag der DDR
am 12. Oktober 2019)
Liebe Freunde,
lieber Vertreter der Botschaft der Russischen Föderation,
über Ihre Teilnahme an dieser Veranstaltung freue ich mich besonders. Vierzig Jahre DDR wären ohne die Sowjetunion undenkbar gewesen. Übermitteln Sie bitte
Präsident Putin, dass die heute hier Versammelten und mit ihnen Millionen Ostdeutsche nie vergessen, dass 27 Millionen Sowjetbürger ihr Leben auch für unsere Freiheit und die Freiheit Europas vom
Faschismus gegeben haben.
Liebe Anwesende,
es gibt ein wunderbares Kinderlied, das wohl jeden DDR-Bürger begleitete. Von frühester Kindheit bis zum Lebensende. Erinnert sei an jene Augenblicke, als der gut
in der DDR integrierte Kanadier Perry Friedmann mit seinem Banjo auf der Bühne stand und leise anstimmte: „Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land“, und endete mit der Aufforderung: Kleine
weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück“.
Sie kam nicht mehr zurück, die Friedenstaube. Das Lied ward nur noch selten gesungen seit es die DDR nicht mehr gibt. Und sie mochte wohl auch nicht zurück kommen
in ein deutsches Land, das wieder Kriege führt, erst in Jugoslawien, dann in Afghanistan und in weiteren Kampfeinsätzen mit mehr als 100 gefallenen deutschen Soldaten.
In 40 DDR-Jahren hat nicht ein Soldat der Nationalen Volksarmee fremden Boden zu Kampfeinsätzen betreten. Undenkbar auch, dass ein Oberst der Nationalen Volksarmee
wie jener der Bundeswehr in Afghanistan einen Befehl hätte geben können, in dessen Folge allein in einer Nacht mehr als 150 Zivilisten getötet wurden und der dennoch zum General der Bundeswehr
befördert wurde.
„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“ Dieser Schwur von Buchenwald war das Fundament, auf dem die Deutsche Demokratische Republik am 7. Oktober 1949 gegründet
wurde.
Niemand kann die Wahrheit aus der Welt schaffen: Die DDR ist in der langen deutschen Geschichte der einzige Staat, der nie einen Krieg geführt hat. Allein das
rechtfertigt, sich ihrer mit größtem Respekt zu erinnern. Dazu haben wir uns hier und heute verabredet. Auch wenn Soldschreiber das verhindern wollten.
Wir - das sind sehr unterschiedliche Menschen, die sich ihr gelebtes Leben nicht von jenen erklären lassen möchten, die schon immer Schwierigkeiten mit der Wahrheit
hatten oder die hier nie zu Hause waren – wir erinnern uns nicht als Nostalgiker, auch nicht als „Osttalgiker“, einem Modewort, das nur benutzt wird, um unsere Erinnerung und Besinnung an Werte der
DDR zu denunzieren.
Wir sind auch keine Ignoranten, die nicht sehen wollen, dass auch seit 1990 viel geleistet wurde. Wir glorifizieren die DDR nicht. Nein, wir sind wache
Zeitgenossen, die Erfahrungen in zwei gesellschaftlichen Systemen haben und dadurch gut vergleichen können, was die DDR wirklich war und was ihr blinde Wut an Schlechtem andichtet.
Unter dem Strich war die DDR nach der Wiederbelebung kapitalistischer Verhältnisse in Westdeutschland und dem Aufstehen alter Nazis die einzig vernünftige
Alternative zu einem Deutschland, das für zwei Weltkriege und die grausame faschistische Diktatur verantwortlich war.
Zu ihrem Gründungsmotiv gehörte auch die deutsche Einheit. Es hätte die DDR nie gegeben, wenn nicht zuvor der Separatstaat Bundesrepublik geschaffen worden wäre.
„Dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land“, hatte sich Bert Brecht gewünscht. Und Bechers Text „Deutschland, einig Vaterland“ war der beste Gegenentwurf zu „Deutschland,
Deutschland über alles.“
Dass es damals nicht zu einem einheitlichen Deutschland kam, liegt nicht nur, aber wesentlich an der alten Bundesrepublik. Als ihr Grundgesetz vorbereitet wurde,
verkündete einer seiner Väter, „alles deutsche Gebiet außerhalb der Bundesrepublik ist als Irredenta“1, also als Gebiet unter Fremdherrschaft anzusehen, „deren Heimholung mit allen Mitteln zu
betreiben wäre." Und: Wer sich dem nicht unterwerfe, hieß es, sei „als Hochverräter zu behandeln und zu verfolgen"2.
Das Szenario also für den Umgang des westdeutschen Staates mit den Ostdeutschen stammt schon aus einer Zeit, als die DDR noch gar nicht existierte, als sie all die
Untaten, die man ihr heute zuschreibt, noch gar nicht vollbracht haben konnte. Die Geburtsurkunde des Hasses auf die DDR war und bleibt der Antikommunismus, den Thomas Mann schon im vergangenen
Jahrhundert eine Grundtorheit genannt hatte.
Es war Konrad Adenauer, der erklärte: „Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung,
sondern Befreiung. Das Wort Wiedervereinigung soll endlich verschwinden. Es hat schon zu viel Unheil gebracht. Befreiung ist die Parole.“3
Was hängte man der DDR nicht alles an? „Russenknechte“ waren wir, „Vollstrecker Stalins Willen in Deutschland“, auch „Zonenheinis“ nannte man uns. Für
Adenauer begann an Elbe und Werra Sibirien. Soviel Unsinn ließ sich dann nicht mehr aufrecht erhalten, als die UNO beide deutsche Staaten als gleichberechtigt anerkannte und 134 Länder mit der DDR
diplomatische Beziehungen aufnahmen.
Da kam es dann schon einmal vor, dass beispielsweise der Vize-Chef der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Rühe, schwärmte: Ein Gespräch mit Honecker sei
„angenehmer und konstruktiver als ein Gespräch mit der britischen Regierungschefin“.
Oder hochrangige bundesdeutsche Politiker aller Couleur ein Foto mit dem SED Generalsekretär als Hilfe für ihren Wahlkampf wünschten. Schließlich war es Helmut
Kohl, der Honecker einen „zuverlässigen Partner“ nannte und sein Nachfolger Gerhard Schröder sich vom DDR-Staatsratsvorsitzenden regelrecht beeindruckt zeigte. In dieser Zeit schloss man dann auch
völkerrechtlich bindende Verträge und empfing 1987 gar das DDR Staatsoberhaupt zu einem offiziellen Besuch mit allen diplomatischen Ehren.
Doch dann1990: Man kehrte zurück zum irren Geschichtsbild der fünfziger Jahre, das nun immer noch gilt und die politische Atmosphäre vergiftet.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung wiederholte in seinem Regierungsbericht eigentlich nur, was seit 29 Jahren Standard ist:
An allem, was in der Bundesrepublik nicht funktioniert, ist die „marode“ DDR Schuld, die angeblich nur Verbrechen und Schulden in die Einheit mitgebracht
hätte.
Dieser Mann war 1989 gerade einmal 13 Jahre alt. Dennoch erinnert er sich noch ganz genau daran, dass die Ostdeutschen das Pech gehabt hätten, „40 Jahre auf der
falschen Seite der Geschichte gestanden“ zu haben. Dieses Nachplappern geistloser Stereotype aus den Jahren des kalten Krieges stimmt nun aber keinesfalls mit den praktischen Erfahrungen sehr, sehr
vieler Bürger aus der DDR überein. Wenn inzwischen nur 38 Prozent der Ostdeutschen die Vereinigung für gelungen halten und 57 Prozent sich gar als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen, müssten sich doch
die Regierenden endlich mal fragen, wo dafür die Ursachen liegen.
Als Gregor Gysi noch DDR-Bürger war, hat er in jener schicksalhaften Nacht als in der damaligen Volkskammer der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik deklariert
wurde, den Abgeordneten zugerufen: « Ich bedauere, dass die Beschlussfassung im Hauruckverfahren … geschehen ist und keine würdige Form ohne Wahlkampftaktik gefunden hat; denn die DDR … war für
jeden von uns – mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen – das bisherige Leben. So wie wir alle geworden sind, sind wie hier geworden, und ich bedauere, dass der Einigungsprozess zum Anschluss
degradiert ist.»
Dieser grundlegende Mangel macht sich bis heute bemerkbar.
Respekt will Angela Merkel laut ihrer Rede zum Einheitsjubiläum jenen entgegenbringen, die «Opfer des SED – Regimes» waren und die gegen das Regime gekämpft hätten.
Soweit so gut, wenn es sich um tatsächliche und nicht vermeintliche Opfer handelt. Das bedeutet aber in der Praxis eine weitere Ausgrenzung von Millionen Bürgern, denen die DDR Herzenssache war
und die sich für ihren Staat ein Leben lang engagierten.
Frau Merkel ist offensichtlich entgangen: DDR-Bürger hatten nicht nur die Trümmer des Zweiten Weltkrieges beseitigt, Städte und Dörfer wieder bewohnbar gemacht,
wertvolle kulturhistorische Bauten wieder errichtet, sondern auch zahlreiche neue Betriebe, Straßen, Stadtteile und Städte mit modernen Wohnungen, Schulen, Kinderkrippen und Kindergärten,
Ambulatorien, Krankenhäusern Sport- und Kulturstätten geschaffen. Es gab 1945 nichts, aber auch gar nichts, was die DDR hätte runter wirtschaften können
Es ist doch ein großer Irrtum, anzunehmen, die DDR sei vierzig Jahre gegen das Volk regiert worden. Es gab Jahre großer Zustimmung - wie beispielsweise beim
Volksentscheid 1968 über die DDR-Verfassung, die nach gründlicher Volksausprache von 94,5 % der Bevölkerung bestätigt wurde. Eine durch Volksentscheid angenommene Verfassung wurde 1990
gesetzwidrig ohne Volksentscheid aufgehoben.
Die Wahrheit ist doch: Es haben sich nicht zwei Staaten vereinigt, sondern der eine hat den anderen übernommen und bestimmt die Regeln. DDR-Bürger wurden nie
befragt, ob sie das auch wollten. So etwas hat Langzeitfolgen. Was ich da im Zusammenhang mit dem 9. Oktober 1989 in den letzten Tagen in den Medien gelesen, gehört oder gesehen habe, zeigt: Je
weiter wir uns zeitlich vom Ende der DDR entfernen, um so märchenhafter, wirklichkeitsfremder und boshafter werden die offiziellen Ausfälle gegen sie. Geht es nach den Meinungsführern des
Politikgeschäfts, dann sind die früheren DDR- Bürger nur noch ein Millionenhäuflein gegängelter Kreaturen, eingesperrt hinter einer Mauer mit einer schrottreifen Wirtschaft, umgeben von Mief und Muff
und „Spitzeln“ der Staatssicherheit.
Heiner Müller, bestimmt kein unkritischer DDR-Bürger, hat dies sehr frühzeitig mit seinem Urteil entlarvt: „Der historische Blick auf die DDR“, schreibt er, „
ist von einer moralischen Sichtblende verstellt, die gebraucht wird, um Lücken der eigenen moralischen Totalität zu schließen.“4
Die Kraft, das Geld und die Ressourcen, die man einsetzt, um die DDR zu denunzieren – eine ganze „Aufarbeitungsindustrie“ ist damit beschäftigt – wären sinnvoller
angelegt für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass. Nazis, Neonazis und die Brunnenvergifter in der AfD sind eine Gefahr für Deutschland – nicht das
Erbe der DDR. Antisemitismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.
In der DDR -Verfassung heißt es dazu im Artikel 6: „Militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen-
und Völkerhass werden als Verbrechen geahndet“.5
Es gibt sehr viele Gründe für Enttäuschungen bei nicht wenigen Ostdeutschen. Einer davon ist: So - wie die DDR heute darstellt wird - so war sie einfach nicht. Für
eine große Mehrheit der DDR-Bürger war ihr Staat kein „Unrechtsstaat“. Die aufgewärmte Debatte darüber ist weiter nichts als eine Ablenkung von den Gebrechen der heutigen Gesellschaft. Wer über
DDR-Unrecht spricht, braucht sich nicht zu rechtfertigen, warum die Regierenden heute mit den vielen ernsthaften Problem nicht fertig werden, der kann ablenken von Niedriglöhnen, drohender Alters-
und Kindesarmut, auch davon, wie rücksichtslos mit DDR-Biografien umgegangen wird.
Beim Werden und Wachsen der DDR gab es Siege und Niederlagen, Freude und Enttäuschung - leider auch Opfer. So sehr ich diese bedauere, bleibt doch wahr: Die
Geschichte der DDR ist keine Kette von Fehlern oder gar Verbrechen. Sie ist vielmehr die Geschichte eines
• Ausbruchs aus dem ewigen deutschen Kreislauf von Krieg und Krisen, eines
• Aufbruchs für eine tatsächliche Alternative zum Kapitalismus, einer
• Absage an Faschismus und Rassenhass, Antisemitismus und Russenphobie.
Und weil sehr viele DDR-Bürger dem verbunden waren, ist die Degradierung der DDR zu einem „Unrechtsstaat“ in vielerlei Hinsicht auch eine Beleidigung derer, die
sich zur DDR bekannten. Die DDR wollte nie sein wie die alte Bundesrepublik. Es ist daher auch dumm, sie nach den Maßstäben der Bundesrepublik zu bewerten.
Vor zehn Jahren hielt Bundespräsident Köhler auf einer Veranstaltung zum 9. Oktober 1989 die Rede, in der er unter anderem ausführte:
«… Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in
der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt».
Wie gruselig, wie furchteinflößend und welch ein Zeichen von Unmenschlichkeit der DDR!
Die Sache hat nur den Haken: So etwas hat es nie gegeben.
Fritz Streletz, der langjährige Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, und ich haben den Bundespräsidenten in Vorbereitung seiner Rede zum 30.
Jahrestag der Leipziger Ereignisse in einem Brief gebeten, diese Unwahrheit richtig zu stellen. Aus eigenem Wissen und auf der Grundlage von geltenden Beschlüssen und Befehlen teilten wir mit: «In
oder vor der Stadt gab es keine Panzer, auch existierte zu keiner Zeit ein Befehl zum Schießen. Weder wurden Herzchirurgen zur Behandlung von Schusswaffen eingewiesen noch Leichensäcke
bereitgelegt.»
Leider nutzte der Bundespräsident die Gelegenheit nicht, die immer noch verbreitete Lüge aus der Welt zu schaffen. An einer Stelle seiner Rede sagte er, die
Geschichte wäre anders verlaufen, hätte nicht Gorbatschow die SED - Führung zur Zurückhaltung gemahnt. Es wäre gut gewesen, der Herr Bundespräsident hätte die Quelle für diese Behauptung benannt. Aus
eigenem Wissen kann ich nämlich sagen: Eine solche Mahnung hat es nie gegeben. Sie war auch nicht notwendig. Selbst Gorbatschow schreibt in seinen «Erinnerungen», dass die DDR-Führung «über
hinreichend Vernunft und Mut verfügte, um keinen Versuch zu unternehmen, die Unzufriedenheit der Bevölkerung in Blut zu ersticken.»6
Eine Mahnung Gorbatschows gab es am 10. November 1989. Sie war nicht an die DDR, sondern an Bundeskanzler Kohl gerichtet, alle nationalistischen Töne zu
unterlassen, «Erklärungen aus der BRD, die vor diesem politischen und psychologischen Hintergrund abgegeben werden, die unter Losungen der Unversöhnlichkeit gegenüber der realen Existenz
zweiter deutscher Staaten Emotionen und Leidenschaften anheizen sollen, können kein anderes Ziel verfolgen, als die Lage in der DDR zu destabilisieren und die sich dort entwickelnden Prozesse der
Demokratisierung und Erneuerung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu untergraben“7.
Es ist irre, die DDR nur von ihrem Ende her zu beurteilen. Es ist zudem eine Geschichtsfälschung, so zu tun, als wären die Leute im Herbst 89 schon für die Einheit
Deutschlands auf die Straße gegangen.
Im Aufruf der Leipziger Sechs unter Leitung von Generalmusikdirektor Masur, der interessanter Weise kaum noch erwähnt wird, lautet der Kernsatz: „Wir alle brauchen
freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land“.8
Einer, der kürzlich für seinen Beitrag zur deutschen Einheit vom Bundespräsidenten ausgezeichnet wurde, Pfarrer Eppelmann, schrieb mir noch am 24. Oktober 1989 in
einem persönlichen Brief, den auch Pfarrer Schorlemmer unterzeichnet hatte – Zitat - : „Uns geht es um die Entwicklung von Demokratie und Sozialismus in unserem Land.“9.
Ja, es gab natürlich auch die anderen, die sich nicht wohlfühlten in der DDR, die leider weg gingen oder sich selbst aus der Gesellschaft ausschlossen. Oder jene,
die angeblich schon immer wussten, dass es nichts werden könne mit dem Sozialismus auf deutschem Boden. Oder auch jene, die damals besonders laut „Hurra“ riefen und nun mit Übereifer die
vermeintlichen Vorzüge der neue Macht beschreiben.
Ihnen und vor allen den Medien, auch dem Bundespräsidenten, müsste bei etwas mehr Realismus doch klar sein: Sie können nicht für alle Ostdeutschen sprechen. Wer
sich für die DDR engagierte, tat dies doch in der Überzeugung, dem Guten in Deutschland zu dienen, hat seinem Staat viel von seiner Lebenskraft gegeben und hat ein Recht, dafür auch in der
Bundesrepublik respektiert zu werden.
Wir haben 1989 eine Niederlage erlitten, eine bittere, die schmerzt – das ist wohl wahr. Aber wir sind nicht aus der Geschichte ausgestiegen. So wie sie
heute ist, diese Welt, wird sie nicht bleiben. Der Kapitalismus wird nicht das letzte Wort der Geschichte sein.
Und dann werden wir sehen, wer am Ende auf der richtigen Seite steht. Wir werden es wahrscheinlich nicht mehr erleben, aber spätesten seit Thomas Münzer gilt: Die
Enkel fechten‘s besser aus. Diesen historischen Optimismus möchte ich mir gerne erhalten. Auch deshalb, weil es da noch weit im Osten ein Land gibt, das gerade den 70. Jahrestag seiner Volksrepublik
gefeiert hat.
Unabhängig davon ist es aktueller denn je, endlich die Lebensleistungen der DDR-Bürger anzuerkennen, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu zahlen, gleiche Renten für
gleiche Lebensleistungen zu geben, die Strafrenten abzuschaffen und für alle Kinder und Jugendlichen Chancengleichheit zu schaffen. Der Artikel Eins des Grundgesetzes – die Würde des Menschen
ist unantastbar – muss für alle Deutschen gelten, auch für diejenigen, die für die DDR arbeiteten, einschließlich der Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. Ohne dies wird es noch Jahrzehnte dauern, bis
die deutsche Einheit vollendet wird.
Wir sind nicht die ewig Gestrigen, für die man uns hält. Wir sind eher die ewig Morgigen. Wir möchten, dass unsere Kinder, Enkel und Urenkel auf einem gesunden
Planeten eine friedliche Zukunft haben. Deshalb gehen wir mit dem DDR - Erbe durchaus selbstkritisch um, aber vor allem selbstbewusst und nicht mit gebeugtem Rücken.
Gerade deswegen fragen wir uns auch, was die DDR geschichtlich auf deutschem Boden einmalig macht.
Als in den Nachkriegsjahren im Westen wieder alte Nazis Lehrer, Juristen oder Beamte sein durften, fand im Osten eine antifaschistisch - demokratische Umwälzung
statt, die 1949 die DDR zum antifaschistischen deutschen Staat werden ließ.
In Vorbereitung darauf wurden 7136 Großgrundbesitzer und 4142 Nazi- und Kriegsverbrecher entschädigungslos enteignet.
520 000 ehemalige Nazis wurden aus öffentlichen Ämtern entfernt.
Am 30. Juni 1946 stimmten mehr als 72,00 % der Bürger Sachsens in einem Volksentscheid für die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher ab.10
• In Ostdeutschland kam Junkerland tatsächlich in Bauernhand;
• Kein Nazi durfte Lehrer sein.
• In Schnellverfahren wurden 43 000 Frauen und Männer zu Neulehrern ausgebildet, die zwar manchmal – wie es damals hieß - nicht genau wussten, ob
man Blume mit oder ohne „h“ schreibt - dafür aber Mut hatten, dem Ruf eines FDJ - Liedes zu folgen:
„Um uns selber müssen wir uns selber kümmern,
und heraus gegen uns, wer sich traut“.
• Nazis durften kein Recht sprechen, Volksrichter wurden gewählt,
• Fakultäten entstanden, die dafür sorgten, dass Arbeiter und Bauern auf die Hochschulen kamen. Schon 1952 waren über die Hälfte der Studenten
Kinder von Arbeitern und Bauern. So etwas hatte es in Deutschland zuvor nie gegeben und es gibt es lauch nach dem Ende der DDR nicht mehr.
Das Kriminelle an diesem Fakt ist:
40 Jahre nach Gründung der Arbeiter- und Bauernfakultäten wurden viele ihrer Absolventen, die inzwischen in der DDR hervorragende Wissenschaftler, Ingenieure,
Mediziner, Juristen, Lehrer und anderes geworden waren, nicht selten gegen zweit- und drittklassige aus dem Westen ausgetauscht. Wer kritisiert, dass heutzutage so wenig Ostdeutsche in Ostdeutschland
etwas zu sagen haben, der darf nicht vergessen, was 1990 mit der ostdeutschen Elite gemacht wurde. Allerdings ein Begriff, den wir in der DDR kaum gebrauchten, weil wir die Gesellschaft nicht in
Elite und gemeines Volk einteilten.
Es ist zu billig zu sagen, die Ostdeutschen hätten den Elitenaustausch gewollt. Ja, manche, die meinten, sie seien zu kurz gekommen, schon. Ich erinnere mich aber
an ein Urteil eines nicht unbekannten westdeutschen Wissenschaftlers. Die DDR habe »fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt«, schrieb ein Arnulf
Baring 1991.
Und weiter:
»Ob sich heute dort einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig
egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken unbrauchbar […] Wir
können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden
vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts
nutzen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden
Fachkenntnisse nicht weiterverwendbar. Sie haben einfach
nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen
können,«
Meines Wissens hat niemand aus der Bundesregierung solcher Dummheit widersprochen. Wie auch dem Slogan nicht „Leben wie bei Kohl und arbeiten wie bei
Honecker“, was die Ostdeutschen quasi zu Schmarotzern erklärte oder dem Urteil, Ursache für rechtes Gedankengut im Osten sei das „Zwangstopfen“ in den Kinderkrippen der DDR. Nicht vergessen auch
die Kampagne gegen die Roten Socken, in dessen Folge nicht wenige DDR – Bürger durch Selbstmord aus dem Leben schieden. Obwohl dies nicht wenige waren, gibt es darüber in der Bundesrepublik nicht
einmal eine Statistik.
Man kann sich bei diesen Verleumdungen nicht darauf zurückziehen, dass es sich um freie private Meinungsäußerungen handle. Was hatte doch Justizminister Kinkel am
23. September 1991 auf dem 15. Deutschen Richtertag in Köln gesagt?
Ich zitiere: »Sie, meine Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte … eine ganz besondere Aufgabe ...: mit dem fertigzuwerden, was uns das vierzigjährige
Unrechtsregime in der früheren DDR hinterlassen hat. ... Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung,
angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat …»11
Was bedeutete das?
Die Deindustrialisierung der DDR ging einher mit tiefen Kränkungen von DDR-Bürgern. Solche Kränkungen lassen sich schwer aus dem Gedächtnis streichen, auch an
der Wahlurne nicht.
Herr Gauck, der oft von sich nur in der dritten Person spricht, rühmte die Auswechselung der Eliten gar mit den Worten: »Wir konnten nicht zulassen, dass die
sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und Gesellschaft blieben«.
Dies war eine empörende Gleichsetzung von Tausenden entlassenen Lehrern und Wissenschaftlern, Juristen und Angestellten der DDR mit dem Mitautor des Kommentars zu
den Nürnberger Rassegesetzen. Schlimm genug, dass dieser Mann in der Bundesrepublik zum wichtigsten Politiker hinter Konrad Adenauer aufstieg. Wie weit aber muss jemand von geschichtlicher Wahrheit
und Anständigkeit entfernt sein, der Globke heranzieht, um zu begründen, warum 1990 die Eliten der DDR ausgetauscht wurden?
Nach vorliegenden Untersuchungen wechselten die Nazis 1933 elf Prozent der Eliten des Deutschen Reiches aus. In Westdeutschland wurden 1945 lediglich dreizehn
Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten ins berufliche und damit nicht selten auch ins soziale
Aus
Als Herr Gauck zum Bundespräsidenten gewählt wurde, bekannte er schon im zweiten Satz seiner Rede: „Wir …, die nach 56-jähriger Herrschaft von Diktatoren endlich
Bürger sein durften. ... “
Gauck wirft 12 Jahre Hitler – Barbarei, 4 Jahre sowjetisch besetzte Zone und 40 DDR-Jahre in einen Topf. Faktisch werden die Ostdeutschen zu Menschen erniedrigt,
die 1945 nur von braun zu rot gewechselt sind und kritiklos Diktatoren folgten. Dabei wird jede antifaschistische Gesinnung außer Acht gelassen.
Jedes Gleichheitszeichen zwischen dem Nazireich und der DDR verbietet sich schon angesichts von Auschwitz von selbst, angesichts des Blutzolls, den unter allen
Parteien Kommunisten und Sozialdemokraten am höchsten entrichtet haben, angesichts von mehr als 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges.
Man bezeichnet hierzulande den deutschen Faschismus ja bis heute irreführend und verharmlosend als Nationalsozialismus. Dabei sollte inzwischen jeder einigermaßen
gebildete Mensch wissen, dass der weder national noch sozialistisch war, sondern einmalig verbrecherisch und kapitalistisch.
Die schrittweise und durchaus widersprüchliche Überwindung der Naziideologie war eine der größten Leistungen der DDR, die wir uns von niemandem kleinreden lassen
sollten.
Die DDR war die deutsche Heimstatt des Antifaschismus. Ein Globke, ein Filbinger, ein Oberländer oder auch ein Kissinger hätten in der DDR nie eine Chance auf
ein Amt gehabt.
Ich habe mir oft die Frage gestellt:
Warum eigentlich gingen Geistesschaffende und Künstler wie Bert Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig, Johannes R. Becher, Stefan Hermlin, Friedrich Wolf, Max
Lingner, Lea Grundig, Theo Balden, Wieland Herzfelde, Helene Weigel, Hanns Eisler, Bodo Uhse, Erich Weinert, Ernst Busch, Ludwig Renn, Wolfgang Langhoff, Eduard von Winterstein, Hedda Zinner, Gustav
von Wangenheim und viele andere nicht nach Westdeutschland, sondern kamen in die Ostzone bzw. später in die DDR?
Haben sie sich nicht gerade deshalb für die DDR entschieden, weil sie hier die Möglichkeit sahen, Krieg und Faschismus endgültig aus dem Leben der Menschen zu
verbannen?
Brecht hat sich dazu unmissverständlich ausgedrückt: „Ich habe keine Meinung, weil ich hier bin“, sagte er, „sondern ich bin hier, weil ich eine Meinung
habe.“
Einzigartig an der DDR war auch:
Ein Drittel Deutschlands war über 40 Jahre dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen. Das ist aus der Sicht unserer politischen Gegner die eigentliche Sünde
der DDR, die niemals vergeben wird.
Nie mehr Bereicherung des einen durch die Arbeit des anderen - das war Verfassungsgrundsatz in der DDR. Niemandem war erlaubt, sich an der Arbeit des anderen zu
bereichern. Der Mensch war nicht mehr des Menschen Wolf. Er war kein Marktfaktor, den man wie eine Schachfigur hin und her schieben konnte. Nicht der Ellenbogen regierte, nicht der Egoismus, nicht
das Geld, sondern schrittweise, wenn auch durchaus widerspruchsvoll, das menschliche Miteinander.
Vor einigen Tagen saß ich in einem Caffè, ein Mann vom Nebentisch reichte mir eine Serviette, die an meinem Tisch fehlte. Ich sagte: „O, das ist aber aufmerksam“.
„Ja“, antwortete mein Gegenüber, „die Aufmerksamkeit füreinander, das Miteinander, das wir zu DDR – Zeiten kannten, ist verloren gegangen. Das Menschliche ist weg, seit es die DDR nicht mehr
gibt“.
Das hat mich stark aufgewühlt - wie auch ein Brief, den mir ein 56 - jähriger Mann schrieb, der 1990 eine Firma gegründet hatte und mir nun auf zwei Briefseiten
beschrieb, wie gut es ihm geht in der neuen Bundesrepublik. „Es scheint alles Besten“, endete er sein Schreiben, „und doch bleibt tief im Herzen immer noch der Wunsch nach einer gerechten,
friedlichen und vernünftigen Welt.“
Seit 1990 heißt es: „Aufbau Ost“. Sicher, es gab manches, was in der DDR im Argen lag. Wir investierten zu wenig im produktiven Bereich, manche Stadtzentren waren
aus Mangel an Baumaterial und haltbarer Farbe ziemlich unansehnlich. Unsere Wünsche waren immer größer als unsere materiellen Möglichkeiten.
Die Ideale und die Realitäten klafften nicht selten auseinander. Die Bundesrepublik setzte ihre Ostbrüder und Ostschwestern Jahr für Jahr neu auf die Embargoliste,
die uns vom wissenschaftlich - technischen Fortschritt in der kapitalistischen Welt ausschließen sollte. Unsere Startbedingungen waren alles andere als gut. Ganz Deutschland hatte den Krieg
verloren. Die Ostdeutschen und später die DDR mussten allein dafür zahlen. Die DDR-Reparationsleistungen waren 25-mal höher als die der alten Bundesrepublik. Umgerechnet zahlte jeder DDR-Bürger
16 124 DM für Reparationen, jeder Bundesbürger dagegen gerade mal 126 DM. Die BRD bekam den Marschallplan - die DDR zahlte für den Krieg. Das war eine ungleiche Arbeitsteilung. Manchmal denke ich
heute: Dass wir es trotzdem 40 Jahre durchgehalten haben, das ist das eigentliche Wunder.
Doch:
Die DDR war 1949 zwar auferstanden aus Ruinen, aber sie war 1990 keine Ruine, kein Pleitestaat mit maroder Wirtschaft. Bis zuletzt wurde jede Rechnung auf Heller
und Pfennig bezahlt, auch, wenn die sich unwissend Stellenden und die Verleumder der DDR das immer wieder bestreiten.
Wie eine geheiligte Schrift behandeln sie permanent das vergilbte sogenannte „Schürer-Papier“, obwohl sie genau wissen, dass Gerhard Schürer und seine Mitautoren
noch im November 1989 öffentlich die falschen Zahlen und ihre Irrtümer korrigiert hatten.
Es ist schwer zu verstehen, dass sie ihrem eigenen Geldinstitut, der Deutschen Bundesbank, misstrauen. Es gibt einen Bericht von ihr unter dem Titel – Zitat - „Die
Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989.“ Darin heißt es, dass Ende 1989, „die Nettoverschuldung der DDR betrug 19,9 Milliarden Valutamark« also umgerechnet in Euro nicht einmal zehn
Milliarden. Von 10 Milliarden Euro geht kein Staat bankrott.
Indem man behauptet, die DDR sei bankrott gewesen, kann man verdecken, dass sich der wirkliche Kollaps der DDR-Industrie erst nach dem Anschluss der DDR an die BRD
ereignete: Nach dem 1. Weltkrieg wurde gegenüber dem Vorkriegstand von 1913 noch 57% produziert. Nach dem 2. Weltkrieg 1946 im Verhältnis zum Vorkriegstand von 1938 immerhin noch 42%, 1992 auf dem
Höhepunkt der Privatisierung des Volkseigentums gegenüber dem vorletzten Jahr der DDR nur noch 31 Prozent.
Das wirkliche Problem war 1990 nicht eine vermeintlich marode Wirtschaft der DDR. Wir hatten sicher auch Marodes, aber wir hatten auch viel Modernes. Wir hatten
auch Kombinate, die Weltniveau produzierten. Wer Letztes bestreitet, behauptet damit ja auch, dass uns bundesdeutsche Konzerne nur Schrott geliefert hätten, denn 40 % unserer Industrieanlagenimporte
kamen aus der alten Bundesrepublik.
Der Kern des Problems 1990 war ein ganz anderer:
Alles in der Wirtschaft gab es nun zweimal in Deutschland.
Einmal musste sterben. Nicht nur, was eventuell marode war, sondern auch das Moderne. Das Sterben hat die Treuhand organisiert, aber nicht auf eigenen Antrieb. Es
war politisch gewollt. Das Volkseigentum der DDR wurde verscherbelt. 85% davon erhielten Eigentümer aus dem Westen, 10% ging ins Ausland und knappe 5 % blieben im Osten.
Die Bundesrepublik übernahm von der DDR etwa 8.000 Betriebe, 20 Milliarden Quadratmeter Agrarflache, 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien, Forsten, Seen, 40.000
Geschäfte und Gaststatten, 615 Polikliniken, 340 Betriebsambulatorien, 5.500 Gemeindeschwesternstationen, Hotels, Ferienheime, das beträchtliche Auslandsvermögen der DDR, Patente, Kulturguter,
geistiges
Eigentum und manches mehr.12 Zum Beispiel den Berliner Fernsehturm, der nur deshalb nicht abgerissen wurde, weil das bautechnisch nicht ging, aber inzwischen
das Wahrzeichen Berlins ist
Und wo feiert die bundesdeutsche Elite heute ihre vermeintlichen Siege? Im Schauspielhaus Berlin, in der Semperoper Dresden und im Gewandhaus Leipzig – alles vom
«maroden DDR – Staat» bezahlt.
Die DDR hinterließ der Bundesrepublik keine Erblast in Höhe von 400 Milliarden DM – wie behauptet wird, sondern ein Volksvermögen von 1,74 Billionen Mark an
Grundmitteln und 1,25 Billionen Mark im produktiven Bereich - ohne den Wert des Bodens und den
Besitz von Immobilien im Ausland gerechnet. Angesichts dieser Fakten mutet es wie ein schlechter Witz an, die Treuhand und ihre Anleiter in der Bundesregierung von
der Schuld für die Deindustrialisierung der DDR freizusprechen.
In den Berichten zum diesjährigen Tag der deutschen Einheit wird davon gesprochen, dass es gut sei – Zitat - „..., dass wir uns mit unserer jüngsten deutschen
Geschichte auseinandersetzen“
Das ist jedoch nicht wahr. Allgegenwärtig ist nur die DDR- Geschichte. Es wird aber höchste Zeit, sich im Kontext damit auch kritisch mit der Entstehung und
Existenz der alten Bundesrepublik und ihrer Schuld an der deutschen Spaltung auseinanderzusetzen.
Die Jahre zwischen 1949 und 1990 waren doch nicht nur das „Wirtschaftswunder“ und das „Wunder von Bern“, nicht nur die DM und das eigene Auto, nicht nur
die Italienreise und all die anderen Erfolgsgeschichten, die uns dieser Tage wieder aufgetischt werden.
Verdeckt wird, dass beispielsweise die separate Währungsreform 1948 das eigentliche Datum der deutschen Spaltung ist, wodurch die spätere DDR aus dem
internationalen Wirtschaftsverkehr praktisch ausgeschlossen wurde.
Es gab doch in der alten Bundesrepublik nicht nur gewaltige Streiks, über die man heute kaum noch spricht, sondern auch tiefe gesellschaftliche Konflikte. Die KPD,
die FDJ und andere fortschrittliche Organisationen wurden verboten, ihre Mitglieder gejagt, verurteilt und inhaftiert.
Am 11. Mai 1952 wurde das FDJ – Mitglied Philipp Müller auf einer Friedenskundgebung in Essen und am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg in Westberlin von der
Polizei erschossen. Wie ein roter Faden zieht sich doch die Verfolgung Andersdenkender durch die ersten Jahre der Bundesrepublik. Notstandsgesetze wurden beschlossen und ein
„Radikalenerlass“.
Wenn es also darum geht, auf welcher Seite der Geschichte jemand gestanden hat, habe ich als DDR-Bürger durchaus viele Fragen an die alte Bundesrepublik:
• Unterstützte sie nicht die schmutzigen Kriege, die Frankreich gegen Algerien und die USA in Indochina führten, die Vietnam in die „Steinzeit
zurück bomben“ wollten?
• Machte sie nicht immer gute Geschäfte mit dem Apartheid –Regime in Südafrika, das Nelson Mandela verbannt hatte?
• Standen sie nicht immer an der Seite jener, die das Abenteuer in der Schweinebucht gegen das freiheitsliebende kubanische Volk oder auf Grenada
unterstützten?
• Stand sie nicht immer an vorderster Stelle bei Waffenexporten in Krisenregionen?
• Hatte sie nicht exzellente Beziehungen zu den faschistischen Regimes in Spanien und Portugal?
• Gab es nicht ein heimliches Einverständnis mit den Putschisten in Griechenland 1967 und in Chile 1973?
Die DDR und die BRD standen über 40 Jahre in einem Bürgerkrieg, in einem kalten zwar, immer am Rande einer atomaren Katstrophe.
Als ich im Frühjahr 1990 noch unter dem frischen Eindruck der Herbstereignisse89 stand, habe ich mir viele Fragen gestellt:
• Werden nun etwa neue Mauern errichtet?
• Mauern gegenüber linken Andersdenkenden?
• Mauern gegenüber jenen Werten, die aus der DDR in den Prozess der deutschen Vereinigung eingebracht werden könnten?
• Mauern zwischen den Deutschen und ihren Nachbarvölkern, dessen Sicherheitsbedürfnisse zu respektieren sind?
• Mauern zwischen Deutschland und dem sozialistischen Kuba, das von den sozialistischen Ländern Europas allein gelassen wurde und sich seither
mutig wehrt?
• Mauern zwischen der NATO und der damals noch existierenden Sowjetunion?
Wenn ich mir diese Fragen nun fast dreißig Jahren später wieder beantworte, komme ich zu keiner anderen Erkenntnis als jener, dass die neuen Mauern dazu geführt
haben, das die Welt von heute so durcheinander geraten ist wie sie jetzt ist. Die Welt von heute ist ohne Sowjetunion und ohne die DDR weder gerechter noch friedlicher geworden.
Heute geht es um alles – um Sein oder Nichtsein, Krieg oder Frieden. Dass man in dieser Zeit immer noch das Feindbild DDR braucht, zeigt, dass die herrschenden
Politiker keine wirkliche Vorstellung von der deutschen Einheit haben.
Man kann die deutsche Einheit vielleicht herbeimoralisieren, indem man die Realitäten nicht zur Kenntnis nimmt.
Man kann sie – wie sich zeigt – schlecht herbeifinanzieren, weil es außer Geld auch noch andere Werte gibt.
Herbeikriminalisieren, indem man die DDR als Irrweg denunziert, kann man die Einheit auf keinen Fall. Mehr Respekt für alle früheren DDR-Bürger wird nicht
gelingen, solange man den Staat, auf dessen Boden diese Leistungen möglich wurden, verteufelt.
Die Mauer in Berlin ist weg. Sie wurde nach Osten verschoben, besteht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der NATO und
Russland.
Sie ist folglich dort, wo sie im Prinzip an jenem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Am Vorabend des diesjährigen Tages der Einheit kam
eine neue, eine sehr beunruhigende Meldung: „Die Nato plant für 2020 ein Manöver mit über 20.000 Soldaten. … geprobt werden soll dabei eine schnelle Verlegung von Truppen nach Polen und ins Baltikum.
Das heißt wieder, ran an Russlands Grenzen. Dass Deutschland dabei eine zentrale Rolle einnehmen soll, ist für mich eine geschichtsvergessene Schande.
Das ist nun wahrlich nicht die Wende, die 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde. Dreißig Jahre nach der Öffnung der Grenzübergänge in Berlin sollte es
heißen: Ohne Russland kann es keine europäische Friedensordnung geben. Aus der deutschen Politik muss die Russophobie verbannt werden. Deutsche Politiker müssen gegenüber Russland einen anderen Ton
anschlagen, der Freundschaft und Zusammenarbeit, nicht aber „Sanktionen“ und „Bestrafungen“ fördert.
Wie Euch wahrscheinlich aufgefallen ist, spreche ich nicht vom Scheitern des Sozialismus, sondern von einer bitteren Niederlage.
Ist das nur eine formale Frage? Für mich nicht. Scheitern hat etwas Endgültiges an sich, Niederlage ist eher etwas Zeitweiliges. Wenn der Sozialismus gescheitet
wäre, könnte das ja auch bedeuten, dass er auch in Zukunft keine Chance mehr hätte und der Kapitalismus doch das Ende der Geschichte wäre. China beweist schon heute das Gegenteil.
Der erste Anlauf für eine ausbeutungsfreie Gesellschaft, die Pariser Kommune, überdauerte 72 Tage, der zweite Anlauf, die Oktoberrevolution, hielt 72 Jahre und die
DDR 40 Jahre. Der dritte Anlauf wird auch in Europa kommen. Wann und wie – das weiß heute niemand. Die Erfahrungen der DDR – die positiven wie negativen – werden dabei auf jeden Fall von Bedeutung
sein.
Und deshalb sage ich: Wehren wir uns auch weiterhin dagegen, unser sinnvoll gelebtes Leben in den Schmutz ziehen zu lassen, tun wir auch weiterhin das uns Mögliche,
damit nie wieder – wie es in der DDR – Nationalhymne heißt - eine Mutter ihren Sohn beweint
Dr. Hartmut König (rechts im Bild) hat neben vielen bekannten Liedern und Gedichten immer wieder auch neue Lieder und Gedichte geschrieben- die sich in erste Linie an der aktuellen politischen
Situation orientieren und somit hoch aktuell sind.
Wenn der Russe nicht wär
Der Altnazi:
Wenn der Russe nicht wär,
wär der Krieg nicht verloren.
Und die Welt hörte Deutsch
mit gehorsamen Ohren.
Russlands Weizen und Öl
unter deutschen Standarten.
Und der russische Bär
im Zoologischen Garten.
Unser Reich wäre groß
bis zum Japanischen Meer,
wenn der Russe nicht wär.
Die Rüstungslobby:
Wenn der Russe nicht wär,
müsste man ihn erschaffen.
Gegen Russland verkauft
man die herrlichsten Waffen.
Eigentlich wär es Zeit,
Arsenale zu leeren.
Denn der Russe ist stur,
und er würde sich wehren.
Unsre Arbeit ist schwer.
Und die Kasse wär leer,
wenn der Russe nicht wär.
Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz
Wenn der Russe nicht wär, (meine Damen und Herren,)
wär die Welt sehr vereinfacht.
Ein gewaltiger Schritt
zur transatlantischen Eintracht.
Dieses ewige Njet
zum Export unserer Werte!
Was der Kreml sich traut,
verlangt strafende Härte.
Die Geschichte liebt uns!
Und nur China läg quer,
wenn der Russe nicht wär.
Angela Merkel:
Hätt der Russe nicht bei
2+4 unterschrieben,
wäre ich FDJ
oder sonstwas geblieben.
Ich sprach Russisch mit Putin
wohl im Fall eines Falles.
Später ließ ich das sein,
die CIA hört ja alles.
Vielleicht schulde ich Dank.
Keine Kanzlerbank,
wenn der Russe nicht wär.
Ursula von der Leyen:
Wenn der Russe nicht wär, (und es ist mir wirklich wichtig, das zu betonen,)
hätten wir Konversion.
Das verdirbt die Moral.
Wobei: Wir haben sie schon.
Will ja nichts funktionieren,
was da taucht, fliegt und rollt.
Deshalb hab ich ja auch
schnell nach Brüssel gewollt.
Hab gen Moskau krakeelt.
Wär beinah nicht gewählt,
wenn der Russe nicht wär.
Siegmund Jähn:
Wenn die Russen nicht wär´n,
die im Orbit rumpesen,
wär´n die Deutschen im All
reichlich spät dran gewesen.
Kein „Sojus“ hätte mich
in den Weltraum geschossen.
Und es reist sich so schön
im engen Kreis von Genossen.
Erstes Deutschland im All
wäre nicht DDR,
wenn der Russe nicht wär.
Der KZ-Häftling:
Wenn der Russe nicht wär,
wär ich nicht mehr am Leben.
Wurde wiedergeborn.
Hatte mich aufgegeben.
Habe vieles vergessen.
Nie den Russen am Tor.
Der hatte noch Tränen,
die ich längst verlor.
Und was immer man lügt,
ich seh dieses Gesicht
und verrate es nicht.
Text: Hartmut König (2019)
Mit ca. 150 Gästen war die Festveranstaltung sehr gut besucht worden.
Nach der Veranstaltung nutzten noch viele Gäste, sich ein Buch von Egon Krenz zu signieren oder bzw. auch erwarben Bücher und CD`s von Hartmut König.
Immer wieder kam es vor und nach der Veranstaltung zu herzlichen Begegnungen.
Die leere Flasche Bier, hatte ein Gast mitgebracht, weil dieses Bier von der Gaststätte Trotzenburg in Rostock gebraut wird und den Namen des Vereins trägt "RotFuchs".
Mit einer kurzen Danksagung vom Vorsitzenden, wurde die Veranstaltung beendet.
Danksagung/Abschlussworte
Liebe Gäste,
mit aktuell 41 Regionalgruppen ist der RotFuchs Förderverein e.V. ein fast bundesweit
aktiver parteiunabhängiger Bildungsverein, welcher sich zum wissenschaftlichen Sozialismus bekennt und den Marxismus nicht als Dogma sieht sondern als Anleitung zum Handeln.
In unseren Leitsätzen heißt es unter Pkt.5 „ Die DDR war die größte Errungenschaft in der
Geschichte der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung, da sie dem Kapital für vier Jahrzehnte die politische Macht und das privatkapitalistische Eigentum an den entscheidenden Produktionsmittel
entzog.
Wir verteidigen ihr Erbe und stehen sowohl zu den positiven Erfahrungen als auch zu
Defiziten und Fehlern. Die Analyse der Gründe unserer schweren Niederlage bleibt wichtiges Anliegen der marxistischen Wissenschaft. Daran beteiligt sich der RotFuchs.“
Ich setze dieses Zitat aus unseren Leitsätzen ganz bewusst, nicht in unsere Begrüßung zur
heutigen Veranstaltung, sondern in der Abschluss -Rede, weil wir auf der einen Seite deutlich machen wollen, dass wir in unserem Vereinsleben, nach unseren Leitsätzen leben, was Sie heute hier Live
erleben durften, um so auch gleich den praktischen Beweis zu erbringen, aber wir wollen auf der anderen Seite auch deutlich machen, dass viele linksorientierte Menschen, ob Parteimitglied oder nicht,
gemeinsam, als kleiner Verein nicht nur ein solches Event wie heute, sondern auch trotz aller individuellen unterschiedlichen Positionen, im Einzelnen, gemeinsam ein Ziel angehen können. Es soll auch
Mut machen, dass jeder der ähnlich denkt und fühlt wie Ihr hier im Saal, dazu bei trägt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich zu besseren ändern. Nun höre ich jetzt schon das Argument, dass
unsere Generation mit Sicherheit einen erneuten Sozialismusversuch aus biologischen Gründen nicht mehr erleben wird, wieso also unser Einsatz dann.Dazu nur zwei Anmerkungen:
Wir wissen, dass eine gesellschaftliche Veränderung vom Bewusstsein, also Überzeugungen
getragen sein muss. Diese Überzeugungen müssen vermittelt werden. Das ist eine unserer vielfältigen Aufgaben heute.
Mein Freund Dr. Carolus Wimmer aus Venezuela erklärte mir vor Jahren schon, dass
in einer USA-Studie über mögliche Gefahren revolutionärer Veränderungen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent, Venezuela als unwahrscheinlichste Region bewertet worden ist, wo sowas eintreten
könnte.
Nun kann man sagen, die USA-Ideologen haben sich zum Glück geirrt. Wichtiger ist aber die
Feststellung, dass überall heute in einem Land eine innenpolitische Situation eintreten kann, die eine mögliche revolutionäre Situation als Folge haben könnte. Denkt bitte an die Finanzkrise und die
Hartz IV Gesetze. Letztere wurden von der SPD/Grünen- Regierung eingeführt und es entstand plötzlich eine Massenbewegung, die in den Montagsprotesten das Land über Monate überzog. Leider war zu
diesem Zeitpunkt wie aktuell heute leider auch, die linke Bewegung inkl. ihrer Parteien zerstritten. Sogar die damalige PDS in MV hat z.B. sich in der Regierungsbeteiligung an der Umsetzung dieser
härtesten unsozialen Maßnahmen in der Geschichte der BRD beteiligt und somit auch einen Beitrag für die Vernichtung der Massenproteste geleistet.
Das zeigt, wie wichtig und unerlässlich nicht nur eine ständige gesellschaftliche Analyse
und die der eigenen fortschrittlichen Kräfte ist, sie belegen auf eindringlich Weise, dass neben den Grundkenntnissen der Lehren aus den Schriften von Marx, Engels, Lenin auch ein Bewusstsein
vorhanden sein muss, um nicht nur die gegenwärtige Situation begreifen zu können, sondern auch entsprechende Maßnahmen davon ausgehend abzuleiten.
Dass wir diese Fakten Euch heute hier so vermitteln konnten, ist in erster Linie unserem
Zeitzeugen Egon Krenz mit seinen Ausführungen zu verdanken. Dafür herzlichen Dank lieber Egon von uns, den Organisatoren und auch im Namen der anwesenden Gäste.
Mit seinen kulturellen Beiträgen sagen wir auch unserem Hartmut König herzlichen
Dank, ganz großartig.
Ein großes Dankeschön verdienen auch die vielen RotFuchsmitglieder und SympathisantInnen,
die alle in ehrenamtlicher Arbeit, nicht nur unsere Veranstaltung heute organisiert haben, sondern auch für das leibliche Wohl gesorgt haben, wo neben selbstgebackenen Kuchen und belegten Brötchen,
für den kleinen Hunger Abhilfe geschaffen worden ist.
Eine extra Würdigung möchten wir auch der Leiterin des SBZ und Ihren Mitarbeiterinnen
aussprechen, da ohne deren zuvorkommende hilfsbereite Unterstützung, unsere heutige Veranstaltung gar nicht stattfinden hätte können.
Ich bitte nun Egon Krenz, Hartmut König und Heike Röhrs mit nach
vorne.
Lieber Egon, diese Bilder stammen aus Privatbesitz und zeigen Dich aus jüngeren Zeiten mit
Deinem ungarischen Amtskollegen beim Besuch unserer Marine der NVA auf Rügen. Als unser bescheidenes Dankeschön an Deinen heutigen Beitrag.
Lieber Hartmut, auch Dir möchten wir ein Bildnis überreichen, dass von dem revolutionären
Matrosen am Rostocker Kabutzenhof, aus noch besseren Zeiten stammt, denn seit Jahren will man es eigentlich sanieren, aber man wartet wohl solange, dass es nicht mehr saniert werden kann. Herzlichen
Dank für Deine Beiträge.
Heike Röhrs steht hier heute aus mehreren Gründen.
Als Stellvertreterin für alle die fleißigen Helfer im Hintergrund und ganz vorne immer
aktiv dabei. Sofort kam von ihr das Angebot, selbst zu backen und vor Ort mitzuhelfen, wie alle anderen ehrenamtlichen HelferInnen auch, unseren herzlichen Dank.
Möchte wir Heike auch in unseren Reihen des RotFuchs herzlichst begrüßen. Heike gehört zu
jene, die Ihr Wort auch in die Tat umsetzen und ich finde, von solch aufrichtigen Mitstreiterinnen kann es nicht genug geben. Herzlich willkommen im RotFuchs und viel Spaß in der
Vereinsarbeit.
Ich möchte gleichzeitig die Gelegenheit nutzen, um für unseren Verein zu werben. Der Verein
lebt von seinen aktiven Mitgliedern, wie von seinen solidarischen Spenden, um auch solche Veranstaltungen wie heute, aber auch generell unsere regelmäßigen Bildungsveranstaltungen durchführen zu
können, ob in Rostock oder bundesweit. Jeder kann nicht nur jederzeit spenden, jeder kann auch Mitglied werden, wenn er sich mit der Vereinssatzung und den Leitsätzen des RotFuchs identifizieren
kann.
Ich möchte mich nun bei Ihnen als Gäste herzlich für Ihr Kommen bedanken, gerne laden wir
Sie zu unseren nächsten RotFuchsveranstaltungen ein.
Bevor wir nun die heutige Veranstaltung beenden, möchten wir uns bei all jenen Gästen aufs
herzlichste bedanken, die für Kuba gespendet haben, die wie Venezuela wegen des verschärften Wirtschaftsembargo vor extremen Herausforderungen stehen.
Auf einer der nächsten RotFuchsveranstaltungen werden wir die Spendensumme
bekanntgeben.
Wir wünschen noch einen schönes Rest-Wochenende, einen guten
Heimweg.
Hiermit ist die Veranstaltung beendet.
Junge Gäste der Festveranstaltung ließen es sich nicht nehmen, ein gemeinsames Erinnerungsfoto mit Egon Krenz zu machen.
Mit zwei Erinnerungsfoto`s aus Privatbesitz, wo Egon Krenz auf Dranske (Insel Rügen) die Volksmarine besuchte, konnte als kleines Dankeschön Ihm eine Freude bereitet werden.
Mit einem Bild vom Matrosendenkmal "Der revolutionären Matrosen" vom Kabutzenhof in Rostock, konnte Dr. Hartmut König für seine kulturellen Beiträge als kleines Dakeschön, auch eine Freude gemacht
werden.
Als Dankeschön für alle ehrenamtlich aktiven Helferinnen, wurde Heike herzlichst mit einer Kleinigkeit gedankt und auch noch als neues Mitglied im Verein herzlichst begrüsst.
Ein Abschlussbild von der Veranstaltung als Erinnerung mit v. l. Dr. Hartmut König, Dr. Henning Schleiff (letzter DDR-Oberbürgermeister von der Hansestadt Rostock), Dr. Marianne Linke, dahinter
Carsten Hanke (Vorsitzender RotFuchs Rostock), Egon Krenz (letzter Staatsratsvorsitzender der DDR), Ulli Peck ( letzter 1. Sekretär der Bezirksleitung Rostock in der DDR).
Wichtige Informationen über die DDR
Deutschland
War die DDR-Wirtschaft wirklich marode? Interview mit einem
Kombinatsdirektor – Teil 1 von 2
Wartburg-Montageband im VEB Automobilwerk Eisenach in der
DDR.
Vorurteile über die DDR-Wirtschaft prägen das Bild, welches der Medien-Mainstream pflegt. Doch wie stimmig ist
dieses eintönige Narrativ? Ein zweiteiliges Gespräch mit einem ehemaligen DDR-Wirtschaftsfunktionär soll helfen, diese einseitige Perspektive zu überwinden.
Wir sprachen mit Dr. Adolf Eser, dem
ehemaligen Generaldirektor des Chemiekombinats Bitterfeld und Autor des Buches "Von Alaun bis Zitronensäure", in dem er die Geschichte der Chemieindustrie – mit seinem Fokus auf den Bitterfelder Raum
– darstellt. Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow. (Den ersten Teil finden Sie ab morgen hier.)
Wie wirkte sich die deutsche
Teilung auf die wirtschaftlichen Grundlagen der DDR aus?
Man muss davon ausgehen, dass der Osten schon zur
Zeit Bismarcks als "Armenhaus Deutschlands" bezeichnet wurde. Das bedeutete, dass mit wenigen Ausnahmen, wie das mitteldeutsche Industrierevier (Buna, Leuna, Bitterfeld, Zeitz, Magdeburg, Dresden, um
nur einige Beispiele zu nennen), fast die gesamte Montan- und Schwerindustrie traditionell in Westdeutschland, beispielsweise im Ruhrgebiet, angesiedelt und die ostdeutsche Wirtschaft dadurch
von der Kooperation mit den Firmen im Westen zum Zeitpunkt der Teilung Deutschlands ab Mitte der 1940er Jahre absolut abhängig war. Alle Kooperations- und Lieferbeziehungen wurden mit der separaten
Währungsreform, der Gründung der BRD und der einseitigen Kündigung der Handelsabkommen durch die BRD hinfällig. Dazu kam noch das von den Westmächten verhängte Embargo für strategisch wichtige
Erzeugnisse. Der renommierte Wirtschaftshistoriker Prof. Abelshauser schreibt dazu in seinem Buch "Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945":
Aufgrund der den Ostblockstaaten entstandenen zusätzlichen Kosten und des Entwicklungsrückstandes
kann dieses Embargo als erfolgreich bezeichnet werden.
Immerhin musste auch die DDR zunächst aus eigener
Kraft, später auch mit der Unterstützung der UdSSR, damit leben. Die Anwendung der Embargobestimmungen gegen die DDR fand ihren Höhepunkt am 30.9.1960, als die Regierung der BRD überraschend das
Abkommen über den innerdeutschen Handel vom 20.9.1951 samt Zusatzabkommen einseitig kündigte. Mit dem durch die Regierung der BRD verhängten Embargo wurden auch Großrohre sanktioniert, zum Bau der
Erdöl- und Erdgasleitungen aus der Sowjetunion zur Versorgung der Volkswirtschaften der DDR und der sozialistischen Länder mit diesen strategischen Rohstoffen unverzichtbar.
Es blieb den Verantwortlichen der DDR nichts anderes
übrig, als die "Störfreimachung" der Wirtschaft der DDR auf die Tagesordnung zu setzen, also der Willkür- und Erpressungspolitik der Regierung der BRD mit dem Aufbau einer eigenen Schwerindustrie mit
großen Investitionsvorhaben zu begegnen, z. B. durch:
Vietnamesische Vertragsarbeiterinnen in den Feinstrumpfwerken Oberlungwitz,
1988.
den Ausbau der "Maxhütte in
Unterwellenborn", unter der Losung "Max braucht Wasser",
den Aufbau des Eisenhüttenkombinates
Ost, EKO, mit polnischem Koks und sowjetischem Erz, für Stahl zum Aufbau der Republik,
den Aufbau des Gaskombinates "Schwarze
Pumpe" zur Braunkohlenveredelung zu BHT-Koks,
den Bau des Niederschachtofenwerkes
Calbe an der Elbe zur Verhüttung "armer Eisenerze" aus dem Harz,
den Aufbau der Werften an der Ostsee und
der Bau von Überseehäfen in Rostock, Warnemünde, Stralsund, Mukran sowie der Ausbau des Fährhafens Sassnitz,
das Chemieprogramm zum Auf- und Ausbau
der Petrochemie in Schwedt, Böhlen, Leuna, Buna und Bitterfeld und dazu der Bau der Erdöl- und Erdgasleitungen aus Sibirien (UdSSR),
die Melioration der Wische zur
Steigerung der Hektarerträge und Aufbau einer leistungsfähigen Viehwirtschaft in Mecklenburg zur Sicherung der Ernährung der Menschen in der DDR und weitere Großvorhaben zur Sicherung unseres Lebens
und Überlebens.
Sie konnte der Willkür- und Erpressungspolitik durch
die BRD nur begegnen, indem sie sich leistungsstarke Partner auf den Märkten der westlichen Welt wie Österreich, Frankreich, Japan, Großbritannien, Schweden und u. a. auch in der BRD
suchte.
Dies fiel nach der Anerkennung der DDR als
selbstständiges Völkerrechtssubjekt durch die Aufnahme als gleichberechtigtes Mitglied der Staatengemeinschaft in die UNO (durch die Konferenz von Helsinki) umso leichter. Der
Alleinvertretungsanspruch der BRD für Gesamtdeutschland blieb mit allen nachteiligen Folgen dennoch bestehen, mit z. B. großen Einschränkungen für die Menschen etwa im Reiseverkehr, in der
Währungsparität usw.
Es ist eine beweisbare Tatsache, dass beispielsweise
in die Chemieindustrie der DDR deshalb in der Mitte der 1970er-Jahre noch extensiv investiert werden musste, während die BRD durch den Marshall-Plan mit zinsgünstigen Krediten und Zugang zu allen
benötigten Technologien, Ausrüstungen und Rohstoffen bereits zur Modernisierung, Rekonstruktion und Umstrukturierung ihrer Wirtschaft und damit zur Expansion bzw. "Verlagerung angeblich
unwirtschaftlicher, energieintensiver Produktionen" in Billiglohnländer übergehen konnte.
Es ist daher bloße Demagogie, wenn man
heute behauptet, die DDR habe damals eine Autarkiepolitik betrieben, die an jene der Nationalsozialisten erinnert (siehe etwa Spiegel 9/53). In der DDR stand ein autarkes Streben zu keiner
Stunde auf der Tagesordnung, konnte es gar nicht, wenn man die volle Abhängigkeit der Volkswirtschaft der DDR von Importen wie u. a. Koks, Schwefel, Anthrazit, Erdöl, Erdgas, Bauxit, Quecksilber,
Eisenerz, Naturkautschuk, Phosphaten und Tiefziehblechen bedenkt. Es war außerdem eine ethische Grundfrage der Politik der DDR, stets die Förderung und Ausweitung der internationalen Beziehungen und
der Zusammenarbeit auf gleichberechtigter Grundlage, vor allem mit den jungen Nationalstaaten, den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft und auch Konzernen auf der Basis des gegenseitigen
Vorteils, der Achtung und der Solidarität zu betreiben.
Computer des Typs A-7100 während der Kontrolle im Werk des VEB Robotron
Elektronik Dresden, 1987.
Mit der BRD verfolgte die DDR das Ziel, eine
friedliche Koexistenz zu erreichen. Der Hallstein-Doktrin zufolge wurde die Aufnahme oder Unterhaltung diplomatischer Beziehungen durch dritte Staaten mit der Deutschen Demokratischen Republik von
der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihres Alleinvertretungsanspruchs für das gesamte deutsche Volk als unfreundlicher Akt ("acte peu amical") betrachtet und in der Regel mit dem Abbruch
beziehungsweise der Nichtaufnahme diplomatischer Beziehungen beantwortet. Die Hallstein-Doktrin wurde nach der Moskaureise Konrad Adenauers und der damit verbundenen Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zur Sowjetunion im September 1955 formuliert und im Dezember des gleichen Jahres auf einer Botschafterkonferenz in Bonn erstmals öffentlich verkündet. Sie war eine bundesdeutsche
Leitlinie, die darauf bestand, dass die Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) aufgrund des Alleinvertretungsanspruchs der einzige legitime deutsche Staat sei.
Diese Hallstein-Doktrin hatte gravierende Auswirkungen
auf den Außenhandel mit kapitalistischen Industriestaaten und den freien Reiseverkehr der Bürger der DDR in das westliche Ausland. Die Situation entspannte sich erst etwas nach der weltweiten
Anerkennung der DDR als souveräner Staat in Folge der Konferenz von Helsinki, obwohl alle Bundesregierungen diesen Alleinvertretungsanspruch auch danach niemals aufgegeben und nichts unversucht
gelassen haben, die DDR als zweiten Deutschen Staat, der im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstanden war, zu liquidieren. Trotz dieser erpresserischen Politik aller Regierungen der Bundesrepublik
seit 1949 gegenüber der DDR und den Regierungen aller Staaten, die sich an internationale Verträge und Vereinbarungen hielten, hat die DDR ca. 750 Betriebsobjekte und Industrieanlagen auf
Kompensationsbasis aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) zur Modernisierung, Erneuerung und Erweiterung ihrer Industrie importiert. Diese Geschäfte waren notwendig, aber nicht immer
nach den Gesetzen der "reinen Ökonomie" wirtschaftlich, weil sie als sog. Gegengeschäftsvereinbarungen zum gegenseitigen Vorteil mit Erzeugnissen aus den Objekten zu "Westwährungskonditionen" zu
bezahlen waren. Allein für 12
Milliarden DM wurden Planimporte für
Chemieanlagen aus dem NSW realisiert.
Das Bild der DDR-Wirtschaft ist in
den BRD-Medien geprägt von Schlagwörtern wie Mangelwirtschaft und niedrige Arbeitsproduktivität. Wie bewerten Sie diese Vorwürfe als Wirtschaftsfachmann aus der DDR?
Diese Vorwürfe sind geprägt von der seit der Gründung
der DDR durch die von den Westalliierten gewollte und geförderte Teilung Deutschlands. Dabei ging es nicht um Ost und West, sondern um den Beginn einer brutalen Klassenauseinandersetzung zwischen dem
monopolkapitalistisch beherrschten Westen unter der Führung der USA, Großbritanniens und Frankreichs und der damals nach dem Zweiten Weltkrieg befreiten Bevölkerung, die zunächst unter der Führung
der KPD/SED gemeinsam mit den Blockparteien die DDR gründeten. Seitdem sind Hass, Neid, Diffamierung und Missgunst der sogenannten "christlichen BRD" unsere
Wegbegleiter.
Arbeiterinnen bei der Herstellung von Kameras im VEB Pentacon, Dresden,
1976,
Beispielhaft dafür ist etwa die Diffamierung der DDR
und ihrer Eliten durch die Aufforderung Herrn Kinkels auf dem 15. Deutschen Richtertag am 23. September 1991:
Sie, meine Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte bei
dem, was noch auf uns zukommt, eine ganz besondere Aufgabe (...): mit dem fertig zu werden, was uns das vierzigjährige Unrechtsregime in der früheren DDR hinterlassen hat. (...) Es muss gelingen, das
SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es
(...) einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland. (...) Politische Straftaten in der früheren DDR dürfen nicht verjähren.
Die Entscheidung darüber liegt allein bei den Gerichten. (...) Der Gesetzgeber kann aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Problems der Rückwirkung nicht tätig werden.
Oder Professor Arnulf Baring in seinem Buch
"Deutschland, was nun?":
Das Regime (gemeint ist die DDR, Anm.) hat fast ein halbes Jahrhundert
die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. (…) ob sich heute dort einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig
egal; sein Wissen ist auf weiten Strecken unbrauchbar.
Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es im
Grundgesetz! Ob die Herren Kinkel, Baring und Co. sich dessen jemals bewusst gewesen sind? Das galt im Klassenkampf während des Kalten Krieges nicht für diejenigen, die die richtigen
Schlussfolgerungen aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen hatten. Die Diskriminierung und Ausgrenzung fleißiger Menschen hält bis heute an.
Die DDR hatte bei ihrer mutwilligen Zerstörung 1990
ein Bruttoinlandsprodukt in DM pro Einwohner von 16.796 DM erarbeitet. Legt man den 1987 ausgewiesenen Umrechnungssatz von 1 ECU (damals gültige europäische Währungseinheit) von 2,07 DM zugrunde,
kommt man für 1988 zu einer Bruttoinlandsproduktgröße pro Kopf in Höhe von 8.114,32 ECU für die DDR. Im Rahmen der 1988 zur EG gehörenden Länder wäre dies der 9. Platz, mit relativ geringem
Abstand zu Großbritannien mit 9.000 ECU, beträchtlich vor Spanien mit 6.130 ECU, Griechenland mit 3.800 ECU und Portugal mit 3.090 ECU gewesen.
Im RGW wäre dies der 3. Platz und in der Welt der 15.
bis 17. Platz gewesen.
Das war für die Ökonomie der DDR und die Arbeit ihrer Bürger unter den
gegebenen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen ein hervorragendes Zeugnis", schreibt Siegfried Wenzel von der Staatlichen Plankommission in seinem Buch "Was war die DDR wert? Und wo ist
dieser Wert geblieben?".
Die chemische Industrie hatte daran mit einem Umsatz
von 88,5 Mrd. DDR-Mark mit 308.000 Beschäftigten am 31.12.1988 (davon das Chemiekombinat Bitterfeld am 31.12.1988 mit einem Umsatz von 7,582 Mrd. DDR-Mark und 28.800 Beschäftigten) einen
hohen Anteil. Allein der Stammbetrieb in Bitterfeld hatte laut bestätigter Abschlussbilanz vom März 1990 zum 31.12.1989 einen Umsatz (realisierte finanzgeplante industrielle Warenproduktion) von
4,647 Mrd. DDR-Mark ausgewiesen. Dieser hat nach den allgemein gültigen Umrechnungssätzen für Leistungen der DDR-Volkswirtschaft einem Wert von 2,2658 Mio. DM oder 1,159 Mio. Euro entsprochen
(Umrechnungsfaktoren DDR-M in DM: Inland 1 €=1,95583 DM; und SW= 0,505, NSW= 0,239 DM).
Trabi-Produktion im Werk VEB Sachsenring Zwickau,
1990.
Der Nettogewinn (Verkaufserlös minus Kosten) betrug
171,3 Mio. DDR-Mark. Damit war es möglich, alle Fonds zu speisen und ständig die Liquidität zu sichern. Drei Prozent der Materialkostensenkung waren darin enthalten. Der Bruttowert der Sachanlagen
betrug 9,693 Mrd. DDR-Mark. Die Abschreibungen betrugen 4,813 Mrd. DDR-Mark, das waren 49,7 Prozent. Damit konnte, wie manche meinen, von "marode" keine Rede sein. Die Kreditbelastung betrug
625.879.588,27 DDR-M durch Investitionen – u. a. für neue Chlorat-Anlagen aus Schweden. Es waren 17.495 Personen beschäftigt. Der Stammbetrieb hatte einen Anteil am Aufkommen an industrieller
Warenproduktion von 70 Prozent des Kreises Bitterfeld, von 13 Prozent des Bezirkes Halle, von 8,66 Prozent des Ministeriums für chemische Industrie. Der Exportanteil betrug 29,
Prozent.
In den Export für die sozialistischen Länder gingen
Waren im Wert von 196,2 Mio. Rubel, etwa an die UdSSR, Bulgarien, Rumänien, Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Kuba und Vietnam. An Kunden in dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet gingen
Waren im Wert von 55,7 Mio. DM u. a. in die BRD, nach Italien, Frankreich, Großbritannien, die Schweiz, Schweden, Kolumbien, Griechenland, den Niederlanden, in den Iran und den Irak. Der Handel
mit den europäischen Ländern des NSW erfolgte auch über sogenannte gemischte Gesellschaften, wie PRIMEX Mailand, SOPROCHIM Paris usw.
Der erste Vertrag mit einem NSW-Partner wurde mit der
italienischen Firma Manifattura Chimica Italiana im Jahre 1958 geschlossen. Die 30. Wiederkehr dieses Vertragsabschlusses wurde am 4. und 5. Juni 1988 mit dem Partner, der bis zum Ende des Kombinates
zu seinem Lieferanten in der DDR gehalten hatte, in Bitterfeld feierlich begangen. Insgesamt 25 Goldmedaillen wurden auf den Leipziger Messen für Produkte des CKB wegen hervorragender Qualität
und/oder wegen ihres Neuheitsgrades vergeben.
Mit seinen Produkten hat das CKB ein
Warenproduktionsvolumen in der Volkswirtschaft der DDR in Höhe von schätzungsweise 60,0 Mrd. DDR-Mark beeinflusst. Das CKB war der bedeutendste Produzent von Hütten- und Reinstaluminium in der DDR.
Der Stammbetrieb war mit 270 kt/a der größte Chlor-Produzent in der Volkswirtschaft der DDR. Mit einem Anteil von 20 Prozent am Gesamtaufkommen war der Stammbetrieb der bedeutendste Hersteller von
Wirkstoffen und Formulierungen für Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel (PSM). Das Kombinat hat 70 Prozent aller in der DDR hergestellten Wirkstoffe bereitgestellt und zwei Prozent
der Weltproduktion realisiert.
Für Ionenaustauscher (Wofatite) war die Farbenfabrik
weltweit der erste und zu DDR-Zeiten der drittgrößte Hersteller auf der Welt. Der CKB-Stammbetrieb hat den Bedarf der DDR an Farbstoffen, Weißtönern und Hilfsmitteln zu etwa 65 Prozent aus eigenem
Aufkommen für die Textil-, Leder-, und Papierindustrie gedeckt, den Export von Farbstoffen und Zwischenprodukten in das NSW (bereits ab 29.9.1958 nach Italien), in die UdSSR und den RGW-Raum bedient.
Das CKB gehörte mit einer Syntheseleistung von etwa 10.000 t/a, das waren ca. 16.000 t/a Handelsware in 18 Klassen, zu den leistungsstärksten Produzenten im RGW-Raum.
Bedingt durch die Teilung Deutschlands in Folge der
separaten Bildung der Bundesrepublik Deutschland wurden in der volkseigenen Zeit 350 neue Farbstoffmarken, Weißtöner und etwa 50 neue Hilfsmittel für die Papier-, Leder- und Textilindustrie sowie die
dafür nötigen Zwischenprodukte überwiegend selbst entwickelt und in die Produktion überführt. Lücken in den Sortimenten wurden durch den Warenaustausch im Rahmen der internationalen
Handelsorganisation der sozialistischen Länder "Interchim" und durch Importe aus dem westlichen Ausland geschlossen.
Eine Maschinenbaufabrik in Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt),
1969.
Von 1949 bis 1969 erfolgten unter den neuen
Bedingungen des Rechtsschutzes in der DDR 1.158 Patentanmeldungen, ca. 61 Patente pro Jahr, und von 1970 bis 1989 wurden 1.668 Patente, das waren ca. 88 pro Jahr, von Mitarbeitern der Forschung
und anderer Fachbereiche des Stammbetriebes des VEB CKB angemeldet.
Der wichtigste Vertragsforschungspartner war die
Martin-Luther-Universität Halle (MLU), an der auch Führungskräfte aus der Forschung des Kombinates bis 1990 ihr Wissen und ihre Erfahrungen als Professoren mit Lehrauftrag an Studenten
weitergaben. Insgesamt waren von 1950 bis 1990 aus dem CKB 9 Forscher als Professoren z. T. mit Lehrauftrag und/oder als Institutsdirektoren an die Universitäten nach Halle, Leipzig, Berlin,
Dresden und Jena berufen und auch zu Akademiemitgliedern ernannt worden.
Das Chemiekombinat Bitterfeld war ein Initiator der
Veredelungsstrategie. Mit dieser Strategie der höheren Veredelung der verfügbaren Rohstoffe wurde mit Beginn der 1970er Jahre in Verbindung mit der technologischen Erneuerung der Grundfonds (RSM =
Rationalisierung, Stabilisierung, Modernisierung) auf der Grundlage von eigenen Erneuerungs- und Basisinnovationen der Erneuerungsprozess des Kombinates beschleunigt
weitergeführt.
Insgesamt wurden seit der Übergabe der Betriebe
Farbenfabrik und Elektrochemisches Kombinat (Chemiekombinat Bitterfeld) in das Volkseigentum Investitionen in Höhe von 8,0 Milliarden DDR-Mark getätigt. Die Forschung hatte an diesen Leistungen einen
gewichtigen Anteil und wurde demzufolge, wie das Kombinat auch, nach 1990 entsprechend verleumdet. So kann sich auch das Management vom (wie das Werk heute heißt) P-D ChemiePark von einer gewissen
Niedertracht nicht freimachen. In einer Werbebroschüre – in Hochglanz, mehrfarbig und zweisprachig – aus dem Jahr 2005 heißt es:
Die Nachkriegszeit war zunächst geprägt von wirtschaftlicher
Stagnation. Erst nach der Wiedervereinigung und der Privatisierung kam wieder Dynamik in den Standort. 1997 wurde der Chemiepark Bitterfeld-Wolfen gegründet, der vier Jahre später von der privaten
Firmengruppe Preiss-Daimler erworben wurde.
Für die chemische Industrie der alten BRD war
Bitterfeld, wie die übrigen ehemaligen IG-Farbenbetriebe bis 1990:
eine unliebsame Konkurrenz
und
für die Aktionäre der IG Farben ein
"warmer Regen" auf das eingefrorene Aktienkapital der sogenannten Ostwerte, u. a. mit den Ansprüchen auf das Vermögen in Ostdeutschland (Werke der IG in der sowjetischen Besatzungszone) durch die
Umsetzung der Losung "Rückgabe vor Entschädigung" der Treuhand.
Das betraf auch die durch die Beschlüsse des Potsdamer
Abkommens enteigneten Werke der IG Farben in der sowjetischen Besatzungszone zu: BUNA Schkopau, EKB Bitterfeld, Wolfen-Farben, EKL Berlin-Lichtenberg, Wolfen-Film, Staßfurt (Magnesium), Chemiefaser
Premnitz.
Mit allen Mitteln Konkurrenz zu vermeiden ist nach
Carl Duisberg, dem Vorstandsvorsitzenden der Bayern AG im frühen 20. Jahrhundert und späteren Aufsichtsratsvorsitzenden des Konzerns zwischen 1926 und 1935, immer das Ziel kapitalistischer,
konzernstrategischer Politik, seit es Konzerne gibt.
DDR-Staatschef Erich Honecker (links) und der westdeutsche Bundeskanzler
Helmut Kohl (rechts)
Jenseits von Vorurteilen versucht der Ökonom Klaus Blessing im Interview mit RT Deutsch, ein realistischeres
Bild der DDR-Wirtschaft zu zeichnen. Im Mittelpunkt des Interviews stehen die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen und der DDR-Außenhandel.
Der studierte Ökonom Klaus Blessing
war Leiter der Abteilung Maschinenbau des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und später stellvertretender Minister für Schwerindustrie der DDR. Seit den Umbruchsjahren
1989/1990 wirkt er unter anderem als Autor politischer und wirtschaftlicher Schriften.
Das Gespräch führte Hasan
Posdnjakow
Welche Umstände veranlassten die
DDR dazu, wirtschaftliche Beziehungen zur der BRD aufzunehmen?
Der Handel zwischen der BRD und der DDR war nur eine
Komponente der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen, noch nicht einmal die entscheidende. Der Rahmen ist viel weiter zu fassen. Wir haben uns darauf einzustellen, dass dazu in diesem Jahr noch
einiges an medialer Berichterstattung kommt. Ich will nicht vorgreifen, welchen Wahrheitsgehalt das haben wird. Als Linke sollten wir darauf schon jetzt eingestellt sein.
Das Thema ist umfassend und in gewissem Sinne auch
brisant. Gegenüber der üblichen Argumentation muss man es vom Kopf auf die Füße stellen. Ich habe bereits zusammen mit anderen Kollegen im Jahr 2005 ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt: "Die
Schuld des Westens: Wie der Osten Deutschlands ausgeplündert wird". Dort ist eine umfangreiche Dokumentation enthalten. Hier sind viele Informationen zu diesem Thema
enthalten.
Es gibt mindestens folgende Gebiete, in denen der Westen gegenüber dem
Osten verschuldet ist: erstens die mit der Spaltung Deutschlands vollzogenen Disproportionen und die Verletzung des Potsdamer Abkommens. Das sind auch die Wurzeln für die späteren Handelsverträge.
Das zweite ist die Frage der Reparationsleistungen. Der Osten hat für Gesamtdeutschland die Reparationen gegenüber der Sowjetunion gezahlt. Der Westen erhielt parallel dazu Hilfen aus dem
Marshallplan, ganz nach dem Kalkül: "Wenn wir den Kommunismus besiegen wollen, dann müssen
wir das ökonomisch machen." Das war eigentlich der
Urknall des Dilemmas. Wir haben ja das bisschen Wirtschaftkraft, was nach der Spaltung übrig blieb, zu großen Teilen in die Sowjetunion als Reparation abgetragen. Wir haben auch umfangreiche
Lieferungen aus der laufenden Produktion als Reparation an die Sowjetunion gegeben. Das Thema Uran-Bergbau stellt dabei ein besonderes Kapitel dar.
Dazu gesellte sich das Embargo, das zu riesigen
Problemen für die DDR führte. Die DDR musste Industrien aufbauen, wo sie eigentlich hätte auf dem Weltmarkt einkaufen können. Stichwort Mikroelektronik. Diese anfängliche starke Disproportionalität
führte unter den Bedingungen der offenen Grenzen zu massenhaften Abwanderungen und gezielten Abwerbungen, die die Dimension von drei Millionen Menschen hatte. Sie waren drüben als Aufbauhelfer
herzlich willkommen, und uns fehlten sie. Die Verluste kann man beziffern. Auch bei geschlossener Grenze war es nicht so, dass keine Fachkräfte ausgewandert sind. In den 1980er-, 1990er-Jahren kam
der richtige Knall. Das Volkseigentum der DDR wanderte in westdeutsche Hände.
Aus diesen Säulen ergibt sich riesige Schuld. Ich habe
berechnet, dass der Westen bis zur sogenannten Wende vier Billionen D-Mark von der DDR profitierte. Nach der Wende ging es ja weiter mit massenhaften Auswanderungen. Da kommt noch mal ein ähnlicher
Betrag zustande. Das sind natürlich ungefähre Beträge. Es geht aber darum, die Dimensionen klarzumachen, was hier eigentlich gelaufen ist. Wenn wir also über Wirtschaftsbeziehungen reden, müssen wir
das in den größeren Kontext einzubetten, den ich versucht habe, hier klarzulegen.
Wie waren die
Wirtschaftsbeziehungen in den 1950er-Jahren unter den Bedingungen der offenen Grenze und der sich verschärfenden Gegensätze zwischen Ost und West?
Die deutsch-deutschen Handelsbeziehungen hatten ihre
Wurzeln im Potsdamer Abkommen. Dort war festgelegt, dass Deutschland als einheitlicher Wirtschaftsraum zu behandeln ist, in Kenntnis der Disproportionalität, also im Westen mehr Grundstoffzweige, bei
uns, so weit noch vorhanden, Maschinenbau und verarbeitende Industrie. Um das als einheitliches Ganzes oder zumindest als Wirtschaftsgebilde zu erhalten, legte das Abkommen fest, dass innerdeutsche
Handelsbeziehungen stattzufinden haben.
Die wurden natürlich von Anfang an von der BRD nicht
als "Hilfe Ost" angesehen, sondern als Methode, um dem Osten Schwierigkeiten zu bereiten. Das kann man an zwei Punkten festmachten: Bei kritischen politischen Lagen wurden die Handelsbeziehungen
gestoppt oder gegen null gefahren. Und zweitens waren diese Handelsbeziehungen so gestaltet, dass beim Export von Waren die DDR verpflichtet war, bestimmte Waren im Gegenzug zu kaufen. Viele
Handelsökonomen sagen, dass diese Pflicht eindeutig zulasten der DDR ging, da die Exporte unter Weltniveaupreisen und die Importe über Weltniveaupreisen gekauft wurden.
In der DDR kauften vor allem westdeutsche
Handelsketten massenhaft Konsumgüter und ließen diese umetikettieren. In ihren Versandhäusern verkauften sie diese dann billig, da sie sie hier extrem billig einkaufen konnten. Das war eine weite
Palette von Waren, von Möbeln bis hin zu Industrieerzeugnissen. Wir waren ja darauf angewiesen, Rohstoffe oder Halbfabrikate zu bekommen, da wir ja keine richtige eigene Basis
hatten.
Wir hatten Walzstahl in die BRD zu bestimmten,
niedrigen Preisen exportiert und haben anderen dann zurückgekauft, natürlich nicht das gleiche Sortiment, sondern die Sortimente, die wir nicht herstellen konnten. Der innerdeutsche Handel war keine
Gewinnsituation für die DDR. Es war ein Handel, wo eine bestimmte Abnahme garantiert war, aber auch eine Gegenlieferung zwangsweise genommen werden musste. Ein Devisenbringer, mit dem man hätte frei
hantieren könnten, war es nicht. Die Verluste aus dem innerdeutschen Handel (für die DDR) beziffere ich relativ niedrig im Verhältnis zu den anderen Verlusten, wie den Reparationszahlungen, der
Abwanderung der Arbeitskräfte und dann der Höhepunkt, dem Raub des Volkseigentums. Das ist also nicht der Dreh- und Angelpunkt.
Wurden die innerdeutschen
Handelsbeziehungen nach der Schließung der Grenze in den 1960er-Jahre ununterbrochen fortgeführt, oder gab es eine Pause?
Die Handelsbeziehungen gingen bis zum Schluss fort.
Berühmt-berüchtigt ist ja der von Strauß eingefädelte Milliardenkredit. Der innerdeutsche Handel lief als ständiges Instrument, mit Höhen und Tiefen, mit Erpressungsmethoden von der anderen Seite bis
zum Schluss.
Was war der Anreiz für die BRD
bzw. die westdeutschen Unternehmen, Handel mit der DDR zu treiben?
Dafür gibt es eindeutig zwei Gründe. Der erste ist ein
ökonomischer Grund: Sie konnten hier billigst einkaufen. Sie haben das auch getan. In unserem Buch ist ein Abschnitt dazu, wie die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz sich bei solchen Geschäften eine
goldene Nase verdiente. Die DDR war immer devisenhungrig.
Der andere Grund war ein politischer. Mit dem
innerdeutschen Handel hatte die BRD ein Instrument in der Hand, um in politischen Problemzeiten Hähne zuzudrehen oder stark zu drosseln und somit der DDR Schaden zuzufügen. Das musste gar kein
explizites Embargo sein, sondern konnte einfach die Nichtlieferung von Waren bei Handelsbeziehungen sein. Dadurch musste die DDR Industriezweige mit hohen Investitionskosten aufbauen. Unter normalen
Bedingungen hätte sich die DDR auf dem Weltmarkt bedienen können.
Wie wurden die deutsch-deutschen
Wirtschaftsbeziehungen in der Partei- und Staatsführung bewertet? Gab es auch Kontroversen?
Jetzt schneiden Sie ein ganz heißes Thema an. Es gab
in der Partei- und Staatsführung zwei Strömungen. Die kann man auch mit Namen benennen. Die erste Strömung vertrat eine feste Bindung an die Sowjetunion, aus der wir sowohl politisch als auch
ökonomisch auch nicht herauskommen konnten, denn der Haupthandel lief ja trotz allem nicht mit der BRD, sondern mit der Sowjetunion.
Die andere Strömung, angeführt von Günter Mittag, vertrat die
Position, dass die DDR als entwickeltes Industrieland nicht weit kommen würde mit Beziehungen nur zur Sowjetunion. Diese These würde ich nicht bestreiten. Sie haben dann mit Schalck-Golodkowski nicht
nur eine eigene Wirtschaftspolitik betrieben, sondern ein eigenes Wirtschaftsunternehmen aufgebaut. Das war der Bereich "KoKo", also Kommerzielle Koordinierung, mit dem einzigen Auftrag, auf dem
freien Markt Devisen zu erwirtschaften. So weit, so gut. Aber dieses Imperium hatte sich dann so weit aufgebläht, sowohl was die ökonomische Macht (zum Schluss kontrollierte die KoKo etwa 40 Prozent
des Handels mit dem kapitalistischen Ausland), als auch was die persönliche Machtfülle angeht, denn dieses Imperium war nicht kontrollierbar. Es sollte auch nicht kontrolliert werden. Keine
Finanzrevision, niemand hatte dort Zugang.
Dadurch entwickelte sich, was in der kritischen Phase – 1988/1989 – nicht das gemacht hat, was gemacht werden sollte, denn das Ziel bestand darin, durch die Devisenerwirtschaftung
Devisen zu haben, die eingesetzt werden sollten. Devisenbestände gab es genug, in Milliardenhöhe. Sie wurden aber nicht eingesetzt.
Heute kann man nachträglich viel philosophieren, warum, weshalb, wieso. Ich habe vier Jahre unter Günter Mittag gearbeitet und den Mann etwas kennengelernt. Aus heutiger Sicht,
auch unter Berücksichtigung von Dokumenten etwa aus dem Staatsarchiv, muss man formulieren, dass er ein Doppelspiel getrieben an. Nach der Wende gab er in einem Interview zu, dass er schon immer
wusste, Planwirtschaft sei Mist und Marktwirtschaft das bessere. Wenn das ein Mann macht, der zu DDR-Zeiten offiziell alle ihm Untergebenen nur auf Planwirtschaft getrimmt hat, aber innerlich der
Meinung ist, eigentlich muss man es anders machen, und dazu noch ein Parallelimperium aufgebaut hat, dass es anders gemacht hat – dann ist das die Antwort auf die Frage, was war denn in der Führung
eigentlich los.
Honecker hörte wirtschaftlich nur auf Mittag.
Schalck-Golodkowski unterstand Günter Mittag, obwohl Mittag das bestritt. Das ist aber dokumentarisch belegt. Hier entwickelte sich also eine Doppelwirtschaft, die nicht nur unschön, sondern insofern
auch ökonomisch gefährlich war, als das Spiel dann so weit getrieben wurde, dass das Imperium Schalck-Golodkowski die eigene Staatswirtschaft der DDR ausplünderte. Sie haben dann nicht nur Waren aus
der Wirtschaft rausgezogen, sondern auch Devisenbestände und Kredite ausgereicht, die doppelt so hoch wie auf dem Weltmarkt verzinst waren. Das Imperium Schalck-Golodkowski zog also einen Großteil
der Devisen und anderer Gewinne aus der DDR-Wirtschaft. Das ist alles belegt.
Der
Westhandel, also der Handel mit den kapitalistischen Staaten, auch andere als die BRD, war also keine einheitliche politische Linie der DDR-Führung. Erich Honecker war ansprechbar darauf, weil ihm
das Türen zu politischen Repräsentanten in den kapitalistischen Staaten öffnete. Aber es gab auch warnende Stimmen, sogar solche, die sagten, dass das Verrat war. So weit würde ich nicht gehen, aber
wenn ein Land in zwei Richtungen marschieren will, dann kann das nicht gutgehen.
Man kann die kriminelle Energie, die die Treuhand an sich zog, kaum überschätzen. Mit dem Ende der DDR wurde ihr gesamtes
Volksvermögen verramscht – die Treuhand half mit, wo sie konnte.
Am 1. März 1990 beschloss der Ministerrat der DDR die Gründung der „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“. Die
Modrow-Regierung war am 13. November 1989 gebildet worden und noch bis zum 12. April im Amt. Aufgabe des neu gegründeten Unternehmens sollte die Entflechtung der Kombinate sein, die Bildung von
Kapitalgesellschaften, die Verhinderung der Verschleuderung der Vermögen und die Erhaltung möglichst vieler Arbeitsplätze. Am 1. Juli 1990 waren der Treuhand etwa 8500 Betriebe unterstellt mit mehr
als vier Millionen Arbeitern und Angestellten. Dazu kamen 2,4 Millionen Hektar Land, das Vermögen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit, Liegenschaften der Nationalen Volksarmee und andere
Immobilien
Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 kamen auch die Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der Ex-DDR unter Treuhand-Aufsicht. Die Treuhand war für kurze
Zeit das größte Kombinat, das die DDR je hatte. Das Wirtschaftssystem, das sie auflösen sollte, lebte in der zentralistischen Lenkungsstruktur der Treuhand fort.Nach der Wiedervereinigung wurde an den offiziellen Zielen der Treuhand nichts geändert. Es ging weiter darum, die Betriebe möglichst teuer zu verkaufen
und Arbeitsplätze zu erhalten. In der Praxis aber kam es dank der Maxime „schnell privatisieren“ zu einer Schnäppchenjagd, bei der eine ganze Generation von Raubrittern, flankiert von Anwälten und
„Beratern“, sich bereicherte.
Dass die Treuhand in zahllosen Fällen weder die Bonität der Käufer noch die Einhaltung der Verträge überwachte, ist aktenkundig. Es gibt
allerdings – soweit ich sehe – bis heute keine Studie, die sich den aus der Vereinigungskriminalität von Tausenden oder Zehntausenden und den persönlichen Anstrengungen von Millionen entstandenen
neuen Mittelstand der ehemaligen DDR angesehen hat. Wir waren dabei, wie eine neue Gesellschaft entstand. Wir wissen aber viel zu wenig darüber, wie das geschah.
Das von der Treuhand verwaltete Volksvermögen bezifferte der damalige Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder auf etwa 600 Milliarden DM. Die
Einnahmen der Treuhand beliefen sich bis Ende 1994 auf 60 Milliarden DM. Die Ausgaben dieses Kombinats zur Abschaffung der Kombinate lagen bei 300 Milliarden DM. Die Treuhand war so gerechnet eine
gewaltige Fehlinvestition.
Verfehlte Ziele
Das andere Unternehmensziel – die Verhinderung oder doch wenigstens Minimierung der Arbeitslosigkeit – wurde ebenso verfehlt. Es gibt zwar
keine überprüfbaren Zahlen. Das liegt aber nicht zuletzt daran, dass weder die Treuhand noch sonst jemand systematisch überprüfte, was von den Beschäftigungsversprechen der Käufer nach einem Monat,
nach zwei Monaten oder gar Jahren übrig blieb. 1992 jedenfalls gab es auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine Arbeitslosigkeit von 14,2 Prozent. Die Proteste blieben nicht aus – waren aber meist
wirkungslos. So auch die spektakuläre Betriebsbesetzung der Kali-Arbeiter im thüringischen Bischofferode im Sommer 1993.
Am Ende ihrer Arbeit am 31. Dezember 1994 hatte die Treuhand das von ihr verwaltete Vermögen zu etwa fünf Prozent über Management Buy Out
oder Genossenschaften an ehemalige Bürger der DDR verkauft, zu zehn Prozent an internationale Investoren und zu 85 Prozent an Westdeutsche. Eine Eigentumsübertragung wie man sie selten in der
Weltgeschichte findet. Man kann sich nur wundern darüber, dass das Gefühl, von einer Besatzungsmacht ausgenommen worden zu sein, nicht weiter verbreitet war. Auch das ist Verdienst der Treuhand. In
der öffentlichen Debatte verkörperte sie den Ausverkauf der DDR. Alle Augen starrten auf sie. Über sie wurden dutzendweise Bücher geschrieben sowie wütende Dokumentarfilme, hinreißende Satiren
gedreht. Die Treuhand war der Beelzebub, auf den eingedroschen wurde. Sie war das Hassobjekt, die Zielscheibe. Am 1. April 1991 wurde Detlev Karsten Rohwedder, der dritte Chef der Treuhand,
ermordet.
Kurz zuvor hatte Rohwedder erklärt, die Anstalt müsse einen Kurswechsel vornehmen. Man dürfe nicht alles privatisieren, sondern mehr in
Formen des Gemeineigentums überführen. Rohwedder hatte auch im März 1991 vor Betriebsräten erklärt: „Die Treuhand-Anstalt ist hilflos gegenüber diesem Tornado an Kritik und der Vielzahl von
Vorwürfen, die überwiegend berechtigt waren.“ Berechtigt!
Heerschar von Glücksrittern
Man kann die kriminelle Energie, die die Treuhand an sich zog, kaum überschätzen. Innerhalb von vier Jahren wurde ein ganzer, freilich
weitgehend marode gewordener Industriestaat abgewickelt. Das musste eine Heerschar von Glücksrittern anlocken.
Das führte bei den Mitarbeitern der Behörde selbst aber auch zu einem rapiden Abbau des kaufmännischen Verstandes. Der erste westdeutsche
Chef der Treuhand, Reiner Maria Gohlke, erkannte das sofort. Er hatte seinen Dienst am 16. Juli 1990 angetreten. Am 20. August trat er zurück. Seine später vorgetragene Begründung sagt alles über die
Arbeitsweise – sagen wir ruhig: die Arbeitsmoral – der Treuhand: „Ich wollte nicht jede halbe Stunde irgendeine Milliarde unterschreiben und dann zum nächsten Tagesordnungspunkt
übergehen.“
Man kann sich nicht ernsthaft hinstellen und die Treuhand preisen. Man kann sie aber auch nicht einfach schmähen. Was wäre die Alternative
gewesen? Sich Zeit nehmen? Das entscheidende Wort dazu sprach Helmut Kohl. Es lautete 1 Mark der DDR ist 1 DM. Von da an war klar: Die Vereinigung wird teuer. Hätte man die Ex-DDR in eine
Wirtschaftszone verwandelt zum Beispiel mit DDR-Löhnen – vielleicht hätte es beim Übergang weniger Arbeitslose gegeben. Aber Deutschland wäre ganz sicher kein einig Vaterland geworden. Das Gefühl der
Erniedrigung wäre noch stärker gewesen, die Abwanderung größer.
Viele Verbrechen der Treuhand waren eine Konsequenz ihrer Konstruktion, ihrer Aufgabenstellung – und Teil ihres Auftrages. Es wäre gut,
einmal einen Blick auf die anderen Volksrepubliken zu werfen und auf die Verfahren, mittels derer sie herausfanden aus der Kommandowirtschaft. Oder auch nicht herausfanden. So gesehen haben wir
wieder mal Glück gehabt.
Die Wiedervereinigung bescherte der bundesrepublikanischen Wirtschaft einen Boom, der sie hinwegtäuschte über die Herausforderungen der
Globalisierung. Das war ein Nachteil, aber zumindest die Geschäftsbücher wurden noch einmal gefüllt. Diese Polster halfen über die ersten Schwierigkeiten hinweg. Das gilt nicht nur für „die
Wirtschaft“. Die Prosperität – während die Welt ringsum sich von Problemen bedroht sah – gab den Bundesbürgern ein Selbstvertrauen, das ihnen half, die sozialen Einschnitte der Agenda 2010 zu
verdauen.
Eine aktuelle Beurteilung der
Treuhandanstalt durch das Finanzministerium ist empörend. Sie wirft zudem ein Licht auf die noch immer offene Wunde der DDR-Abwicklung und den Skandal der verweigerten Aufarbeitung. Von
Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als
Audio-Podcast verfügbar.
Das Wirken der Treuhandanstalt gegen die ostdeutsche Volkswirtschaft nach 1989 ist eine noch immer offene gesellschaftliche Wunde. Dass die damaligen Massenentlassungen und andere
Demütigungen bis in die Gegenwart hineinwirken, lässt sich nicht ignorieren. Die politisch-wirtschaftlichen Verletzungen wurden zusätzlich verschlimmert durch eine die Ostdeutschen herabsetzende
Medien-Propaganda, die den Kahlschlag nach der Wende begleitet hatte und diesen bis in die Gegenwart in Schutz nimmt.
Kalt und verzerrt: Die aktuelle Sicht des Finanzministeriums auf die
Wendejahre
Doch nicht nur Redakteure und profitierende Firmenlenker haben sich damals schuldig gemacht und weigern sich bis heute, die
Verantwortung für von ihnen veranlasste Massenentlassungen bzw. Meinungsmache anzuerkennen. Auch die Politik hat jahrzehntelang fatale Weichen gestellt und falsche Signale gesendet. Alle Genannten
haben gemein, dass sie die heutigen gesellschaftlichen Spaltungen nicht mit der von ihnen geprägten Geschichte seit 1989 in Verbindung bringen wollen. Ganz aktuell empört das Finanzministerium
in einem Dokument mit seiner verzerrten und kalten Sicht
auf die ökonomischen und menschlichen Verwerfungen der Nachwende-Jahre.
Anlass der Äußerungen ist eine Anfrage der Linkspartei. In der Antwort auf die Frage, ob die Bundesregierung rückblickend „den Auftrag
und die Ausrichtung der Arbeit der Treuhandanstalt als einen politischen Fehler der Nachwendezeit“ einordne, wird die angemessene Kritik am rabiaten Privatisierungsvorgehen nach 1989
verweigert.
Weißwaschung: Aus dramatischen Umwälzungen werden „geregelte
Privatisierungsprozesse“
Im Gegenteil wird in dem Papier die dramatische Umwälzung zum „geregelten Privatisierungsprozess“ schöngeredet, mit dem „die
Unternehmen möglichst schnell mit dem erforderlichen Kapital und marktwirtschaftlichem Know-how ausgestattet werden“ sollten, „um ihre Wettbewerbsfähigkeit und somit ihren Fortbestand und den Erhalt
bzw. die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu sichern“. Dieses fortgesetzte Verschanzen hinter lange als Propaganda überführten Floskeln muss von den Menschen, denen die damals „gesicherten“
Arbeitsplätze weggenommen wurden, als weitere Ohrfeige empfunden werden.
Auf die von der Schocktherapie der Treuhand Betroffenen geht das Ministerium in der ganzen Antwort mit zwei dürren Sätzen
ein:
„Nicht wettbewerbsfähige Unternehmen oder Teile davon mussten jedoch auch geschlossen werden. Das bedeutete für viele Beschäftigte den
Verlust des Arbeitsplatzes, die damit von einer besonderen Härte des Transformationsprozesses betroffen waren.“
Unbequeme Daten: „Statistisch nicht erfasst“
Als Reaktion auf die Frage der Linksfraktion, „wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ostdeutscher Betriebe, an deren
Umgestaltung die Treuhandanstalt, deren Tochtergesellschaften und Nachfolgeorganisationen beteiligt waren, nach Kenntnis der Bundesregierung in den Jahren nach 1989 ihren Arbeitsplatz verloren“
hätten, spielt das Ministerium in inakzeptabler Weise den Ahnungslosen. So könne man gar nicht beziffern, wie viele der etwa vier Millionen in Treuhandunternehmen Beschäftigten während des
„Transformationsprozesses“ nach der Wende ihren Arbeitsplatz verloren hätten. Das sei „statistisch nicht erfasst“ – ein unglaublicher, aber für die damals Verantwortlichen komfortabler
Tatbestand.
Den Rest des Schriftstücks kann man als mutmaßliche Nebelkerzen, Behauptungen und unangebrachte Rechtfertigungen einordnen. So seien
bei den Privatisierungen auch Arbeitsplätze „erhalten und neue Jobs geschaffen“ worden, so das Ministerium. Bei Beendigung der Tätigkeit der Treuhand Ende 1994 seien bei den Privatisierungen
insgesamt 1,5 Millionen Jobs vertraglich zugesagt worden. Diese Zusagen seien nach dem Ergebnis der im Rahmen des Vertragsmanagements erfolgten Überprüfung insgesamt eingehalten
worden.
„Schlag ins Gesicht vieler Ostdeutscher“
Der Ko-Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, charakterisiert diese Mischung aus Weißwaschung der
Verantwortlichen einerseits und Bagatellisierung der zahlreichen Schicksalsschläge andererseits treffend als einen „Schlag ins Gesicht vieler Ostdeutscher“:
“Die Ostdeutschen haben ein Recht darauf, dass politisches Versagen der Nachwendezeit aufgearbeitet wird. Bis heute leidet die
ostdeutsche Wirtschaft unter dem Treuhand-Kahlschlag. Ausverkauf und tausendfaches Plattmachen ostdeutscher Betriebe waren nicht alternativlos.“
Der dpa sagte Bartsch, der Verlust von mindestens 2,5 Millionen Jobs werde als Baustein einer guten Entwicklung verkauft – dies sei
unfassbar. Dazu kommt, dass das SPD-geführte Finanzministerium mit seiner Stellungnahme auch vielen ostdeutschen Sozialdemokraten in den Rücken fällt, die die überfällige Aufarbeitung des
Treuhand-Desasters ebenfalls einfordern.
Treuhand-Mythen zum Jahrestag
Das aktuell leicht auffrischende Interesse an der Treuhand hat ihren Ursprung auch im kürzlichen Jahrestag: Am 1. März 1990 hatte die
Anstalt öffentlichen Rechts ihren verhängnisvollen Dienst aufgenommen. Aus diesem Anlass waren Anfang des Monats noch einmal einige der bekannten Mythen und Rechtfertigungen zu
lesen.
Den Aufschlag machte der frühere Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Rolf Schwanitz, der in der „FAZ“ verkünden durfte, dass „die
Treuhand nicht schuld“ und die „DDR nicht überlebensfähig“ waren. Diese Vorlage griffen wohlwollend etwa dpa oder „ntv“ auf. Auffallend war aber eher der Mantel des medialen
Schweigens, der versucht wurde über das Datum zu legen.
Die aktuelle Antwort des Finanzministeriums mag eine Randnotiz sein. Aber sie symbolisiert vieles von dem, was seit 1989 (bewusst)
falsch gemacht wurde. Zwar können viele der mutmaßlichen Verbrechen der Wendejahre interessierten Zeitgenossen heute bekannt sein. Auch die Praxis der kalten Leugnung dieser medial gedeckten Vergehen
durch Redakteure und Poltiker ist bekannt. Es macht aber dennoch einen Unterschied, die Haltung des Ministeriums in einer so entlarvenden Form Schwarz auf Weiß zu lesen.
Aus den Worten des Finanzministeriums spricht die Verweigerung jedes Lernprozesses, jeder kritischen Analyse der Wendejahre und das
fortgesetzte Distanzieren von mitverursachten sozialen Katastrophen, für die Redakteure, Politiker und Konzernchefs 1989 die Weichen stellten.
Wendejahre – Analysen der NachDenkSeiten
Die NachDenkSeiten haben sich in zahlreichen Artikeln mit den Verwerfungen der Wendejahre und der sie kaschierenden Propaganda
beschäftigt.
So hat Albrecht Müller in diesem Artikel den
„Beutezug Ost – Die Treuhand und die Abwicklung der DDR“ analysiert. In diesem Text wurde zum 25. Jahrestag
des Mauerfalls beschrieben, „wie brutal nach der Wiedervereinigung vielen Menschen der ehemaligen DDR die Existenzgrundlage durch Vernichtung der industriellen Basis der nun neuen Bundesländer
entzogen wurde“. In diesem Artikel wird die über Kulturpropaganda lancierte DDR-Dämonisierung am Beispiel des
Films “Das Leben der Anderen“ beschrieben. In einer Rezension des Buches „Integriert doch erst mal uns!“ der
sächsischen SPD-Politikerin Petra Köpping verdeutlicht die Autorin nochmals die Auswirkungen der nicht aufgearbeiteten Wendejahre auf die Gegenwart:
„Von manchen wird der wirtschaftliche Zusammenbruch 1990 als normale ‚schöpferische Zerstörung’ beschrieben, wie sie nun einmal im
Kapitalismus stattfindet. Doch diese allein auf ökonomischen und manchmal auch ökologischen Argumenten erfolgte Zuschreibung macht Millionen von Beschäftigten zu bloßen Kollateralschäden. Doch gerade
weil die Arbeitsstelle in der DDR einen enormen Stellenwert hatte, resultieren aus der Ignoranz gegenüber dem Schicksal vieler Ostdeutscher nachhaltige Kränkungs- und Demütigungsgefühle. Und selbst
bei jenen, die sich letztlich wirtschaftlich erfolgreich durchgekämpft haben, steckt weiterhin dieser Stachel im Fleisch.“
Bei einer von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie über die Zahl der Opfer des DDR-Grenzregimes
werden auch Todesfälle mitgezählt, die mit der ehemaligen Grenze nichts zu tun hatten. Wieder einmal geht es vor allem darum, die DDR zu diskreditieren.
Eine Studie der Bundesregierung rechnet die Zahl der Opfer des DDR-Grenzregimes künstlich hoch. Wie Recherchen des rbb ergeben, werden in der Studie auch Todesfälle mitgezählt, die mit dem Grenzregime wenig oder gar nichts zu tun
hatten.
Die 650.000 Euro teure Studie wurde 2012 vom
damaligen Kulturstaatssekretär Bernd Neumann in Auftrag gegeben und 2017 von seiner Nachfolgerin Monika Grütters, gemeinsam mit den Autoren Klaus Schroeder und Jochen Staadt, vorgestellt. Schroeder
und Staadt vom "Forschungsverbund SED-Staat" der Freien Universität Berlin waren gemeinsam mit dem früheren Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, über Jahre hinweg die bei den
Medien des Mainstream beliebtesten "Erklärer" der DDR.
Gemeinsam sorgten sie dafür, dass die Erinnerung an "das Unrecht" des anderen deutschen Staates wachgehalten
und positive Sichtweisen oder selbst nur eine differenzierte Betrachtung der DDR-Vergangenheit in der Öffentlichkeit keinen Platz bekamen.
Der Wunsch, das Bild der DDR so grauschwarz wie nur möglich zu zeichnen, scheint auch hinter den
Übertreibungen dieser Studie zu stehen. Die tatsächliche Zahl der bei einem nach DDR-Gesetzen illegalen Grenzübertritt dürfte den Autoren zu niedrig erschienen sein. Nach ihren "Berechnungen" gab es
von 1949 bis 1989 327 Opfer des Grenzregimes der DDR an der Grenze gen Westen, zur BRD.
Die rbb-Recherchen zeigen nun, dass dabei auch höchst zweifelhafte Fälle mitgezählt wurden: Dazu
gehören Selbstmorde von Grenzsoldaten. Nach Ansicht der Autoren seien diese "an den Anforderungen des Dienstes zerbrochen" und damit Opfer des Grenzregimes. Angehörige beharren dagegen darauf, dass
sie sich wegen privater Probleme das Leben genommen hätten.
Ein anderer Fall betrifft einen ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS,
der nach 1949 in der DDR-Grenzpolizei diente. Er wurde 1951 verhaftet und 1952 in Moskau hingerichtet. Nach Ansicht der Autoren sei er wegen einer geplanten Flucht verhaftet und verurteilt worden,
tatsächlich wollte er fliehen, vermutlich vor der ihm drohenden Verurteilung wegen mitbegangener Kriegsverbrechen.
Die Autoren verteidigen ihre Zählung: Sie hätten weder verharmlost
noch manipuliert. Angehörige der als Opfer kategorisierten Grenzsoldaten sind dagegen entsetzt, ebenso Opferverbände, die der Studie in Teilen die Wissenschaftlichkeit absprechen.
Kulturstaatsministerin Grütters hat angekündigt, die zweifelhaften Fälle überprüfen zu lassen.
Die DDR ist als Beispiel für angeblich bösartiges, ungesetzliches
oder unmoralisches staatliches Handeln im heutigen deutschen Mainstream nach wie vor höchst beliebt. Das gilt nicht nur für das Grenzregime, sondern natürlich auch für viele andere Lebensbereiche. So
wurde Anfang dieser Woche bei einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Überwachungsstaat kaum über neue deutsche Polizeiaufgabengesetze, die Schnüffelei der NSA oder die Software von
Palantir Technologies diskutiert, sondern vielmehr - über die Stasi.
Die anhaltende Dämonisierung der bald 30 Jahre zurückliegenden
DDR-Geschichte dient vermutlich dazu, positiven Sichtweisen auf diese Epoche deutscher Geschichte vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Probleme in Deutschland entgegenzuwirken und die gegenwärtigen
Verhältnisse zu legitimieren.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung nahm sich am 5. November das Thema "Überwachungsstaat?! - Observation und
Kontrolle in Geschichte und Gegenwart" vor. In drei Panels wurde über Ausspähung der Bürger in einer Diktatur und in der Demokratie diskutiert. Aktuelles kam zu kurz.
Die Stasi in der DDR schwebte wie eine dunkle Wolke
über die Gesamtdauer der Veranstaltung hinweg und wurde als eine Art Vorzeige-Beispiel für verbrecherische Überwachung eines Staates immer wieder angeprangert. Bereits der Veranstaltungsort gab die
Richtung der Kritik an - die Stasi-Zentrale in der Ruschestraße. Soweit so nachvollziehbar.
Doch mit dem Ende der Stasi und der DDR hat die
Überwachung durch Staatsstrukturen unterschiedlicher Länder keineswegs aufgehört. Im Gegenteil. Es gäbe genügend aktuellen Stoff für Kritik. Wie etwa länderübergreifende Ausspionierung und
massenhafte Datenspeicherung durch die NSA, von der noch nicht mal die Bundeskanzlerin selbst verschont geblieben ist. Auch das für zunehmenden Unmut in der deutschen Bevölkerung verantwortliche
Polizeiaufgabengesetz und seine "drohende Gefahr"-Regelung.
Da wäre auch noch der Staatstrojaner, der bereits heute bei den
Ermittlungen in Deutschland zum Einsatz kommt. Doch das alles erwies sich als irrelevant für die Veranstaltung. Auch bei dem Thema der politischen Verfolgung von Systemkritikern vergaß man Namen wie
Edward Snowden, Julian Assange oder Chelsea Manning.
Hans Bauer, ehemaliger stellvertretende Generalstaatsanwalt der DDR, sprach im Interview mit RT Deutsch über
Verfassungsrecht. Im ersten Teil liefert er eine kritische Einschätzung zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und des Rechtsstaats.
Hans Bauer war ab dem Jahr 1966 als
Staatsanwalt in der Deutschen Demokratischen Republik tätig. Er diente auf den verschiedenen Ebenen der staatlichen Strukturen der DDR. Im Umbruchsjahr 1989 wurde er zum stellvertretenden
Generalstaatsanwalt ernannt. Während seiner Dienstzeit als Staatsanwalt war er ein Jahr im Außenministerium abgeordnet. Dort arbeitete er an Menschenrechtsfragen. Später, in den 1980er Jahren, wirkte
er über mehrere Jahre als Berater in der Volksdemokratischen Republik Jemen. Dort half er, die südjemenitische Staatsanwaltschaft aufzubauen.
Sein Spezialgebiet ist die
Kriminalitätsforschung, insbesondere die Kriminalitätsvorbeugung. Im Frühling des Jahres 1991 wurde er dann arbeitslos. Nach der Übernahme des DDR-Gebiets durch die BRD erhielt er im Jahr 1992 die
Zulassung zur Rechtsanwaltschaft und ist seitdem als Anwalt tätig. Im Jahr 1993 wirkte er führend bei der Gründung der Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung mit, die sich um
Solidarität mit den nach 1990 von der westdeutschen Justiz verfolgten DDR-Vertretern bemüht, und ist seit 2005 deren Vorsitzender.
Das Gespräch führte Hasan
Posdnjakow.
Unter welchen Bedingungen ist das
Grundgesetz entstanden? Hat das Volk bei der Erarbeitung dieser Verfassung eine Rolle gespielt?
Das Volk hat eigentlich gar keine Rolle gespielt. Das Grundgesetz war
praktisch ein Auftrag von den drei Westalliierten, die auch Vorgaben machten. Dann wurde ein Rat eingesetzt, der einen Entwurf erarbeitete. Es gab Expertenkommissionen zu den einzelnen Artikeln.
Nachdem der Gesamtentwurf vorlag, stimmte der Parlamentarische Rat darüber ab. Das Alles dauerte zirka ein Dreivierteljahr. Bei der Abstimmung gab es nicht nur die zwei Gegenstimmen der Kommunisten,
aus unterschiedlichen Gründen. Danach wurde der Entwurf in die Länderparlamente delegiert und dort abgestimmt. Aber es erfolgte keine Diskussion im Volk, etwa zu den Fragen, was in das Grundgesetz
aufgenommen wird, womit
man sich auseinandersetzen muss, was positive und
negative Aspekte sind. Das Grundgesetzt wurde im Prinzip nach Vorgabe der drei Westalliierten in einem kleinen Expertenkreis ausgearbeitet und von den Ländern abgestimmt.
Dazu muss man sagen, dass es ja nur eine provisorische
Verfassung war. Deswegen nannte man sie auch Grundgesetz. Das geschah auch vor dem Hintergrund, dass man die Einheit Deutschlands anstrebte. Die Verfassung der DDR, die im Oktober 1949 angenommen
wurde, war auch provisorisch, auch unter dem Gesichtspunkt der Einheit Deutschlands. Insoweit hatten beide Verfassungen den Hintergedanken, die Einheit Deutschlands
herzustellen.
Der entscheidende Unterschied war, dass im Grundgesetz
die Einheit Deutschlands unter dem Gesichtspunkt gefasst wurde, auch noch die "Ostgebiete" zu bekommen, also Deutschland in den Grenzen von 1937 und insbesondere die Sowjetische Besatzungszone. Daher
wollte man noch nichts Endgültiges schaffen.
Die Verfassung der DDR, die ja auch die Einheit
Deutschlands vorsah, sollte in ganz Deutschland diskutiert werden. Wie bekannt ist, wurden mehrere Vorschläge unterbreitet, wie eine Diskussion zur Einheit Deutschlands in ganz Deutschland in Gang
gebracht werden könnte. Der letzte Vorschlag war Stalins berühmte Note im Jahr 1952. Diese vorgesehene Diskussion im ganzen Volk war für das Grundgesetz gar nicht angedacht. Zumindest zu dieser Zeit
hatte ja der Bundeskanzler der BRD, Konrad Adenauer, den Gedanken, dass man den Osten militärisch "befreien" könnte. Insofern gab es völlig unterschiedliche Voraussetzungen unter dem Gesichtspunkt
der Einheit Deutschlands.
Das Grundgesetz der BRD ist nicht nur nicht mit der
Bevölkerung zustande gekommen und von den Westmächten oktroyiert worden, sondern ist genau genommen auch gegen das Potsdamer Abkommen zustande gekommen und daher völkerrechtlich bedenklich. Im
Potsdamer Abkommen wurde festgelegt für ganz Deutschland: Entwicklung der Demokratie, Antifaschismus (vor allem Antinazismus),
Enteignungen der Großkonzerne, die am Krieg verdient hatten
und so weiter. Das alles findet sich im Grundgesetz nicht wieder. Schon darin zeigt sich, dass dieses Grundgesetz nicht antifaschistisch-demokratisch zustande kam, aber auch nicht in Übereinstimmung
mit dem geltenden Völkerrecht.
Wie positionierte sich die KPD zu dem
Entwurf des Grundgesetzes?
Dazu gibt es eine ganze Menge Literatur. Bekannt ist insbesondere, dass die KPD grundsätzlich gegen das Grundgesetz war. Die zwei KPD-Vertreter im Parlamentarischen Rat haben das
Grundgesetz auch in den Gremien nicht befördert. Max Reimann (KPD-Vorsitzender) hat viele der Sitzungen dann gar nicht mehr besucht. Andererseits war die KPD nur mit zwei Vertretern dort anwesend.
Während der Ausarbeitung wurde Reimann auch kurzzeitig inhaftiert. Nach der Abstimmung des Grundgesetzes erklärte Reimann dann, dass die KPD zwar dem Grundgesetz nicht zugestimmt habe, aber die Erste
sein werde, die es verteidigen müsse. Das, was in den ersten Jahren nach Annahme des Grundgesetzes geschah, verstieß schon gegen das Grundgesetz, wenn man es genau nimmt. Und heute erst recht.
Die
Bedenken der KPD gegen das Grundgesetz bestanden hauptsächlich darin, dass es nicht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und undemokratisch war sowie auf die Spaltung Deutschlands hinauslief. Im
Prinzip hat sich diese Einschätzung bestätigt, vor allem, was die Verteidigung des Grundgesetzes angeht.
Wie ist das Grundgesetz anhand der
Kriterien eines Rechtsstaates zu bewerten?
Was ist ein Rechtsstaat? Das klingt erst einmal
gut und ist in aller Munde. Es gibt keine wissenschaftliche Definition dazu, zum Unrechtsstaat schon gar nicht. Aber das Grundgesetz formuliert etwas, was in
deutschen Verfassungen schon seit Jahrzehnten stand: allgemein Menschliches. Von "die Würde des Menschen ist unantastbar" bis hin zu allgemeinen Regelungen, die die grundlegenden
Bürger- und Menschenrechte betreffen. Das ist in etwa wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Solch eine Erklärung war zu dieser Zeit ein gewaltiger Fortschritt. Schon damals
stimmten aber die Sowjetunion und andere der Erklärung nicht zu, aber nicht, weil sie dagegen waren, sondern ganz einfach deshalb, weil es sehr allgemein gehalten und nicht greifbar war sowie auch zu
wenig das Selbstbestimmungsrecht der Völker beinhaltete.
Das, was im Grundgesetz an grundlegenden Menschen- und
Bürgerrechten steht, ist im Wesentlichen so allgemein gehalten, dass es nicht greifbar ist und man alles damit machen kann. Das wird dann als Rechtsstaat bezeichnet, aber der wichtigste Aspekt eines
Rechtsstaats ist, dass die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse rechtlich geregelt sind. Alles was geschieht, muss irgendwo in einer Norm, in einem Gesetz enthalten sein. Es muss alles rechtlich
exakt geregelt sein, wie sich der Mensch wann, wo und wie verhalten soll oder nicht verhalten soll. Und er soll sich (auch gegen den Staat) wehren können, wenn er meint, dass seine Rechte verletzt
wurden. Eigentlich ist das als Rechtsstaat zu verstehen.
Es bedeutet aber noch nicht, dass das, was in
den Gesetzen enthalten ist, besonders menschen- oder bürgerfreundlich ist, oder dass man aus dem, was im Recht, in den Normen des Grundgesetzes steht, Ansprüche geltend machen kann. Arbeit zum
Beispiel. Jeder muss arbeiten, um zu existieren. Das ist sehr wichtig, jedoch steht dazu überhaupt nichts. So auch die sozialen Rechte. Insofern fehlen ganz entscheidende Punkte im Grundgesetz, wenn
man schon vom Rechtsstaat spricht, wenn man vom Inhalt den Rechtsstaat verstehen will. Da kann auch der bürgerliche Rechtsstaat ein Staat sein,
der kein Recht oder gar Unrecht bietet. Das ist nicht formuliert. Das steht ja nicht drin, dass man keine Arbeit bekommt. So gesehen ist der Begriff Rechtsstaat schon problematisch. Die Diskussion
muss also tiefer gehen. Was die DDR angeht: Wir wollten kein bürgerlicher Rechtsstaat werden. Wenn, dann ein sozialistisRechtsstaat, in dem Inhalt mit Form übereinstimmt.
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Deutschland
"Ich war gern DDR-Bürger!" – DDR-Popstar Tino Eisbrenner im
Gespräch
3.10.2019 • 18:02 Uhr
Für Tino Eisbrenner war die DDR Ort und Zeit seines Karriereaufschwungs. Mit seiner Band Jessica tourte er
durch fast alle Ostblockstaaten und sagt heute, dass die Wende für ihn den Verlust seiner Heimat bedeutete.
Margarita Bityutski hat sich mit ihm darüber unterhalten, wie es mit der
Angst vor den Herrschenden und der Redefreiheit in der DDR aussah, warum er heute mit Kunst Brücken nach Russland baut und was Menschsein für ihn bedeutet.
Internationale Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien. Im
Vordergrund: Erich Honecker (r.) und Walter Ulbricht (M.)
Trotz ihrer geringen Bevölkerungszahl zeigte die Deutsche Demokratische Republik eine beachtliche Aktivität
hinsichtlich ihrer Außenpolitik. Wir sprachen mit dem Historiker und Politologen Prof. Anton Latzo, der selbst in der DDR lehrte, über die DDR-Außenpolitik.
Spätestens mit der Schließung der
Grenze in Berlin im Jahre 1961 war die vornehmlich von der Westseite betriebene Spaltung Deutschlands zementiert. Wie wirkte sich das auf die Außenpolitik der DDR
aus?
Angesichts eines bevorstehenden Jahrestages des 13.
August 1961 mit allen zu erwartenden Argumenten zur einseitigen Delegitimierung der DDR und ihrer Politik möchte ich einige Aspekte in Erinnerung rufen, die den Hintergrund für die Maßnahmen der DDR
bildeten. Eines der neuralgischsten Probleme der Nachkriegsperiode, das auch die Möglichkeit offen einschloss, den Status quo in Europa zu verändern, war die Nichtanerkennung des völkerrechtlichen
Charakters der Grenzen zwischen beiden deutschen Staaten.
Die offene Grenze zu Westberlin und zur BRD war zu
einer akuten Gefahr für die DDR geworden. Sie stellte zugleich die gesamte europäische Nachkriegsordnung in Frage.
Die DDR war jahrelang mit massiven, auf ihre
Beseitigung gerichteten ökonomischen (Stahlembargo) und politischen (Handelsaustausch) Aktivitäten und Störaktionen (massiver Abgang von qualifizierten Arbeitskräften) seitens der BRD konfrontiert.
Hinzu kamen die Anti-DDR-Kampagnen der westdeutschen Medien. Westberlin wurde systematisch zu einem Zentrum der Diversion und Spionage gegen die DDR, die Sowjetunion und die anderen Staaten der
Warschauer Vertragsorganisation ausgebaut. Die DDR war mit einem gefährlichen Abfluss existenzieller ökonomischer und finanzieller Ressourcen sowie intellektuellen Potenzials und mit der Gefährdung
des Friedens in Europa konfrontiert.
Es ging um Existenz und Selbstbehauptung der DDR. Es ging aber auch um die
Stabilität der Entwicklungsbedingungen der anderen sozialistischen Länder und nicht zuletzt um die europäische Ordnung. Es ging um die Frage Krieg oder Frieden!
Während einer zweiwöchigen Reise in die USA (Juli 1961) verlangte Franz Josef Strauß, dass in der
sogenannten Berliner Krise der gesamte Westen einbezogen werden müsse. Er erklärte, dass die BRD ihrerseits entschlossen sei, "diese Krise bis zur letzten Konsequenz zuzuspitzen". Auf einer
Pressekonferenz wies er laut der Deutschen Presse-Agentur am 1. August 1961 darauf hin, "dass der Westen auf eine Art Bürgerkrieg vorbereitet sein
müsse".
Solche Entwicklungen bildeten den Hintergrund für die von der Warschauer Vertragsorganisation sanktionierte Entscheidung der UdSSR und DDR, am 13. August 1961 die Grenze zwischen
beiden deutschen Staaten und vor allem die Grenze zu Westberlin zu schließen. Der "Mauerbau" war für die DDR-Führung ein aus Sorge um den Frieden und die Sicherheit in Europa, um die Stabilität der
DDR und um eine gesicherte Westgrenze der Warschauer Vertragsstaaten geborener Akt. Er lieferte wesentliche Impulse für eine Entwicklung hin zu einer politischen Entspannung in
Europa.
Der
anerkannte westdeutsche Historiker Christoph Kleßmann fasste es so:
Außen- und deutschlandpolitisch erschienen der
Mauerbau und die ohnmächtigen westlichen Reaktionen als ein Höhepunkt des Kalten Krieges. Ex post ist jedoch erkennbar, dass er auch das Scheitern der bisherigen 'Politik der Stärke' und der
konsequenten Isolierung der DDR durch die Hallstein-Doktrin bedeutete und den Beginn einer langfristig angelegten Strategie, die in Berlin mit der 'Politik der kleinen Schritte' begann und die Egon
Bahr mit der berühmten Formel 'Wandel durch Annäherung' umriß. Sie gab das Drehbuch ab für die zehn Jahre später realisierte neue Ost- und Deutschlandpolitik." (Christoph Kleßmann, "Verflechtung und
Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte". Das Parlament, Bd. 29-30 vom 16. Juli 1993,
S.36)
Die Schließung der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin und zur
BRD wurde so zu einem tiefen Einschnitt in der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte. Sie brachte neue Rahmenbedingungen für die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und auch in
der Außenpolitik der DDR generell.
Die
Bemühungen der Adenauer-Regierung, eine internationale Verurteilung der Maßnahmen der DDR zu erreichen, scheiterten. Ihr Vorschlag an die Belgrader Konferenz der Nichtpaktgebundenen zum Beispiel (23.
August 1963), ein Memorandum zu verabschieden, in dem diese Maßnahmen verurteilt werden sollten, fand keine Zustimmung. Ein negatives Resultat brachte auch ihr Versuch ein, die XVIII. Tagung der
UNO-Vollversammlung dazu zu bewegen, die DDR zu verurteilen.
Die
Unantastbarkeit des Status quo musste durch die Regierungen der BRD und ihrer Verbündeten akzeptiert und als Grundlage der Beziehungen zwischen den Staaten sowie der Sicherheit anerkannt werden,
worauf später auch das Helsinki-Dokument aufbauen sollte.
Mit
dem Ringen um ihre Anerkennung als gleichberechtigter Partner im Staatensystem, durch ihren Beitrag zur internationalen Anerkennung der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, des friedenserhaltenden
Status quo in Europa wirkte die DDR als Friedensfaktor. Sie trug dazu bei, unabdingbare Voraussetzungen für politische und militärische Entspannung und Sicherheit in Europa zu schaffen. Ihre
internationale Autorität hatte auf dieser Grundlage bedeutend zugenommen.
Insgesamt entstanden günstigere Bedingungen für die Fortsetzung der Bemühungen der DDR, der UdSSR und der Warschauer Vertragsstaaten, ihre Initiativen um Frieden, Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa fortzusetzen. Die folgenden Jahre haben zu Ergebnissen geführt, die die Behauptung widerlegen, dass die Maßnahmen vom 13. August 1961 die deutsche und europäische Spaltung
zementiert hätten. Sie haben – sogar auch aus westdeutscher Sicht – realistische Perspektiven für ihre Überwindung geschaffen!
Wie wirkte sich der Übergang von
Ulbricht zu Honecker auf die Außenpolitik der DDR aus?
Walter Ulbricht und Erich Honecker waren zweifellos –
wie das auch generell so ist – zwei Persönlichkeiten mit unterschiedlichen individuellen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften. Als Politiker aber haben sie ihre Erkenntnisse aus den gleichen
ideologisch-theoretischen Quellen bezogen. Auch ihre Lebensläufe haben bedeutende Ähnlichkeiten. Sie waren als Politiker von der Zugehörigkeit zur Arbeiterbewegung, von den revolutionären Zielen
dieser Bewegung, vom aktiven Kampf gegen Faschismus und Krieg, von der in den Kämpfen erlebten nationalen und internationalen Solidarität geprägt. Außerdem handelten sie unter inneren Bedingungen,
die sie selbst bewusst mitgestaltet hatten. Ich gehe davon aus und nicht von Überlegungen, die manch einer anstellt, oft auch, um sich selbst interessant zu machen oder um
"anzukommen".
Deshalb stelle ich in den Grundzügen der Außenpolitik
der DDR eine große Kontinuität – auch beim Übergang von Ulbricht zu Honecker – fest. Für beide Persönlichkeiten der DDR und der deutschen Nachkriegsgeschichte hatte der gesellschaftliche Fortschritt
im Sinne der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer Begründer auf dem Weg zum Sozialismus oberste Priorität. Deshalb vertraten sie eine Außenpolitik, die günstige internationale Bedingungen für die
Verwirklichung dieser Ziele schaffen sollte. Frieden, Sicherheit und gleichberechtigte internationale Zusammenarbeit waren in dem Sinne eine Existenz- und
Entwicklungsbedingung.
Sie wollten beide die DDR als souveränen Staat, der
entsprechend seinen gesellschaftlichen Verhältnissen die Außenpolitik als Bestandteil und Instrument zur Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele betrachtet. Hier war auch die "deutsche Frage"
eingeordnet.
Das schließt ein, dass in bestimmten historisch
verschiedenen Situationen auch unterschiedliche Lösungen gefunden werden mussten. Die Diskussion darüber betraf aber nicht das Wesentliche: die Entwicklung und Politik der DDR im Bündnis mit der
Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten zu sichern, einen aktiven und konstruktiven Beitrag der DDR für Frieden zu schaffen und die Beziehungen zwischen den Teilen Deutschlands ebenfalls
unter der Prämisse zu behandeln, den Frieden zu erhalten, zu festigen und zu schaffen.
Die DDR war in den 1970er und 1980er Jahren diplomatisch in Afrika, Asien und Lateinamerika überaus
präsent – mehr, als man es von einem so kleinen Land erwarten würde. Wie ist das zu erklären, und welche Ziele verfolgte die DDR-Diplomatie in diesen Ländern?
Die
Entwicklung der Beziehungen zu den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas war eine wichtige Richtung in der Außen- und Friedenspolitik der DDR. Sie ging davon aus, dass der nationale
Befreiungskampf zu grundlegenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen in den sich befreienden Ländern, im internationalen Kräfteverhältnis und in den Staatenbeziehungen
führt und die Bedingungen für Friedenserhaltung verbessert. Die DDR vertrat den Standpunkt, dass der Kampf dieser Staaten um ökonomische Unabhängigkeit keineswegs ein Kampf um "rein" ökonomische
Fragen ist. Sie unterstützte vor allem jene Länder, die davon ausgingen, dass der Aufbau einer selbständigen nationalen Wirtschaft nur möglich ist, wenn die herangereiften sozialen und politischen
Umgestaltungen durchgeführt werden.
Auf
dieser Grundlage war von Anfang an Solidarität ein Kennzeichen der Politik. Am Anfang, in den 1950er Jahren, galt sie besonders dem koreanischen und vietnamesischen Volk. Es folgte die Solidarität
mit Sansibar und danach Tansania, die Unterstützung des Befreiungskampfes des algerischen Volkes.
Nach der Durchbrechung der diplomatischen Blockade gegen die DDR Ende der 1960er Jahre, die mit der Hallstein-Doktrin der BRD-Regierung die internationale Anerkennung der DDR
verhindern wollte, erreichten auch die Solidaritätsleistungen der DDR eine neue Stufe. Durch den Staat wurden diese Länder vor allem bei der Verwirklichung industrieller Projekte, durch
Kreditgewährung, im kulturellen Austausch usw. unterstützt. Gleichzeitig organisierten gesellschaftliche Organisationen der DDR Solidaritätsaktionen in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen in den
Entwicklungsländern. Und schließlich wurde Solidarität über zentrale Solidaritätsausschüsse und das Solidaritätskomitee der DDR verwirklicht, die aus dem zentralen Solidaritätsfonds der DDR
finanziert wurden, der wiederum durch die Spenden der Massenorganisationen und ihrer Mitglieder gespeist wurde.
Eine der nachhaltigsten solidarischen Leistungen der DDR
erfolgte auf dem Gebiet des Bildungswesens. Das bezog sich z.B. auf die Ausbildung junger Menschen aus diesen Ländern in der DDR, auf die Errichtung von Ausbildungsstätten in den Ländern oder auf die
Entsendung von Pädagogen aus der DDR. Bis 1990 erhielten ca. 200.000 Bürger aus Entwicklungsländern ihre berufliche Aus- und Weiterbildung. Außerdem durchliefen Zehntausende von Vertragsarbeitern aus
Vietnam, Mosambik, Algerien und anderen Ländern eine Ausbildung in der DDR. Über 30.000 junge Menschen haben ein Hochschulstudium in der DDR absolviert. Umfangreiche Lehr- und Lernmittel für die
Bildungssysteme in den Ländern wurden zur Verfügung gestellt. Alphabetisierungskampagnen, auch zusammen mit der UNICEF, wurden gefördert und sogenannte Alphabetisierungs-Sets zur Verfügung
gestellt.
Ein
weiterer Bereich war das Gesundheitswesen. Kranke und Verwundete aus den Ländern wurden in der DDR behandelt. Krankenhäuser und Gesundheitszentren in den Ländern wurden errichtet. Die Ausbildung von
Ärzten und medizinischem Personal nahm einen breiten Raum ein.
Mehrere Zehntausend Experten der DDR waren in diesen Ländern tätig. Eine besonders positive Rolle spielten die Jugendbrigaden der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Insgesamt war die
Solidarität zu einem gesellschaftlichen Anliegen und zu einer gesamtgesellschaftlichen Aktion geworden.
Wie wurde die DDR von den
Entwicklungsstaaten wahrgenommen?
Hohe Anerkennung fand die DDR in diesen Ländern, weil
sie ihre Solidaritätsleistungen konsequent auf der Grundlage der Achtung der Selbstbestimmung der Völker und der Souveränität dieser Staaten erbrachte. Dies erfolgte auf der Grundlage
übereinstimmender politischer Interessen und auch ideologischer Positionen, vor allem hinsichtlich der Gegnerschaft zu Kolonialismus und Imperialismus der westlichen Staaten sowie der
Übereinstimmungen im Kampf um Frieden und Sicherheit. Auf dieser Grundlage hatte sich im Prozess der Zusammenarbeit ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das die Grundlage für eine
"antiimperialistische Solidarität" bildete, die z.B. auch der DDR half, die diplomatische Blockade als Folge der Hallstein-Doktrin zu durchbrechen.
Hohe Würdigung durch die Vertreter dieser Länder und
auch in breiten Kreisen ihrer Bevölkerung erfuhr der direkte materielle und ideelle Beitrag der DDR für diese Länder in ihrem Streben nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Die Haltung und die
politische Praxis der DDR waren in Übereinstimmung mit dem eigenen Sicherheitsbedürfnis dieser Saaten und ihrer Bevölkerung. Gleichzeitig fanden, vor allem bei den jungen Menschen, die in der DDR die
Möglichkeit erhielten, sich auf ein sinnvolles Leben vorzubereiten, die Leistungen der DDR und die entwickelte Lebensweise der Bevölkerung hohe Anerkennung, was bis in unsere Tage
nachwirkt.
Wie wirkte sich die neue
Ostpolitik von Bahr und Brandt auf die außenpolitische Ausrichtung der DDR aus?
Sie änderte nicht die Grundsätze und auch nicht die
strategische Ausrichtung der Außenpolitik der DDR. Bahr selbst hat ja zugegeben, das die "neue Ostpolitik" auf die DDR und ihre Maßnahmen zurückzuführen war. Die Maßnahmen der DDR vom 13. August 1961
schufen eine neue Lage, die erst die Transformation der Bonner "Befreiungspläne" hin zum Konzept der neuen Ostpolitik beförderte. Golo Mann sprach vom "Ende der Bonner Illusionen".
Unter diesen Bedingungen wurde eine "neue" Ostpolitik formuliert. Sie enthielt die Hauptaussage vom "Wandel durch Annäherung". Diese Aussage war zwar quer zu damals
vorherrschenden Vorstellungen in Bonn und anderswo, aber Otto Winzer, Außenminister der DDR, nannte sie realistisch "Aggression auf Filzlatschen" und deckte damit die subversiven Absichten dieser
"neuen" Politik auf. Sie entsprach dem Verlangen von Bundeskanzler Kiesinger (CDU), "dass das, was heute noch nicht sein kann, vielleicht morgen oder übermorgen möglich werden
wird".
Die
"neue" Ostpolitik von Brandt und Bahr war jedoch nicht nur Ergebnis bundesdeutscher Überlegungen. Sie war auch eine Reflexion der von der Kennedy-Regierung eingeleiteten veränderten Sicht auf das
Verhältnis der Supermächte, knüpfte an die von Charles de Gaulle eingeleitete aktive Ostpolitik in Europa an und ordnete sich in die von US-Präsident Johnson im Oktober 1966 verkündete
"Brückenschlag"-Strategie ein.
Die
wesentlichen Aspekte der europäischen und internationalen Wandlungen berücksichtigend, die Risiken und Probleme der "neuen" Ostpolitik benennend, griff die DDR, bilateral gegenüber der BRD und im
Warschauer Vertrag, zugleich jene Elemente auf, die Aussicht auf positive Ergebnisse in Bezug auf die Durchsetzung des Status quo und für gleichberechtigte Beziehungen zwischen den Staaten aufwiesen
und Chancen für Fortschritte im Bemühen um Frieden, Sicherheit und Abrüstung in Europa boten. Es ging vor allem darum, einen Modus vivendi zu suchen, bei dem die unterschiedlichen Interessen und
Ziele der Hauptmächte gewahrt blieben, jedoch die Lage in Europa und in den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten berechenbarer gemacht und auf der Grundlage des Status quo stabilisiert
werden konnte. Dazu wurden von der DDR Vorschläge in Bezug auf Europa und Abrüstung, aber auch mit Blick auf die Normalisierung der Lage zwischen beiden deutschen Staaten und in Bezug auf Westberlin
unterbreitet.
Osteuropa-Experte Prof. Anton Latzo im Interview mit RT
Deutsch.
Der Historiker und Osteuropa-Experte Prof. Anton Latzo bespricht im ersten
Teil des Interviews mit RT Deutsch die Wesenszüge der DDR-Außenpolitik. Zudem geht er auf die Unterschiede zur Außenpolitik der BRD ein. Auch die Spaltung Deutschlands ist ein
Thema.
Trotz ihrer geringen Bevölkerungszahl zeigte die Deutsche Demokratische Republik eine beachtliche Aktivität
hinsichtlich ihrer Außenpolitik. Wir sprachen mit dem Historiker und Politologen Prof. Anton Latzo, der selbst in der DDR lehrte, über die DDR-Außenpolitik.
Welche Rolle spielten
Friedensfragen, speziell im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss, in der Außenpolitik der DDR in den 80er Jahren?
Anfang der 1970er Jahre konnte ein Durchbruch zu
einer ersten Phase einer politischen Entspannung in den Ost-West-Beziehungen erreicht werden. Für die DDR führte das zu wesentlichen positiven Veränderungen ihrer internationalen Wirkungsbedingungen.
Dies war in hohem Maße auch ein Ergebnis der Politik der Warschauer Vertragsstaaten, die davon ausgegangen waren, dass Entspannung, Sicherheit und gleichberechtigte Zusammenarbeit in Europa nur
möglich waren, wenn die europäische Nachkriegsordnung anerkannt und die DDR gleichberechtigt einbezogen wurde.
Es ging also nicht nur um den Doppelbeschluss der
NATO, der sowohl Stationierung neuer Raketen als auch Verhandlungen vorsah.
Es wurde eine Reihe bilateraler Verträge zwischen der BRD und der UdSSR
sowie den anderen sozialistischen Staaten abgeschlossen. Ein wichtiges Element war der Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der BRD. Die deutsche Zweistaatlichkeit wurde weltweit als Faktor der
Stabilität in Europa und des politischen Ost-West-Gleichgewichts, was auch ihre weltweite diplomatische Anerkennung und ihre Aufnahme in die UNO einschloss, anerkannt. Das Vertragssystem ebnete auch
den Weg für die Einberufung und Durchführung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, wozu die DDR einen beachtenswerten Beitrag leistete.
In diesem Prozess verstärkte sich die Notwendigkeit,
die politische durch die militärische Entspannung zu ergänzen. Das heißt, substantielle Schritte auf dem Weg der nuklearen und konventionellen Abrüstung wurden notwendig.
Dies umso mehr, als es Ende der 70er, Anfang der 80er
Jahre erneut zu einer Zuspitzung zwischen den Großmächten kam und die militärische Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR, zwischen der NATO und dem Warschauer Vertrag
zunahm.
Als zentrales Problem erwies sich die sogenannte
Raketenkrise. Ende 1983/Anfang 1984 erreichte sie ihren Höhepunkt. Nach dem Scheitern der INF-Verhandlungen haben die USA und die NATO – mit Zustimmung des Bundestages – mit der Stationierung neuer
Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II und Cruise Missiles in Westeuropa, vornehmlich in der BRD, begonnen. Die UdSSR, mit Zustimmung der DDR und der CSSR, antwortete mit der Stationierung neuer
operativ-taktischer Raketen auf deren Territorium. In dieser Zeit, die in der Sowjetunion zunehmend von einer gewissen "Sprachlosigkeit" befallen war und die amerikanisch-sowjetische Konfrontation
zunahm, ging es der DDR darum, einen Rückfall in den Kalten Krieg nicht zuzulassen, die Grundlagen der Entspannung zu sichern und auszubauen. Sie wollte verhindern, dass die DDR zu einem
Hauptdislozierungsgebiet wird.
Wie entwickelte sich das
diplomatische Verhältnis zwischen der DDR und der Sowjetunion in den 70er und 80er Jahren? Gab es schon erste Anzeichen für Spannungen, die dann ans Tageslicht traten, nachdem Gorbatschow die Führung
der KPdSU übernahm?
Eine Differenzierung der außenpolitischen Interessen
beider Staaten wurde in Zusammenhang mit dem genannten NATO-Doppelbeschluss öffentlich besonders sichtbar. Dazu gehörten aber auch die Widersprüche zwischen der DDR und der UdSSR in Zusammenhang mit
dem geplanten Honecker-Besuch in der BRD 1983/1984.
Es war eine der kompliziertesten Phasen in den Beziehungen
zwischen der DDR und der Sowjetunion, zwischen den Führungen der SED und der KPdSU. Die DDR plante den Besuch als Schadensbegrenzung zur Rettung der erreichten Entspannungsergebnisse. Sie war der
Auffassung, dass unter Tschernenko die sowjetische Führung zwar eine militärische, aber zu wenig eine adäquate politische Antwort auf der entstandenen Situation in Europa und gegenüber der BRD bzw.
den USA hatte. Die Sowjetunion befürchtete, die DDR mache Bonn gegenüber unangebrachte Zugeständnisse. Offensichtlich auch unter dem Eindruck der Aussage Honeckers, dass die DDR das "Teufelszeug"
nicht will, befürchtete man in Moskau, dass der Besuch Entwicklungen begünstigen würde, die die Sicherheit der UdSSR berührten. Die Sowjetunion betrachtete den Besuch als Herausforderung und
Brüskierung ihrer Politik.
Die
Diskussionen zwischen den beiden Seiten verliefen aber – und das wird in den meisten Darstellungen nach 1989 verdrängt – vor dem Hintergrund, dass sowohl die UdSSR als auch die DDR sich bewusst
waren, dass die in der BRD herrschende politische Klasse an ihrem Ziel festhielt, die Existenz der DDR aufzuheben. Beide vertraten auch den Standpunkt, dass die Westgrenze der DDR auch die
Berührungslinie zwischen NATO und Warschauer Vertrag darstellte. Es gab keine Einschränkungen bei der Erfüllung der Verpflichtungen im Warschauer Vertrag. Dazu gehörte für die DDR auch die Akzeptanz
sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der DDR.
Bezüglich der internationalen Sicherheitspolitik strebten beide Seiten nach Ergänzung der politischen durch Schritte der militärischen Entspannung.
Spannungen und Differenzen gab es also schon vor der Phase, die nach der Amtsübernahme von Gorbatschow eingeleitet wurde. Die Widersprüche und die Bemühungen zu ihrer Lösung
vollzogen sich vor 1985 auf beiden Seiten vor dem Hintergrund des gemeinsamen Willens zur Sicherung des Sozialismus und zur Gewährleistung von Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
entsprechend den Vereinbarungen im Helsinki-Prozess.
Mit
Gorbatschow setzte eine Periode ein, in der die Bedeutung der gemeinsamen sozial-ökonomischen und politischen Grundlagen für die Außenpolitik und für die Suche nach übereinstimmenden Lösungen für
Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit erst relativiert und dann immer mehr eliminiert wurden.
War das Verhältnis der DDR zu den anderen sozialistischen Staaten in Europa wirklich immer so gut,
wie zumindest nach außen versucht wurde, das darzustellen? Welche Reibungspunkte gab es?
Die
Zusammenarbeit der sozialistischen Länder war eine Lebensfrage, ihre Bündnisse waren eine Schicksalsgemeinschaft. Die Notwendigkeit dazu ergab sich aber nicht nur aus den inneren Erfordernissen im
Prozess der Errichtung einer neuen Gesellschaft. Die Zusammenarbeit war ein entscheidender Faktor für die Sicherung der Existenz der Länder unter den konkreten Bedingungen der internationalen
Auseinandersetzung. Sie war ebenso ein entscheidender Faktor des Friedens in Europa und in der Welt.
Die
Durchsetzung der Anerkennung der europäischen und internationalen Nachkriegsordnung ist ein Ergebnis dieser Zusammenarbeit. Ohne die Unterstützung durch die sozialistischen Staaten hätte die DDR
nicht ihre internationale Anerkennung durchsetzen können. Wenn man diese unvollständige Aufzählung aufschlüsselt, ergibt sich ein beeindruckendes Bild von Gemeinsamkeiten.
Die
Bedeutung ihrer Zusammenarbeit zeigt sich auch in der Tatsache, dass nach der Niederlage des Sozialismus in Europa Kriege und Veränderung von Staatsgrenzen nach dem Motto "Teile und herrsche" nicht
nur in Asien, Afrika und Lateinamerika, sondern auch in Europa wieder zum Alltag gehören.
Es
wäre falsch, einseitig über Fehler und Mängel zu sprechen, ohne die positive Seite dieser Zusammenarbeit zu berücksichtigen. Festzustellen, dass sie gut und notwendig war, heißt jedoch nicht, dass
sie ohne Probleme und Widersprüche verlief. Lösungen aber konnten und wurden durch gemeinsame Bemühungen erreicht. Die gesellschaftspolitischen und ökonomischen Grundlagen in den Ländern waren kein
Hindernis, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Sie förderten geradezu Lösungen zum gegenseitigen Vorteil und im Sinne des Friedens und der Sicherheit für alle Völker. Die Widersprüche zwischen den
sozialistischen Ländern waren keine Ursachen, die notwendigerweise zu Anwendung gewaltsamer Mittel der Lösung führten!
Das Feld, auf dem die meisten Probleme auftraten, waren die
Ökonomie und die Wirtschaftsbeziehungen. Im RGW, aber auch im bilateralen Bereich, war man sich grundsätzlich darüber einig, dass das Prinzip des gegenseitigen Vorteils regierendes Prinzip sein muss.
In der Praxis traten aber immer wieder Tendenzen in Erscheinung, die sich aus nationalem Egoismus, aber auch nationalistischen Bestrebungen ergaben. Sie waren aber zumeist subjektiv bedingt. Es waren
nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu Konkurrenzkampf und einseitigem Vorteil bei Benachteiligung der Partner führen mussten, wie es Beziehungen sind, die auf privatkapitalistischem
Eigentum beruhen.
Im
politischen Bereich schuf der Wunsch nach Ausbau der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der Länder zur BRD zum Teil beträchtliche Probleme. Sie waren am Ausbau der Beziehungen (Know-how)
interessiert. Seinem Ausbau stand jedoch die Verweigerung der BRD entgegen. Sie forderte z. B., Abstriche bei den Hauptvoraussetzungen (Grenzen, Westberlin u. a.) vorzunehmen, die die Warschauer
Vertragsorganisation in Zusammenhang mit dem Programm für Frieden und Sicherheit in Europa formuliert hatte und deren Erfüllung für den Bestand der Nachkriegsordnung in Europa von größter
Bedeutung war.
Wie wirkte sich der Aufstieg
Gorbatschows auf die außenpolitische Orientierung der DDR aus?
Es ist eine Tatsache, dass die Außenpolitik der
Sowjetunion sehr wesentlich die Außenpolitik der DDR beeinflusst, ja geprägt hat. Der Einfluss der DDR auf die der Sowjetunion war naturgemäß weitaus geringer.
Die Praxis zeigt, dass die DDR sich in all den Jahren
ihrer Existenz in die Außenpolitik der Sowjetunion als Hauptmacht im Bündnis bewusst eingeordnet hat. Sie hat sie mitgetragen, aber auch mitbeeinflusst. Wichtig erscheint aber die Feststellung, dass
diese Gemeinsamkeit, Einbindung oder auch Unterordnung der DDR und ihrer Außenpolitik ihr in der Regel nicht aufgezwungen wurde. Grundlage, Ausgangspunkt war eine gemeinsame ideologische und
politische Grundhaltung, waren gemeinsame Interessen und – darauf beruhend – grundsätzlich gleiche Einschätzungen. Daraus entstand der Gleichklang in der Politik. Die Interessen der Hauptmacht galten
als Leitlinie, wollte man das Bündnis erhalten und nicht destabilisieren. Deshalb bringt es wenig, diese Beziehungen unter der Frage zu behandeln, ob Fremdbestimmung für die Außenpolitik der DDR
bestimmend war.
Die Lage änderte sich mit dem Aufstieg Michail
Gorbatschows in höchste Funktionen Mitte der 1980er Jahre. Bis dahin ging die Sowjetunion davon aus, dass ihre Sicherheitsinteressen am besten durch die Existenz von zwei deutschen Staaten geschützt
werden können. Ihre Vereinigung stand in dieser Zeit nicht auf der Tagesordnung. Am Anfang war sie auch keine beabsichtigte Folge von Perestroika und der veränderten Außenpolitik der
Sowjetunion.
Die Lage begann sich mit dem "Neuen Denken" und auch
Handeln von Gorbatschow und seinen politischen Begleitern zu verändern. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die Vereinigung bewusst in Betracht gezogen wurde oder ob sie eine Folge bestimmter
Umstände als Folge seiner widersprüchlichen Vorstellungen und Handlungen zum Bestandteil der Politik wurde.
Auffällig ist, dass Gorbatschow vom Dezember 1987 bis
Juli 1988 fünf Treffen mit führenden Politikern der BRD (Strauß, Genscher, Vogel, Späth, Bangemann) hatte. Allein das deutet darauf hin, dass die Bundesrepublik in dieser Phase einen ganz neuen
Stellenwert in der sowjetischen Politik erhielt. Am 24. Oktober 1988 kam es dann zum ersten offiziellen Besuch von Bundeskanzler Kohl in Moskau. Es folgten der Ausbau der politischen Beziehungen und
umfangreiche vertragliche Abschlüsse auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem und
kulturellem Gebiet.
Im
Juni 1989 folgte der Besuch Gorbatschows in Bonn. Unterzeichnet wurden eine "Gemeinsame Erklärung", die die deutsche Frage nicht erwähnte, und elf weitere Abkommen, die den Rahmen für eine auf lange
Sicht angelegte Zusammenarbeit schuf.
Schon auf der Parteikonferenz der KPdSU von Ende Juni/Anfang Juli 1988 wurde von Gorbatschow die "Freiheit der Wahl" als wichtigstes Element des "Neuen Denkens" verkündet. Für die
DDR wurde damit eine schwierige, eine für sie unüberwindliche Situation geschaffen – nicht nur im Bereich der Außenpolitik! Sie war zunehmend damit konfrontiert, dass in dieser "ideologiefreien"
Sicht die Beziehungen der Sowjetunion zur DDR und zur BRD zu einer Frage der Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile wurden. Der sowjetische Diplomat J. Kwizinski meinte aufgrund eigener
Erfahrungen, dass sich das Schicksal der DDR irgendwann im Spätsommer 1989 entschied. Zu diesem Zeitpunkt hatte man es "mit einem ganz anderen Moskau, mit einer ganz anderen Sicht auf die DDR zu
tun".
In
einem Gespräch Gorbatschows mit Genscher am 5. Dezember 1989 bestätigte der Generalsekretär der KPdSU:
Da
es nur ein deutsches Volk gibt, gibt es grundsätzlich auch nur ein Selbstbestimmungsrecht. Die DDR-Bevölkerung kann dies aber auch getrennt ausüben."
Damit hat er die früheren Positionen der Sowjetunion verlassen! Einer der engsten Berater von Gorbatschow, A. Tschernajew, formulierte:
Auch
in der DDR wurde oben und unten verstanden, dass in der sowjetischen Außenpolitik jetzt die Bundesrepublik Priorität haben werde."
Höhen und Tiefen des DDR-Kulturlebens: Interview mit Hartmut
König
13.07.2019 • 07:30 Uhr
Der Liedermacher und DDR-Kulturpolitiker Hartmut König hat uns gegenüber seine Ansichten über die Stärken und
Schwächen des Kulturlebens in der DDR gesprochen. Die DDR habe auf vielen Gebieten Erstaunliches geleistet. Doch auch an Kritikwürdigem mangelte es nicht.
Im Westen wird von der DDR oft das
Bild einer grauen, trostlosen Gesellschaft gemalt, in der Kunst ständig gegängelt wurde. Wie haben Sie die Kulturszene der DDR erlebt?
Gleich mal zur Gängelei. Ein Großteil der
DDR-Künstler legte Wert auf die Hinterfragung des gesellschaftlich Erreichten. Es gab Einverständnis wie Streit. Dabei konnte selbst ein verbesserungsbesessener künstlerischer Gestus mit hemmenden
kulturpolitischen Dogmen kollidieren, was als Gängelei empfunden wurde. Wobei wahrlich nicht jede Hervorbringung, die in der DDR-Gesellschaft ihre Beachtung verfehlte, ein Opfer sinisterer Dogmatik
war. Minderbegabungen wollen das gelegentlich glauben machen.
Wer von einem grauen, trostlosen, kultur- und kunstfeindlichen Alltag der DDR-Gesellschaft redet, malt ein Zerrbild der Wirklichkeit. Das tun unbelehrbare Hard-Core-Delegitimierer, die die zunehmende
Wut so vieler Ex-DDR-Bürger über die Diffamierung ihrer einstigen Lebensleistungen und Milieus als östlichen Undank abtun.
Kalkulierte Rücksicht auf verärgerte Ostwähler, mehr
noch: versachlichter, unvoreingenommener Kunstverstand korrigieren nun immer öfter solche Ansichten und bewirken, dass Kulturleistungen aus der DDR nach fairen historischen und ästhetischen Maßstäben
bewertet werden. Da ist, seriös unleugbar, ein Reichtum parat für jeden, der ihn sehen und hören will. Der Osten hat ihn in die deutsche Nationalkultur eingebracht. Nun mag er da mit seiner
Zeitzeugenschaft reiben und gelegentlich auch an den Futtertrögen des altbundesrepublikanischen Kunstbetriebes stören. Deshalb ja die gelegentlichen Bezichtigungen des DDR-Kunstschaffens als peinlich
angerötete, wertlose Staatskunst.
Aber das Umdenken ist
unterwegs. Nehmen wir den Bereich der bildenden Kunst. Bald nach der Wende haben denunziatorische Bilderschauen empörte Ostkünstler veranlasst, ihre Werke selbst wieder abzuhängen.
Späterwaren in Potsdam, Dresden oder Halle viel besuchte Ausstellungen zu sehen, die DDR-Kunst einen achtungsvollen
Raum boten und kaum noch gegen Zeit und Qualität bürsteten. Für Kenner waren sie gedankliche und sinnliche Wiederbegegnungen. Für neugierig Gewordene ein Start zu künftigen Entdeckungen. Ähnliches
wünschte ich allen Genres.
Das 11. Plenum des ZK der SED (1965) gilt für westliche DDR-Historiker als Wende der
DDR-Kulturpolitik, in der die vorher zumindest teilweise noch "liberalen" Tendenzen endgültig zu einer konservativen Erstarrung umschwenkten – so zumindest will es die offizielle
Geschichtsschreibung. Wie haben Sie das 11. Plenum und die Jahre danach erlebt?
Zur Zeit des 11. Plenums war ich ein Teenager, der sich mit
frühen Liedern und Gedichten äußerte. Ich kriegte die Anwürfe und Verbote zwar mit, aber mir fehlte die Vorstellungskraft, welche aktuelle Sprengkraft und schädliche Langzeitwirkung von ihnen
ausgehen würden. Auch manche Zusammenhänge enthüllten sich mir erst später. Etwa, dass Walter Ulbricht mit seinem frappant modernen Jugendkommuniqué, den wirtschaftlichen Versuchsanordnungen im NÖS
(Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung) und anderen "tauwetter"artigen Gesellschaftsvisionen nach dem Ende der Chruschtschow-Ära von seinen Opponenten innerhalb der SED-Führung gestoppt
werden sollte.
Richtungskämpfe in der Partei lenkten das 11. Plenum, das
ursprünglich zu ökonomischen Fragen geplant war, auf das ideologisch und jugendpolitisch stark tangierte Feld von Kultur und Kunst. Erich Honecker startete einen Generalangriff auf "schädliche
Tendenzen" in einzelnen Kunstgenres, und Walter Ulbricht empfand nun auch, dass die unter seiner Führung gewährte künstlerische Freiheit von Teilen der Kunstschaffenden als Aufruf zu "Nihilismus,
Halbanarchismus, Pornografie oder anderen Methoden der amerikanischen Lebensweise" missverstanden worden sei. Dem Jugendkommuniqué zuwider bekam jetzt die "Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah", immerhin
Signum der welterstürmenden Beat-Musik, ihr Fett weg. Eine Jahresproduktion von DEFA-Filmen wurde unveröffentlicht ins Archiv geschickt.
Das Verdikt des Plenums traf u. a. Arbeiten von Kurt
Maetzig, Frank Beyer, Heiner Müller und Stefan Heym. Auch gab es Auseinandersetzungen um Wolf Biermann, dessen spätere Ausbürgerung das intellektuelle Klima in der DDR zusätzlich belastete.
Kulturfördernde Organisationen wie die FDJ wurden wegen ihrer vermeintlich ideologischen Sorglosigkeit gerügt. Einsam wagte Christa Wolf im Plenum eine Widerrede: Sie wollte das in der Vergangenheit
erworbene "freie Verhältnis zum Stoff" nicht aufgeben und befürchtete, dass kritische Äußerungen fortan als parteischädigend gelten würden.
Dass derlei schwerwiegende Eingriffe der SED in die
Kunstprozesse vor allem im intellektuellen Milieu als Entzug von Vertrauen und Freiräumen empfunden wurden und sich auch auf Stoffe und Stil künftiger Arbeit auswirkten, ist verständlich. Trotzdem
war, was künstlerisch folgte, kein Distelfeld auf kulturellem Ödland. Kunst findet auch, manchmal gerade, in Krisen ihre Wege. Und auch die Verhältnisse öffneten sich wieder. Mit dem VIII. Parteitag,
der sich maßgeblich an der Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung orientierte, erhielten Kultur und Kunst wieder ihren gebührenden Platz. Das erforderte ein Umdenken in Richtung Weite und
Vielfalt.
Welche Rolle spielten
fortschrittliche Personen in der Kulturszene, etwa Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Peter Hacks, Christa Wolf und andere im öffentlichen Leben der DDR?
So unterschiedlich ihre Biografien und künstlerischen
Eigenarten waren, eines einte sie: Die DDR war für sie mehr als ein Aufenthaltsort. Sie banden sich ideell an dieses sozialistische Wagnis im Osten und nahmen dabei eben auch Konflikte in Kauf. Sie
wollten wirken und bauten auf ein sensibles Publikum, das Kunst verstehen lernte. Brigaden hatten Theaterabonnements. Auftragswerke waren von Kunstgesprächen begleitet. Theater gastierten in
Kultursälen von Betrieben und großen LPGen. Das Papier reichte nie für die Leselust. Woher wir kamen, wie wir lebten, welche Hoffnungen und Sorgen sich auf die Gegenwart und Zukunft richteten – das
waren Themen, die Künstler vom Anbeginn bis in die Endzeit der DDR dialogbereit in die Gesellschaft, in ihr Publikum transportierten.
Und so, wie sie drängende Zeit-Fragen in ihre Kunst
holten, griffen sie zuweilen mit aktuellen Statements in die Tagespolitik ein. Bertolt Brecht um den 17. Juni 1953, Christa Wolf, Stefan Heym, Volker Braun und andere 1989 mit dem Aufruf "Für unser
Land". Weil Kunst auf ein generell gehobenes Bildungsniveau traf und eben auch ein allseits erschwingliches Vergnügen war, konnte sie jedem eine ganz individuelle Lebenshilfe sein. Prüft jemand heute
seine Erinnerungen an die DDR und gerät an die Abwägung von Fehlern und Gewinn, kann er in der wieder befragten DDR-Kunst bedenkenswerte Maßgaben finden. Das macht sie nützlich für die
Erinnerungskultur, aber auch spannend für die Spurensuche Nachgeborener, die in der DDR mehr als eine Fußnote deutscher Geschichte sehen.
Wie umfangreich war die Förderung
der Kultur seitens des Staates in der DDR, und wie wurde Kunst an der gesellschaftlichen Basis wahrgenommen und praktiziert? Gibt es da signifikante Unterschiede zur Gesellschaft, in der wir heute
leben?
Über die ideelle Förderung gibt es zuweilen Streit,
wenn Probleme bei der Durchsetzung von Kunstwerken zur Sprache kommen. Was aber die materielle Seite, die kulturelle Infrastruktur, die Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe, die landesweiten
Bedingungen für die Entwicklung der Berufskunst und des Laienschaffens, dabei auch die Heranbildung des künstlerischen Nachwuchses betrifft, einigt man sich wohl schnell auf ein günstiges
Bild.
Schauen wir in die 1970er und 1980er Jahre. Eine
deutliche Mehrheit der Arbeiter verfügte nun über eine abgeschlossene Fachausbildung, auch 63,5 Prozent aller in der Landwirtschaft Tätigen hatten eine solchen Bildungsgrad. 1970 besaßen 71 Prozent
der Lehrlinge einen 10-Klassen-Abschluss der Polytechnischen Oberschule, jenes international beachteten Schultyps, der wegen seiner pädagogischen Fundierung und Praxisnähe keine PISA-Schelte zu
befürchten gehabt hätte. Eine Dekade später waren es bereits 86,3 Prozent. Auch die Weiterbildung in den Betrieben, Genossenschaften und Volkshochschulen nahm zu.
Mit dem allgemeinen Bildungsniveau wuchs das kulturelle
Interesse. Die große Mehrheit der Arbeitskollektive hatte einen Kultur- und Bildungsplan beschlossen, und der griff von der Kultur am Arbeitsplatz bis in die Freizeit. Das wirkt auf den heutigen
Betrachter vielleicht dirigistisch. Aber wie oft brauchen kulturelle Erlebnisse einen kollektiven Ruck!
1971 war die Zahl der Museumsbesucher auf 20 Millionen und
die der Klubs und Kulturhäuser auf 35 Millionen gestiegen. Mehr als 655.000 Bürger hatten die VII. Kunstausstellung der DDR im Dresdener Albertinum gesehen. Die Bezirksschauen der bildenden Kunst
erreichten die zwei- bis dreifachen Besucherzahlen früherer Jahre. Im Haushalt einer DDR-Familie waren durchschnittlich 74 Bücher vorhanden. Immerhin verfügten 15 Prozent der Arbeiterhaushalte über
mehr als 100 Bücher. Der Papierfonds für die Verlage stieg innerhalb von drei Jahren (1972 zu 1975) auf 130 Prozent, für schöngeistige Literatur sogar auf über 140 Prozent. Und trotzdem lag bei 70
Prozent der Belletristik-Bestellungen im Volksbuchhandel der Bedarf weit höher als die Auflagen wegen der begrenzten Papierimporte geplant werden konnten.
Gegen Ende der 1980er Jahre gab es in der DDR 68
Theaterbetriebe mit etwa 200 Spielstätten, die 700 jährliche Neuinszenierungen und fast 1.400 Übernahmen aus dem laufenden Repertoire auf die Bühne brachten. Jeder Theaterplatz war erklecklich
subventioniert. Nur um den halben Groschen, der jeder Eintrittskarte aufgeschlagen wurde und in den Kulturfonds der DDR floss, kam man nicht herum. Mit dem Geld wurden das kulturelle Leben in den
Städten und Gemeinden sowie zeitgenössische Kunst und Künstler gefördert.
Die Unterschiede zur Jetztzeit dürften sichtbar sein. Die einstige Infrastruktur ist weitgehend
ruiniert. Kunsterlebnisse sind größtenteils auf einen Markt zurückgeworfen, der sich um eine für jedermann erschwingliche Teilhabe nicht scheren kann. Und so schrieb der Publizist Erich Kuby bereits
Mitte der 1970er Jahre in der westdeutschen Illustrierten Stern: In der BRD "bezahlt über Steuern die überwiegende Mehrheit, die nie ins Theater kommt,
weil sie die Karten nicht bezahlen kann oder ihr keine entsprechenden Bildungsvoraussetzungen vermittelt wurden, das Vergnügen einer dünnen Oberschicht. In der DDR sind 30 Prozent des Publikums
Arbeiter …" Kunstfreiheit verlangt offensichtlich nicht nur die (innerhalb humanistischer Grenzen) unbeschränkte Wahl von Inhalt und Form, sondern auch die Möglichkeit für jeden in der Gesellschaft,
sie sich geistig anzueignen.
Inwiefern konnte die Kulturpolitik der SED ab den 1970er Jahren Jugendliche erreichen? Wo lagen die
Schwierigkeiten?
Das Deutschlandtreffen der Jugend 1964, das den beliebten Sender DT64 hervorbrachte und in dessen Folge erste deutschsprachige Beatmusik und Vorläufer der Singebewegung in der DDR entstanden, zeigte schon in der ersten Hälfte der
1960er Jahre Auflockerungen im Freizeitangebot. Begründet waren sie im 1963 verabschiedeten Jugendkommuniqué. Dass sie mit dem 11. Plenum weitgehend gecancelt, nach dem VIII. Parteitag aber wieder
zugestanden wurden, lag an der gewandelten Politikkonzeption Erich Honeckers – hin zu einem steigenden Lebensniveau, das die kulturellen Interessen Jugendlicher einschloss. 1982 war die Zahl der
Jugendklubs rasant auf annähernd 7.000 gewachsen, im komplexen Wohnungsbau waren sie eine geplante Größe. Es gab sie aber auch an Schulen, Unis und kulturellen Einrichtungen, wobei die Klubräte ihre
Veranstaltungen weitgehend selbständig konzipierten. Jugendtanz spielte eine große Rolle.
Diskos hatten in der DDR jährlich 50 Millionen Besucher, über
6.000 Amateurdiskotheken legten auf. Die Gastronomie zog mit, und der Staat stützte allein 1981 die Eintrittspreise mit 23 Millionen Mark. Mitte der 1980er Jahre waren 70 Prozent der Kinobesucher
Jugendliche, und zwei Drittel aller Kinder und Jugendlichen hatten sich in den Bibliotheken als Leser eingeschrieben.
Ich war zu jener Zeit Kultursekretär des Zentralrates der FDJ
und erinnere mich, wie wir die neuen Möglichkeiten den diversen Interessen in den Altersgruppen und sozialen Milieus, in den urbanen und ländlichen Wohnumfeldern nutzbar machen wollten. Neben den
Klub- und Tanzveranstaltungen gab es ja Werkstattwochen fast aller künstlerischen Genres, hochkarätig besetzte musikalische Events, Ausstellungen junger Künstler, Poetenseminare
im Schweriner Schloss, die Festivals des
politischen Liedes, Leistungsschauen junger Theaterleute und überall im Land Begegnungen junger Leute mit DDR-Künstlern und deren Arbeiten.
Eine solche Agenda machte auch die
Künstlerverbände und Ausbildungsstätten, die Künstleragentur mit ihren schönen Valutamitteln und andere Kulturveranstalter in der DDR zu aufgeschlossenen Partnern.
Viel jugendliches Interesse rankte sich um
die von der FDJ veranstalteten internationalen Konzerte. Mit Bob Dylan, Joe Cocker, Bruce Springsteen, Bryan Adams oder Udo Lindenberg aus dem Rockbereich; mit Pete Seeger, Harry Belafonte, Mikis
Theodorakis, Miriam Makeba, Mercedes Sosa oder León Gieco aus der politischen Liederszene. Weil man die Künstler nicht draußen erleben konnte, holten wir sie in die DDR. So öffnete sich ein Tor zur
Weltkultur, aber man träumte längst von dem größeren Tor zur Welt und hatte innenpolitisch eine Hoffnung, die gerade russisch zu uns sprach. Die FDJ hatte keine Schwierigkeit, Jugendliche in ihre
kulturellen Angebote zu holen, nur war das am Ende immer seltener eine politische Zustimmung. Damit teilte sie das Schicksal ihres Landes.
Wenn Sie noch mal die
Gelegenheit hätten, an der Kulturpolitik einer sozialistischen Gesellschaft mitzuwirken, was würden Sie anders machen?
Ich würde von der Kunst keine geglättete,
harmonisierte Widerspiegelung des gesellschaftlichen Status quo erwarten, sondern mir ein kräftiges Gespann von linker Politik und einer Kunst wünschen, die durch Vorschläge samt unbekümmertem
Widerspruch und Streit den Gesellschaftsbau optimiert.
Vielen Dank für das
Gespräch!
Die Fragen stellte Hasan
Posdnjakow.
Gesellschaft
Frauenrechte und die DDR – Interview mit Prof. Helga Hörz (Teil
1)
Aufnahme während den Vorbereitungen für 10. Weltjugend- und Schülerfestivals
in Berlin, DDR, am 1. Mai 1973.
Die Frauenrechts-Expertin Prof. Helga Hörz sprach mit RT Deutsch über den Kampf um Gleichstellung in der DDR.
Sie wies auf die Möglichkeiten hin, die die DDR-Politik den Frauen bot. Die Übernahme durch die BRD habe sich negativ auf die Lage ausgewirkt.
Prof. Helga Hörz war Ethik-Professorin
an der Berliner Humboldt-Universität. Sie arbeitete viele Jahre als Vertreterin der Deutschen Demokratischen Republik auf internationaler Ebene zu Frauen-Fragen, sowohl in der Internationalen
Demokratischen Frauenföderation als auch bei verschiedenen UN-Gremien. Das Interview führte Hasan Posdnjakow.
Was hat Sie dazu motiviert, sich
mit der Thematik der Frauenrechte zu beschäftigen?
Mein Gerechtigkeitssinn wehrte sich
dagegen, die Arbeit von Frauen geringer einzuschätzen als die der Männer. Ursachen für diese Haltung fand ich in unwissenschaftlichen Wesensbestimmungen des Menschen, die oft ihre Sanktionierung in
patriarchalischen Traditionen, Normen, Werten und Idealen fanden. Die Entwicklung von Frauen zur Persönlichkeit, die selbstbestimmt ihr Leben gestalten, wurde das Thema meiner Doktorarbeit. Sie
erschien mit dem Titel: "Die Frau als Persönlichkeit" im Deutschen Verlag der Wissenschaften zu Berlin 1968. In Japan erschien eine Übersetzung. Inzwischen ist sie digitalisiert im Internet mit einem
aktuellen Vorwort eingestellt. Später habe ich mich
wissenschaftlich intensiver mit dem langen Weg zur Gleichberechtigung befasst. Das Buch erschien 2010 im trafo Verlag Berlin.
Wie war die Situation der Frauen zu Beginn der DDR? Wie war sie im
Jahr 1989?
Das Erbe nach dem Zweiten Weltkrieg waren zerstörte Städte
und Dörfer, politische Orientierungslosigkeit, Hunger, herumstreunende Heimatlose und verwaiste Kinder. Da Frauen 60 Prozent der Bevölkerung bildeten, übernahmen Frauengruppen in ganz Deutschland
Verantwortung gegen den sozialen und politischen Notstand.
Nach der Gründung der BRD entstand 1949 die DDR. Sie hatte Reparationsleistungen für die Sowjetunion zu erbringen, war durch Embargo der BRD und anderer Staaten für notwendige
Industrieerzeugnisse oft schwer betroffen. Sabotageakte gegen Einrichtungen wie Industrieanlagen, auch Bedrohung und Ermordung von Funktionsträgern, erschwerten die Umsetzung der bereits
beschlossenen Gesetze, die den Frauen zu ihren Menschenrechten verhelfen sollten, zusätzlich. Es war ein Bildungsdefizit unter Frauen zu überwinden. Dafür gab es staatliche Bildungsprogramme und
wichtige Initiativen des Demokratischen Frauenbundes (DFD). Dieser setzte sich ebenfalls für die umfassende Teilnahme von Frauen an Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen des neu gegründeten Staates
ein.
Insgesamt herrschte in der DDR eine ungeheure Aufbruch-Stimmung unter den Frauen. 1949 hatten nur fünf Prozent der Frauen in der DDR eine Berufsausbildung, 1957 waren noch
35 Prozent der weiblichen Bevölkerung Hausfrauen. Es war also unter einer großen Gruppe von Frauen, die das Patriarchat nicht in Frage stellten, Überzeugungsarbeit durch alle politischen Parteien und
Organisationen sowie staatlichen Institutionen im Land, in den Ländern und den Kommunen zu leisten. Frauen sollten begreifen, dass sie nicht nur ein notwendiges Anhängsel von Männern sind, sondern
eigenständige Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Familie einen wichtigen Platz im gesellschaftlichen Leben einzunehmen hatten. Verordnungen und Gesetze waren öffentlichkeitswirksam zu erklären,
um Eigeninitiative für ihre Umsetzung auszulösen.
Am Ende der DDR verfügten 84 Prozent aller weiblichen
Beschäftigten über eine abgeschlossene Berufsausbildung. 1989 waren 91,1 Prozent der arbeitsfähigen Frauen berufstätig, lernten oder studierten. In Wirtschaft, Bildungswesen, Wissenschaft und Politik
nahmen Frauen bereits wichtige Entscheidungspositionen ein. Das wäre weiter auszubauen gewesen. Zu bedenken ist jedoch, dass jahrhundertelanges Unrecht gegen Frauen nicht in wenigen Jahrzehnten zu
überwinden ist. Es dauert lange, traditionelle und verfestigte Rollenklischees auch in den Köpfen von Männern und Frauen zu überwinden. Doch der Prozess der Überwindung des Unrechts war in Gang
gesetzt.
Welche Maßnahmen wurden
eingeleitet, um die rechtliche Stellung der Frauen in der DDR zu verbessern?
Zu wichtigen Verordnungen und Gesetzen, die die
Gleichberechtigung rechtlich fixierten gehörten: der schon am 17.08.1946 erlassene SMAD-Befehl 253, der gleichen Lohn für gleiche Arbeit forderte, das Kontrollratsgesetz Nr. 16, das das
nationalsozialistische Ehegesetz vom 8. Juli 1938 aufhob sowie Eheschließung und Eheauflösung neu regelte. Anfang der 50er-Jahre wurden dann, unter starker Beteiligung von Frauen einschließlich der
im DFD organisierten politischen Frauenbewegung, drei grundlegende Gesetzeswerke erarbeitet: 1. die DDR-Verfassung von 1949; 2. das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz sowie die Rechte der Frau
von 1950 und 3. der Entwurf eines Familiengesetzbuches, das 1965 Gesetzeskraft erlangte. Männer hatten danach die gleiche Verantwortung wie Frauen für die Familie, einschließlich der Kindererziehung,
zu übernehmen. Das Gesetz verlangte, dass Betriebe Kindertagesstätten, Waschanstalten, Nähstuben u.a. einzurichten hatten.
Das bisherige Alleinbestimmungsrecht des Mannes in allen
Angelegenheiten des ehelichen Lebens war aufgehoben und es galt das gemeinsame Entscheidungsrecht beider Elternteile für das Wohl der Kinder. Die Realisierung der Gesetze wurde durch
zusätzliche Maßnahmen und ideenreiche Aktivitäten unterstützt, denn aus vielen Köpfen ließen sich, wie betont, die alten Rollenbilder bei Frauen und Männer nur schwer verdrängen. Leider wurde das
international anerkannte und von Kennern der Problematik hochgelobte Familiengesetz am 31. August 1990 durch den Einigungsvertrag dann aufgehoben.
Wie sah es mit der
gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Maßnahmen aus? Gab es auch Kampagnen, um männliche Vorurteile gegenüber Frauen, aber auch mangelndes Selbstbewusstsein bei den Frauen selbst, zu
überwinden?
Die Akzeptanz der Maßnahmen für die Gleichberechtigung
der Frau war sehr hoch, vor allem bei Frauen und Männern, die das jahrhundertealte patriarchalisch geprägte Unrecht an Frauen endlich beseitigen wollten. Doch der Prozess verlief nie gradlinig.
Auseinandersetzungen verschiedener Art fanden statt. Presse und Medien setzten sich mit solchen Auffassungen auseinander, die de facto auf eine Verteidigung des Patriarchats hinausliefen, weil der
Wert eines selbstbestimmten Lebens von Frauen durch einige Frauen noch nicht begriffen wurde und von manchen Männern in Frage gestellt wurde. Eine breite gesellschaftliche Diskussion fand statt. So
ging es in einer Zeitung um die Frage: "Ist der Beruf ein Notbehelf?" Es gab sowohl Frauen, die den Wert ihrer Arbeit noch nicht als persönlichkeitsfördernd und ihre ökonomische Unabhängigkeit
garantierend begriffen, als auch Männer, die sich in ihrer selbstbestimmten höheren Wertschätzung von Talenten und Fähigkeiten nicht bestätigt fühlten.
Hemmnisse in den Köpfen wurden u.a. 1961 im Kommuniqué
des Zentralkomitees der SED "Die Frau, der Frieden und der Sozialismus" einer kritischen Bilanz unterzogen. Männer, die die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau noch nicht als ihre eigene
Aufgabe begriffen hatten, sollten für diese Aufgabe weiter aktiviert werden. Der geringe Anteil von Frauen in Leitungsfunktionen wurde gerügt. Das setzte einen Prozess in Gang, in dem fähige Frauen
in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik in höhere Positionen berufen wurden. Das führte dazu, dass in den letzten Jahren der DDR ein Drittel aller Leitungsfunktionen von Frauen besetzt
war.
Von welcher Seite kamen die
Initiativen für die Reformen – eher von der Basis oder von der Führung? In den westdeutschen Darstellungen heißt es oft, die Masse der Frauen sei gar nicht beteiligt gewesen an den Entscheidungen und
Debatten, wie die Lage der Frauen verbessert werden könnte.
Es war ein Prozess, der von oben und unten vorangetrieben wurde. Gesetze und Verordnungen sind wichtig, aber sie bedürfen immer der Masseninitiativen, um sie durchzusetzen. Diese gab es, auch wenn
sie heute manchmal ignoriert und verschwiegen werden. Meine Erfahrungen an der Basis stammen aus der Jugendarbeit in einem Betrieb, in dem vor allem Frauen beschäftigt waren. Als Vorsitzende der
Frauenkommission der Gewerkschaft an der Humboldt-Universität Berlin verhandelte ich zum Beispiel mit dem Rektor über Frauenförderung. Es gab Frauenförderungspläne, an die sich Leiter/innen zu
halten hatten.
Internationale Erfahrungen sammelte ich in der IDFF (Internationale Demokratische Frauenföderation). Deshalb kann ich als Zeitzeugin über Aktivitäten von unten und oben berichten. Da waren
vor allem die an der Basis wirkenden Frauenkommissionen der Gewerkschaft und der SED. Sie existierten in allen Betrieben, Einrichtungen und Institutionen. Man darf nicht die schon erwähnten
Initiativen des DFD als einer politisch organisierten und anerkannten Frauenbewegung vergessen. An der Basis in Stadt und Land organisierte sie, unter Mitwirkung vieler Frauen, Bildungsarbeit,
Solidaritätskampagnen, um Frauen in anderen Ländern zu helfen. Es gab interessante Freizeitangebote, darunter auch Handarbeit, wenn es gewünscht wurde.
Wie nahmen Frauen in der DDR die Situation der BRD-Frauen wahr? Bis in die 1970er konnten Frauen im Westen ja nicht allein entscheiden, eine Arbeit aufzunehmen, in eine eigene Wohnung zu ziehen
oder einen Führerschein zu machen. Bis 1977 konnten BRD-Männer sogar den Arbeitsvertrag ihrer Frauen kündigen, wenn sie meinten, dass diese sich nicht genug um sie kümmerten.
Durch meine internationale Arbeit kam ich in Kontakt mit vielen aktiven Kämpferinnen für die Rechte der Frauen aus der BRD. Es entstanden Freundschaften, die auch heute noch bestehen. Sie
interessierten sich stets intensiv für den Kampf um Gleichberechtigung in der DDR, die erreichten Erfolge und selbstverständlich auch die Probleme, um Fehler zu vermeiden. Auch wenn Frauen aus der
DDR sich nicht unbedingt mit den Verhältnissen in der BRD befassten, sondern auf die propagierte Scheinwelt des Konsums und der Reisen hereinfielen, nahmen sie die Förderung der Frauen in der DDR als
selbstverständlich hin. Doch in meinem Kreis von Kolleginnen, Kollegen, Freunden, politisch und ehrenamtlich Tätigen stellte man entsprechende Vergleiche zur Lage der Frauen in der DDR und der BRD
an.
In den Westmedien wird gerne behauptet, die Frauen wurden in die Arbeitswelt nur deswegen aufgenommen, weil es in der DDR einen Mangel an Arbeitskräften gab. Was ist dran an diesem Mythos?
Frauen als Arbeitskräfte waren willkommen und wichtig. Im Vordergrund standen jedoch die Entwicklung der Persönlichkeit der Frau und ihre mögliche Selbstbestimmung durch ökonomische Unabhängigkeit
vom Mann. In vielen der jetzigen Medienkampagnen zum angeblichen Zwang der Frau arbeiten zu müssen, werden meines Erachtens nur alte Rollenklischees neu aufgemotzt propagiert. Vergessen ist das
jahrhundertalte Unrecht an Frauen mit Zwangsheiraten, Verbot von beruflicher Entwicklung, geringen Chancen für angemessene Bildung und anderen Ungerechtigkeiten. Damit wird, trotz schöner Reden, am
Patriarchat festgehalten. Es zu überwinden ist kein Prozess von wenigen Jahrzehnten. Doch wichtige Schritte wurden in der DDR gegangen.
DDR-Dämonisierung mit Grusel-Märchen, Meinungsmache mit „wahren Begebenheiten“ | Veröffentlicht am: 1. Februar 2019 | 1
NachDenkSeiten - DDR-Dämonisierung mit Grusel-Märchen, Meinungsmache mit „wahren Begebenheiten“ | Veröffentlicht am: 1. Februar 2019 | 1
Eine aktuelle Debatte um den Film „Das Leben der Anderen“, den Schriftsteller Christoph Hein und den Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck wirft ein Licht auf potenzielle Manipulationen durch
„historische“ Filmstoffe: Die Übergänge zwischen Doku, Fiktion und Propaganda sind zunehmend fließend. Von Tobias Riegel.
„Nein, ‚Das Leben der Anderen‘ beschreibt nicht die 80er Jahre in der DDR – der Film ist ein Gruselmärchen“. Dieser kürzlich geäußerte Satz entlarvt in wohltuender Deutlichkeit sowohl den Film von
2006, als auch jene Medien, die den fragwürdigen weltweiten Kassenschlager in den Stand einer realistischen DDR-Darstellung erhoben haben. Aufgeschrieben hat die kritischen Worte der Schriftsteller
Christoph Hein in einem Artikel für die „Süddeutsche Zeitung“. In dem Beitrag geht Hein mit dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck hart ins Gericht. Nach seiner Darstellung hat Donnersmarck
Heins Biografie verzerrt und als klischeehafte Basis für den im Film porträtierten „typischen DDR-Dramatiker“ ausgebeutet: Alles, was Hein dem Regisseur in Interviews erzählt habe, sei von diesem
„bunt durcheinandergemischt und dramatisch oder vielmehr sehr effektvoll melodramatisch neu zusammengesetzt worden“. Anlass für Heins Artikel sind auch aktuelle Vorwürfe, die der Maler Gerhard
Richter gegen Donnersmarck wegen dessem neuen Film „Werk ohne Autor“ richtet – der Regisseur habe Richters Lebensgeschichte „missbraucht und grob verzerrt“. Unterhaltsame Anti-DDR-Propaganda „Das
Leben der Anderen“ ist kurzweilige Unterhaltung auf hohem schauspielerischen Niveau – aber er ist auch reißerisch, klischeehaft und historisch an zahlreichen Stellen ungenau. Dennoch wurde er durch
die zahllosen hymnischen Kritiken zur realistischen DDR-Darstellung verklärt. Durch diesen medialen Chor wurde auch die seit 2006 artikulierte Kritik übertönt und der Film entwickelte sich nahezu
ungebremst zu einer bis heute höchst wirkungsvollen DDR-Dämonisierung. Es ist gut, dass Hein dem endlich etwas entgegensetzt. Er schätzt allerdings auch seinen Wirkungsgrad realistisch ein: „Der Film
wurde ein Welterfolg. Es ist aussichtslos für mich, meine Lebensgeschichte dagegensetzen zu wollen. Ich werde meine Erinnerungen dem Kino anpassen müssen.“ Diese Resignation teilt Hein mutmaßlich mit
zahlreichen DDR-Bürgern Aber man muss Hein leider Recht geben: Gegen die große Medien-Koalition, die dem Film eine historisch-politische Authentizität bescheinigte, war und ist kaum anzukommen: Die
„Welt“ schwärmte, Donnersmarck treffe den Tonfall des DDR-Lebens, als hätte er es miterlebt. Die „Süddeutsche Zeitung“ unterstellte dem formal bemerkenswerten Film, dass die Schönheit der Bilder
stets „der Wahrheitsfindung“ diene. Der katholische „Filmdienst“ lobte das Werk, für eine „präzise Darstellung der Milieus“: Die DDR erscheine „erschreckend authentisch“. Die „Zeit“ konnte den
„bisher besten Nachwende-Film über die DDR“ gar nicht genug loben: „‚Das Leben der Anderen‘ ist politischer als ‚Sonnenallee‘, philosophischer als ‚Good Bye, Lenin!‘, sarkastischer als ‚Berlin is in
Germany‘ – eine Kinonovelle, die deprimierende Einsichten in die Herrschaftsmechanismen der Diktatur gewährt.“ Der Film wurde Schülern als realistische Beschreibung der DDR in der 80er Jahren
serviert und sowohl das Goethe-Institut als auch die Bundeszentrale für Politische Bildung widmen dem Film eigene, wohlwollende Materialien: „Eindringlich und dramatisch akzentuiert versucht „Das
Leben der Anderen“ eine Zustandsbeschreibung der Kulturszene der 1980erJahre in einem repressiven Staat.“ Die Kritiker das Films hatten und haben keine Chance Treffende Analysen des Films wurden von
den kritiklosen Beiträgen zugeschüttet – etwa die der „taz“, die urteilte , der Film scheitere an billigen Klischees. „Das leben der Anderen“ erhebe den Anspruch historischer Wahrhaftigkeit, leiste
sich aber Ungenauigkeiten. Der gezeigte Hochstalinismus treffe für die DDR um 1985 nicht zu. Fazit: „Es sind diese Vermischungen von behaupteter Geschichtsschreibung und ungehemmter Kolportage, die
‚Das Leben der Anderen‘ letztlich scheitern lassen.“
Mit seinem aktuellen Versuch, den Film als die unterhaltsame, aber verfälschende Fiktion zu beschreiben, die er ist, tritt Hein sowohl den fundamentalistischen DDR-Gegnern als auch den medialen
Unterstützern von „Das Leben der Anderen“ auf die Füße. Einigen Journalisten ist ihr damaliges kritikloses Wohlwollen inzwischen mutmaßlich peinlich. Entsprechend harsch wollte etwa Andreas Platthaus
Hein in der „FAZ“ zurechtweisen, was aber nicht recht gelingen wollte. In dem Artikel wird auf allerhand Formalien hingewiesen, um Hein Falschaussagen zu unterstellen und um zu „beweisen“, dass der
Film gar nicht auf den Gesprächen mit Hein beruhe. Auf den „gravierenden“ Vorwurf, eine von Hein angesprochene Stelle befinde sich im Abspann und nicht im Vorspann, hat Hein inzwischen entsprechend
trocken reagiert: “In dieser ,Kernfrage’ will ich nach einem Jahrzehnt gern einen Irrtum einräumen”. Das Unbehagen im Zusammenhang mit dem Film aber bleibe, so Hein.
Einerseits „authentisch“ – andererseits „Fiktion mit künstlerischer Freiheit“ Bei der Beurteilung des Films als reales DDR-Bild wird stets eine Hintertür offen gehalten: Wenn konkrete historische
Falschdarstellungen moniert werden, betonen die Journalisten und der Regisseur plötzlich den „fiktionalen Charakter“ und die künstlerische Freiheit der „authentischen“ Geschichte. Zusätzlich wird
Kritik abgewehrt, indem genaue Analysen der realen DDR-Zustände als „zynisch“ und „verharmlosend“ diffamiert werden. „Das Leben der Anderen” hat aber durch die mediale Erhöhung den Stand der reinen
Fiktion lange verlassen. Und wenn es reine Fiktion ist, dann darf man den Film auch als propagandistisches Märchen bezeichnen. Im Falle „Das Leben der Anderen“ konnte man ein ähnliches Phänomen wie
bereits bei den Genres Western und Kriegsfilm feststellen: Geschickt gemachte Fiktion entwickelte sich durch fehlendes mediales Hinterfragen zur Hyperrealität. Die FAZ spricht in diesem Zusammenhang
einen interessanten Punkt an: „Und nebenbei offenbart seine (Heins) Anekdote zum ‚Leben der Anderen‘ ein Fiktionsverständnis, das für einen Romancier in der Tat als Offenbarungseid gewertet werden
muss.“ „Das Leben der Anderen“ sei ein Spielfilm, der nicht für sich in Anspruch nehme, nach einer wahren Geschichte gearbeitet zu sein: “Er ist eine qua Gattung ausgewiesene Fiktion.“ Manipulationen
mit „historischen Stoffen“ – auch bei Netflix Das Phänomen einer medial ins angeblich Reale erhobenen Fiktion lenkt den Blick auf die zahlreichen Mischformen der historischen Betrachtungen in Filmen:
Die Kontur zwischen Fiktion und „Dokumentation“ verschwimmt zusehends. Das ist vor allem bei sogenannten Dokudramen der Fall: TV-Serien, die auf „wahren Begebenheiten“ beruhen, etwa die
Netflix-Produktionen „Narcos“, „O.J. Simpson“ oder „The Assasination Of Gianni Versace“. Diese „Dokus“ werden mit Fiktionen aufgepeppt und politisch aufgeladen. Für dieses Verfahren blenden die
Produzenten vor den Filmen mittlerweile standardmäßig diesen Freifahrtschein für Manipulationen ein: „Nach wahren Begebenheiten. Einige Szenen, Namen, Charaktere, Vorfälle und Orte sind aus
dramaturgischen Gründen fiktiv.“ Es sind dann aber gerade die fiktiven Szenen und Dialoge, in denen eine politische Tendenz gelegt wird. Etwa in der Serie „Narcos“ zum US-Drogenkrieg wird dieses
Stilmittel exzessiv genutzt, um die historisch schwer belasteten DEA-Beamten in „privaten“ (historisch nicht belegten) Szenen als ums „Gute“ bemühte Agenten zu zeichnen. Diese Filme nach angeblich
wahren Begebenheiten sind prinzipiell völlig anders gelagert als „Das Leben der Anderen“, dessen Fiktionalität bei Bedarf(!) sogar betont wird. Aber die Fälle hängen doch zusammen, da beide Varianten
ein großes Potenzial für Kultur- und Geschichts-Propaganda bieten. Im Fall „Das Leben der Anderen“ wird eine Fiktion medial so lange als real dargestellt, bis Unstimmigkeiten zur Klassifizierung als
Fiktion zwingen. Anschließend wird wieder zur Aussage von der „realistischen Darstellung“ zurückgekehrt. Im Fall „Narcos“ wiederum werden angeblich „wahre“ Doku-Dramen durch (kleingeredete) fiktive
Elemente für Propaganda missbraucht. Dreiste historisch-politische Propaganda Zwei besonders dreiste Beispiele für Propaganda mit angeblich wahren Begebenheiten ist der Anti-Wikileaks-Film »Inside
Wikileaks« von Bill Condon oder das Machwerk „U-571″, in dem Hollywood das Erbeuten der Enigma-Code-Maschine der US-Armee und nicht den Briten zuschlägt. Die Liste ähnlich gelagerter Filme ließe sich
lange fortsetzen. Auch ist die Kollaboration zwischen US-Armee und Hollywood längst kein Geheimnis mehr. „Westdeutsche Fantasie“ dominiert DDR-Geschichtsschreibung Hein wird aktuell auch in Schutz
genommen – vielleicht ist das Anzeichen für einen langsamen Paradigmenwechsel? So verteidigt ihn sein ehemaliger Lektor Thorsten Ahrend, und in diesem Gespräch mit dem „Deutschlandfunk“ werden auch
endlich die richtigen Fragen gestellt:
„Im vergangenen Jahr wurde ja viel geredet über die Ostdeutschen, auch über die Anerkennung von ostdeutschen Biografien und Lebenserfahrungen. Geht es darum im Prinzip auch hier (…)? Ein
ostdeutscher Christoph Hein erinnert sich an sein Leben in der DDR, er spricht über einen Film, der sich mit dieser Zeit, seiner Lebenszeit, beschäftigt, und dann haben wir einen westdeutschen
Journalisten, eben Andreas Platthaus, der erklärt Christoph Hein, du erinnerst dich falsch, und dass du dich falsch erinnerst, das macht dich politisch verdächtig.“
Und auch die „Zeit“ wendet sich gegen die „Denunziation“ Christoph Heins:
„Vielleicht hat nicht mehr jeder in Erinnerung, dass Hein zu jenen Schriftstellern in der DDR gehörte, die sich der Diktatur mit einem Mut entgegenstemmten wie nur ganz wenige. Auf dem 10.
Schriftstellerkongress der DDR mit einer DDR-Dämonisierung mit Grusel-Märchen, Meinungsmache mit „wahren Begebenheiten“ | Veröffentlicht am: 1. Februar 2019 | 5
NachDenkSeiten - DDR-Dämonisierung mit Grusel-Märchen, Meinungsmache mit „wahren Begebenheiten“ | Veröffentlicht am: 1. Februar 2019 | 5
aufsehenerregenden Rede die Abschaffung der Zensur zu verlangen, dafür brauchte man mehr Rückgrat, als die westdeutsche Fantasie heute hergibt.“
Zahlreiche Beispiele – etwa dieser Beitrag über „ostdeutsches Demokratieverständnis“ im Deutschlandfunk vom Donnerstag – belegen, dass diese „westdeutsche Fantasie“ die DDRGeschichtsschreibung
noch immer in destruktiver Weise dominiert
Als Krenz zum ersten Auslandsbesuch als Partei- und Regierungschef am 1.
11. 1989 bei Gorbatschow war, warnte der noch vor den Bonner „Nationalisten“.
Foto:
SZ Photo
Egon Krenz fließt über, will Botschaften übermitteln, mahnen, Lügen korrigieren
– erklären, wie es wirklich war. Der Mann ist 82. Jetzt geht es um sein Vermächtnis. In 30 Jahren als FDJ- und Parteifunktionär hat er viel erlebt, und es gibt viele Menschen, die hören und lesen
wollen, was er mitzuteilen hat.
Etwa 500 Leute füllten am Donnerstagabend den großen Saal im Russischen Haus an
der Friedrichstraße, wo Krenz das jüngste seiner acht Nachwendebücher vorstellte. Das Thema „Wir und die Russen“ – für Deutschland eine seit Jahrhunderten schicksalbestimmende Frage – hochaktuell, und
hochemotional, zumal im Osten Deutschlands.
Egon Krenz ist über Verhältnis zu Russland
erschüttert
In den vorderen zwanzig Parkettreihen saßen auf reservierten Plätzen Weggefährten und
-gefährtinnen, darunter der Vize-Verteidigungsminister der DDR, Fritz Streletz, der Ex-SED-Funktionär Siegfried Lorenz und der letzte Vorsitzende der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische
Freundschaft, Bruno Mahlow. Die Haarfarbe Grau dominierte, doch wenn die Genossen einander auf die Schulter klopften, klang das kräftig.
Eigentlich sollte eine Buchvorstellung stattfinden, eine Lesung. Doch Krenz kennt
diese Tonlage nicht, jeder Satz klingt nach Kundgebung: laut und dröhnend. Er will, dass man das Buch als authentischen Bericht versteht: „Was ich schreibe, habe ich nicht von anderen
gehört oder mir von irgendwem angelesen“, sagt er. Alles selbst erlebt oder aus originalen Unterlagen erarbeitet, „keine Vermutungen, alles Fakten“. Das Werk trage autobiografische Züge und sei
„keine Abrechnung“.
Gut gelaunt Egon Krenz präsentiert im
Russischen Haus an der Friedrichstraße sein neues Buch "Wir und die Russen" und winkt seinen Fans zu.
Foto:
Gerd Engelsmann
Krenz beginnt mit einer klarsichtigen Feststellung vom 11. November 1948, die
auf Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des Neuen Deutschland, zurückgeht: „Ohne ein aufrichtiges Verhältnis der Deutschen zu den Russen gibt es keine gesicherte Zukunft des deutschen Volkes.“ Das
wurde DDR-Staatsdoktrin. Krenz ist erschüttert, „wie heutige Politiker das gute Verhältnis verspielen“. Der Kanzlerin legt er auf dem Sterbebett gesprochene Worte des Eisernen Kanzlers Otto von
Bismarck nahe: „Nie, nie gegen Russland.“
Egon Krenz gibt Einblicke in seinen Eindruck
von Gorbatschow
Heute stünden Nato-Truppen wieder nahe der russischen Grenze – wie am 22. Juni
1941, als Nazideutschland die Sowjetunion überfiel. Was aus deren Sicht nie wieder geschehen sollte, sei auch mit Zustimmung Angela Merkels geschehen, und Krenz fragt: „Wie kann eine
kluge Frau, die die DDR-Schule besucht und auch in der DDR studiert hat, zu einer so falschen Einschätzung kommen?“
Applaus brandet auf, als er ausruft: „Deutsche Panzer an der russischen Grenze sind
eine Schande!“ Das sehen die anwesenden Vertreter der russischen Botschaft ganz genauso.
Dass die Sowjetunion an der Wiege der DDR stand und an ihrem Totenbett – das
bezweifelt keiner. Spannender ist die Frage, wie Egon Krenz Michail Gorbatschow sieht, mit dem er häufig, auch vertraulich, gesprochen hat. Die einstige DDR-Wirtschaftselite nennt den
Führer der UdSSR umstandslos „Totengräber der DDR“.
So direkt wird Krenz nicht, seine Berichte aus den Kulissen der Macht, die Details und
Stimmungswechsel, Gorbatschows Widerstand gegen Honeckers Annäherung an die BRD, sind äußerst aufschlussreich. Das Resümee allerdings fällt deutlich aus: „Als die Sowjetunion im Sterben lag, hatte
die DDR keine Chance mehr.“
Egon Krenz schreibt sich den friedlichen
Verlauf der Revolution zu
Jahre später besuchte Krenz den einstigen sowjetischen Außenminister und
Gorbatschow-Mitstreiter Eduard Schewardnadse, inzwischen Präsident Georgiens, und ließ sich von dessen Klarheit noch schockieren: „Wir mussten die Sowjetunion erhalten und mussten den Ballast
DDR abwerfen.“ Krenz sagt: „Da war ich am Boden zerstört. Ballast! Wir waren die treuesten Verbündeten der Sowjetunion!“
Da spricht der leutselige Egon. Der andere, der Machtmensch, findet,
Gorbatschow oder Jelzin hätten eine Alternative gehabt: „Sie hätten den Weg der chinesischen Kommunisten wählen können!“ Das ruft die einzige Publikumsreaktion des ganzen Abends hervor: „Welchen Weg
bitte?“, fragt ein Mann. Krenz: „Die haben Hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt!“
Als Krenz zum Thema Wende und Gewalt gegen Demonstranten kommt, dröhnt es noch
leidenschaftlicher aus dem massigen Körper. Jetzt geht es um seine Ehre, sein Vermächtnis. Dass die Revolution friedlich verlief, schreibt Krenz sich auch selber zu – und dem
verantwortungsvollen Handeln der Sicherheitskräfte wie der Bürgerbewegung.
„Keine Demütigung kann eine Wahl der AfD
rechtfertigen“ - sagt Egon Krenz
Tatsächlich kann Krenz zum Beweis ein starkes Dokument vorlegen: den Befehl Nr. 11/89
, unterzeichnet am 3. November 1989 vom Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, Egon Krenz. Darin folgender Absatz: „Die Anwendung der Schusswaffe in Zusammenhang mit möglichen
Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.“ So war man – bei aller Polizei- und Stasigewalt – auch in den Wochen zuvor verfahren. Und: Die sowjetischen Streitkräfte blieben in den
Kasernen.
Mit hochrotem Kopf weist Krenz die zahlreichen, von westdeutschen Politikern in
die Welt gesetzten, von Medien und weiteren Politikern immer wieder multiplizierten Fake News zurück. Bundespräsident Horst Köhler habe in einer Rede 2009 zum Mauerfall das Märchen erzählt, am Tag
der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 hätten Panzer vor Leipzig gestanden, man habe Leichensäcke und Blutplasma bereitgehalten für mögliche Opfer von Polizeischüssen. Lüge!
Da hat der Egon recht, wie auch in seinen zornigen Erinnerungen an die
millionenfache Herabwürdigung von DDR-Biografien. Aber, das muss dann doch sein: „Keine Demütigung kann eine Wahl der AfD rechtfertigen“, ruft Krenz ins Ost-Publikum.
Egon Krenz ist Zeitzeuge - und verkündet
bedenkenswerte Teile historischer Wahrheit
Krenz selber war nach der Wende die Figur, an der man sich gut abarbeiten konnte – der
Depp, der Dogmatiker, keiner nahm ihm die Reformer-rolle ab. Heute räumt er Fehler ein, verpasste Chancen, doch seinen Überzeugungen ist er treugeblieben. Die einen nennen das unbelehrbar, die
anderen bewundern es.
Von seiner Unfähigkeit, auf der Höhe der Zeit zu handeln, kündet der 9. November 1989
und die folgende Nacht. Dass Günther Schabowski zur Überraschung aller Welt die Grenzöffnung mit sofortiger Wirkung verkündete, erklärt Krenz heute mit „unkonzentrierter Vorbereitung der neuen
Grenzregelung“.
Dass vom ersten Mann der DDR über den Abend, als die Menschen durch die
geöffneten Grenzübergänge strömten, nichts zu sehen und zu hören war, erklärt er so: „Ich habe in meinem Büro gearbeitet. Es war viel zu koordinieren. Es gab viele Anrufer. Um 0.30 Uhr bin ich
nach Hause gefahren und habe geduscht.“
Heute langweilt es, Egon Krenz routiniert als Witzfigur abzutun. Es bringt
sicherlich mehr, ihn kühl als den zu sehen, der er unbestreitbar ist: ein Zeitzeuge, der zwar nicht die historische Wahrheit verkündet, aber bedenkenswerte Teile davon.
Anbei erscheinen ein paar Literaturerscheinungen, Fakten usw. die alle Interessierten ein umfangreiches Wissen über die Geschichte DDR und deren Einverleibung durch die BRD 1990 geben. Natürlich
erhebe ich mit diesen Hinweisen an Literatur nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Es wird ständig weitere Ergänzungen geben.
Viele Spitzenkader der DDR haben gegen deren Ende selbst den Boden für den Übergang zum
Kapitalismus bereitet - zu diesem provokanten Schluss kommt Klaus Blessing in seinem neuen Buch. Obwohl die ökonomische Abschlussbilanz der DDR von 1990 besser war als die von vielen entwickelten
kapitalistischen Ländern heute, gab es den »Schürer-Bericht« vom 30. Oktober 1989 mit seiner falschen Behauptung der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit des Landes. Dem ging allerdings
eine lange Reihe an Handlungen, Beschlüssen und Anordnungen voraus, die von einem grassierenden Misstrauen gegen die eigene sozialistische Wirtschaftsweise zeugen. Doch wann hörten Unkenntnis und
Unvermögen auf, und wann begann das Kalkül? - Denn auch das, so zeigt der Autor eindeutig, ist Teil der Agonie der DDR, ein »planvolles Agieren gegen den Plan«, das schlussendlich zum weitgehenden
Verschwinden einer ganzen Volkswirtschaft führte. Belegt mit einer Vielzahl an Akten und Dokumenten, liefert Klaus Blessing unangenehme Einsichten zum Verständnis der Wende.
Biografie
Klaus Blessing, Jahrgang 1936, Ökonomie-Studium an der Karl-Marx-Universität Leipzig,
später noch Ingenieurstudium. Von 1968 bis 1970 Stellvertretender Ökonomischer Direktor im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO), danach Abteilungsleiter im Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali.
Seit 1980 Staatssekretär, von 1986 bis 1989 Leiter der Abteilung Maschinenbau und Metallurgie im ZK der SED.
Anmerkungen:
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Preiserhöhungen oder -senkungen an Sie weitergeben müssen.
Neue Zahlen, neue Fakten als der Westen die Zahlung der Reparationen
einstellte, zu denen er 1945 in Potsdam verpflichtet worden war, blutete der Osten für ihn mit. Bis 1961 nutzte man das Arbeitskräftereservoir der DDR, nach dem Mauerbau musste man sich
"Gastarbeiter" aus Südeuropa holen. Und als die DDR unterging, kamen Versandhäuser im Westen unter die Räder: Bis dahin hatten sie ihre Kataloge mit Schnäppchen aus dem Osten prall gefüllt ... Klaus
Blessing stellt die Wahrheit auf die Füße. Nicht der Osten lag dem Westen auf der Tasche, sondern umgekehrt. Der Wirtschaftsfachmann rechnet vor,…mehr
Neue Zahlen, neue Fakten als der Westen die Zahlung der Reparationen einstellte, zu denen er 1945 in Potsdam
verpflichtet worden war, blutete der Osten für ihn mit. Bis 1961 nutzte man das Arbeitskräftereservoir der DDR, nach dem Mauerbau musste man sich "Gastarbeiter" aus Südeuropa holen. Und als die DDR
unterging, kamen Versandhäuser im Westen unter die Räder: Bis dahin hatten sie ihre Kataloge mit Schnäppchen aus dem Osten prall gefüllt ...
Klaus Blessing stellt die Wahrheit auf die Füße. Nicht der Osten lag dem Westen auf der Tasche, sondern umgekehrt. Der Wirtschaftsfachmann rechnet vor, wie und in welchem Maße die DDR zum Wohlstand
in der BRD beitrug.
Die ökonomische Situation der DDR, die Aktiva und Passiva eines Staates,
dessen Entwicklung von der Politik der Supermächte abhängig war, ist noch immer nicht abschließend erläutert, vorliegende Teiluntersuchungen sind zudem nicht selten aus politischen Gründen verzerrt.
War die DDR 1989 wirtschaftlich am Ende? Eine emotional aufgeladene Diskussion ersetzt nicht die sachliche Analyse und die Benennung der Ausgangssituation. Die Auflösung des in der DDR praktizierten
Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sowie die gewaltigen Transformationsprozesse und deren Hauptinstrument, die Treuhand und ihre Nachfolgeeinrichtungen, unterzieht Siegfried Wenzel einer
kritisch-bilanzierenden Betrachtung.Das Buch liefert auch für Laien und Nichtökonomen aufschlußreiches Material.
Die Flachzangen aus dem Westen (Spotless)Taschenbuch
Die grauen Mäuse haben gut grinsen. Dort, wo sie herkamen, waren sie stets
zweite oder dritte Wahl, weshalb sie kaum Aussicht auf Aufstieg hatten. Doch als die DDR unterging, schickte man sie aus der westdeutschen Warteschleife in den Osten, wo sie schon bald alle wichtigen
Ämter in Politik, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, bei Medien und Militär, an Hoch- und Fachschulen besetzten. Als ihre Grenzen offenbar wurden, blieb das ohne Folgen. Wer hätte sie feuern können?
Graue Mäuse sind wie schwarze Krähen: Keine hackt einem Artgenossen die Augen aus. Um die Unfähigkeit zu kaschieren, setzte die Rotation ein. So zogen sie weiter, von Amt zu Amt. Klaus Huhn hat
einige Biografien von »Aufbauhelfern« untersucht und fand erstaunliche Karrieren vor. Ein Wessi kann eben alles, ist flexibel und natürlich durchsetzungsfähig in jeder Funktion. Eine Flachzange ist
ein Werkzeug. Der Volksmund bezeichnet damit aber auch einen Menschen, der im Oberstübchen nicht sonderlich gut möbliert ist, sich seiner Einfalt jedoch nicht bewusst ist und auftritt, als sei er
sehr bedeutend. Diese Differenz von Anspruch und Wirklichkeit mag hingehen, wenn diese Menschen kein Amt und keine Funktion haben. Wenn sie jedoch, wie nach 1990 massenhaft geschehen, in den Osten
drängten und dort allein aufgrund ihrer Herkunft Immobilien, Unternehmen, Leitungs- und politische Funktionen an den Hals geworfen bekamen (oder mit krimineller Energie sich dieser bemächtigten),
dann war das ein gesellschaftlicher Vorgang und keine lässliche Sünde. Klaus Huhn behandelt einige gravierende Fälle. Und zeigt, dass diese Flachzangen objektiv doch Werkzeuge waren: nämlich
Instrumente einer bestimmten Gesellschaft.
Der deutsche Goldrausch: Die wahre Geschichte der
Treuhand
Wie die DDR abgewickelt wurde – und wer daran
verdiente
Dirk Laabs erzählt die Geschichte der Treuhand, jener
»Superbehörde«, die ursprünglich angetreten war, das Volkseigentum der DDR vor dem Ausverkauf zu retten und am Ende verantwortlich war für drei Millionen Entlassungen. Es ist eine Geschichte, die im
Schatten der Wiedervereinigung stattfand. Laabs eröffnet uns einen neuen Blick auf die Wendezeit, sein Buch ist Wirtschaftsthriller und Geschichtsbuch in einem.
Die Treuhand ist das zentrale Symbol für eine in Teilen misslungene Wiedervereinigung. »Größtes Schlachthaus Europas« rief man ihr 1994 nach ihrer eigenen Abwicklung
hinterher. Niemals zuvor in der Geschichte hat es einen derart großen Konzern gegeben. Die Treuhand war für 10 000 Betriebe und vier Millionen Angestellte zuständig.
Im Osten herrschte 1989 Aufbruchseuphorie, im Westen Goldgräberstimmung. Wie das Rennen ausging, ist bekannt. Wie es dazu kam, schildert Dirk Laabs und bringt die
wichtigsten Insider erstmals zum Reden. Er beschäftigt sich mit einem der spannendsten und gleichzeitig wenig beleuchteten Kapitel der jüngsten deutschen Zeitgeschichte und wird Diskussionen
auslösen: War die Arbeit der Treuhand wirklich unumgänglich für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten? Und war sie letztlich erfolgreich?
Raubzug Ost: Wie die Treuhand die DDR plünderte (edition ost)
Schon manches ist über die Abwicklung der Wirtschaft der DDR geschrieben
worden. Dass dabei das Meiste zwar mit rechtsstaatlichen, aber keineswegs rechten Dingen zuging, räumten später sogar Politiker ein. Stets mit dem entschuldigenden Zusatz: »Es gab keine Alternative!«
Doch, es hätte sie gegeben. Man wollte sie nur nicht. Klaus Huhn hat einige der schlimmsten Kriminalfälle und den Umgang der Obrigkeit mit diesen untersucht. Seine kurzweiligen Darstellungen öffnen
nicht nur den Blick auf die hierzulande obwaltende Politik. Seine Berichte desillusionieren und ernüchtern.
Jetzt reden wir: Was heute aus der DDR-Wirtschaft
zu lernen ist (edition berolina)
Immer wieder ist über die DDR-Wirtschaft zu lesen, ohne den 'Wendeherbst'
von 1989 wäre unweigerlich ihr baldiger Kollaps eingetreten. Nur wenige stellen diese seit mehr als 20 Jahren kolportierte These infrage. Diese Anthologie rückt die wirklichen Verhältnisse in den
Fokus. Wirtschaftstheoretiker wie Christa Luft und Klaus Blessing und Wirtschaftspraktiker dazu gehören die in diesem Buch versammelten Kombinatsdirektoren, in deren Verantwortungen ehedem
zehntausende Beschäftigte arbeiteten berichten aus ihren Erfahrungen und zeigen die Realität in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Sie melden nicht nur begründete Zweifel an der grassierenden
Kollaps-These an, sondern schildern auch mit viel Sachverstand, was auch heute noch aus diesem reichen Erfahrungsschatz zu lernen ist.
Jetzt reden wir weiter!: Neue Beiträge zur DDR-Wirtschaft und was daraus zu lernen
ist
Nach dem überraschend großen Erfolg des ersten Bandes Jetzt reden wir. Was
heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist mit über 10 000 verkauften Exemplaren liegt nun der zweite vor, in dem erneut Kombinatsdirektoren und Wirtschaftsexperten zu Wort kommen. Herausgeberin
Katrin Rohnstock hat die einstigen Planwirtschaftslenker versammelt, um deren persönliche Geschichte und die ihrer großen Kombinate zu hören. Die daraus entstandene Anthologie nimmt die tatsächlichen
Verhältnisse der DDR-Wirtschaftsgestaltung unter die Lupe und räumt auf mit dem verzerrten Bild vom »Pleitestaat DDR«. Durch die Erzählungen wird sichtbar, wie unterschiedlich die Ausgangs- und
Interessenlagen waren, wie schwierig oft die Gratwanderung zwischen volkswirtschaftlichen, betrieblichen und sozialen Interessen. Ob aus der Energiewirtschaft, Automobilindustrie, Mikroelektronik,
Kosmetik- und Pharmaindustrie, Schuhproduktion, Sportgeräteherstellung oder der Genussmittelbranche kommend die Beiträger in diesem Buch zeigen allesamt, wie spannend und lehrreich die
DDR-Wirtschaftsgeschichte ist, die keine historischen Vorbilder kannte und sowohl in der Wirtschafts- als auch Strukturpolitik immer erst nach geeigneten Wegen suchen
musste. Ein ergreifendes Buch über ein großes Experiment, das sich
lohnt genauer kennenzulernen, um zu realisieren, was auch heute noch aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist.
Aufholen, ohne einzuholen!: Ostdeutschlands rastloser Wettlauf 1965-2015. Ein ökonomischer
Abriss
Kein Land in Europa ist in den letzten 50 Jahren so durch den Wettbewerb mit
seinem Nachbarn geprägt worden wie Ostdeutschland. Immer wieder wurden Strategien entwickelt, die den Lebensstandard des Ostens an den des Westens angleichen oder gar übertrumpfen sollten. Walter
Ulbricht proklamierte das 'Überholen, ohne einzuholen', Erich Honecker verkündete die 'Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik' und Helmut Kohl versprach den Ostdeutschen 'blühende Landschaften'.
Doch was haben diese Ein- und Aufholprogramme tatsächlich bewirkt? Jörg Roesler durchleuchtet, wie sich die ostdeutschen
Wirtschaftsverhältnisse unter den jeweils politisch dominierenden Kräften in DDR und BRD entwickelten. Dabei kommen überraschend andere Ergebnisse zutage als bundesdeutsche Politiker und Medien seit
Jahren verbreiten. Das gern gezeichnete Bild von der bis 1989 ständig gewachsenen Diskrepanz des planwirtschaftlich leistungsschwachen Ostens zum marktwirtschaftlich organisierten Westen, dem seit
Anfang der 90er Jahre ein kontinuierlicher Aufholprozess gefolgt sei, lässt sich nach Roeslers quellengestützter Analyse nicht aufrechterhalten. Er zeigt für das vergangene halbe Jahrhundert die
Phasen der Annäherung ebenso wie die der Stagnation und der Auseinanderentwicklung. Eine fundierte innerdeutsche Wirtschaftsprüfung für 25 Jahre vor und nach der
Wende.
Die verschwundene Arbeit: DDR-Betriebe, die es nicht mehr
gibt
So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben', sprach Mitte der 1950er
Jahre Frida Hockauf und wurde damit nicht nur für ihre eigene Arbeiterbrigade im VEB Mechanische Weberei Zittau eine Heldin der Arbeit. Wer den Plan erfüllte in einem der 1989 rund 8.000 Volkseigenen
Betriebe und Kombinate, stärkte auch den Sozialismus im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Mit der Wende wurden die DDR-Betriebe vielfach abgewickelt
Hunderttausende verloren ihre Arbeit, für viele war es schwer, im vereinten Deutschland beruflich noch einmal Fuß zu fassen. Umso sehnsüchtiger ist bei einigen der Blick zurück. Dieser Bildband porträtiert rund 50 der wichtigsten DDR-Arbeitsstätten, die es heute nicht mehr gibt. Von den VEB Dieselmotorenwerken Rostock über die Interflug, das
Kabelwerk Oberspree, die Leunawerke bei Halle, die Stadtbrauerei Leipzig, das VEB Stern-Radio Sonneberg bis hin zum Werkzeugkombinat Schmalkalden auf den Fotografien sind zudem die Hoffnungen und
Erwartungen, aber auch der Schweiß und die Mühen der Menschen noch zum Greifen nahe. Mit ausführlichen Bildunterschriften versehen, geben die Bilder Zeugnis ab von einer Zeit des Aufbruchs hin zu
einer besseren Welt, die heute mehr denn je in weite Ferne gerückt ist.
Exkursion durch volkseigene Ruinen: Vom
Verschwinden einer ganzen Volkswirtschaft
Bundeskanzler Helmut Kohl versprach 1990, aus den neuen Bundesländern
»blühende Landschaften« zu machen. Dass das »gelungen« ist, und zwar durch weitgehende Deindustrialisierung des Ostens mit der dazugehörigen Freisetzung von Arbeitskräften, zeigt Klaus Huhn in
gewohnt scharfzüngiger und sarkastischer Art und Weise. Er unternimmt eine virtuelle Exkursion quer durch
Ostdeutschland und veranschaulicht anhand von Zitaten und Fakten den fast fl ächendeckenden Niedergang der ostdeutschen, einst volkseigenen, Industrie. In alphabetischer Reihenfolge geht der
Streifzug von Angermünde und Apolda über Berlin und Eberswalde, Hettstedt, Hoyerswerda und Ilmenau bis Weißwasser, Wismar, Wittenberge und Zschopau und durch viele andere Orte mehr. Eine Spurensuche der besonderen Art: Was bleibt,
wenn eine ganze Volkswirtschaft verschwindet?
Verschwundene Orte der
DDR
Die DDR ist ein Land, das es nicht mehr gibt. Mit ihr wurden nach 1990 viele
Gebäude und Plätze beseitigt, die in 40 Jahren Deutscher Demokratischer Republik entstanden waren bzw. ihre Hochphase hatten. Es ist eine Binsenweisheit: Architektur hat nicht nur einen funktionalen
oder ästhetischen Charakter, sie sagt auch immer etwas über ihre Zeit und deren Ideale aus, ist Träger von Geschichte. Insbesondere verschwundene Orte erzeugen in der Erinnerung ein eigentümliches
Bild der Vergangenheit. Dieses Buch porträtiert zirka 100 verschwundene Orte der DDR in ihrer einstigen Blüte: von öffentlichen Bauten wie dem Palast der Republik oder der Gaststätte Ahornblatt in
Berlin über Wohngebiete in Chemnitz, Cottbus und Hoyerswerda, Arbeitsstätten wie die Dresdner Süßwarenfabriken »Elbflorenz« und den VEB Halbleiterwerk Frankfurt/Oder bis zu Grenzmarkierungen wie der
Mauer oder Intershops. Anhand ansprechender Fotografien und informativer Begleittexte bewahrt es sie in unserem kollektiven Gedächtnis!
DDR-Architektur
Unter oft schwierigen
Bedingungen und mit großem Idealismus entstand in der ehemaligen DDR eine Vielzahl ästhetisch hochwertiger Bauten, deren architektonischer Wert – auch im Kontext des Mid-Century Revivals – inzwischen
geschätzt wird. In den Jahren nach dem Mauerfall haben viele ostdeutsche Kommunen ihre Innenstädte allerdings generalüberholt und dabei auch zahlreiche architektonische »Altlasten« aus
sozialistischer Zeit beseitigt. Der Fotograf Hans Engels dokumentiert die heute unter dem Stichwort Ost-Moderne berühmt gewordenen Relikte sozialistischer Baukultur zwischen Rostock und Zwickau, wie
den Berliner Fernsehturm am Alexanderplatz, die Terrassenhäuser in Rostock-Evershagen, das Rundkino in Dresden oder den Teepott in Warnemünde – architektonische Zeugnisse einer Epoche ungebremsten
Idealismus’ und hochfliegender Zukunftspläne.
Ost Places: Vom Verschwinden und Wiederfinden der DDR
Was vom Osten übrig blieb: Ein Bildband über das Verschwinden und
Wiederfinden der DDR Dreißig Jahre nach der Wende ist Andreas Metz im Osten
Deutschlands auf Motivsuche gegangen: Was ist noch zu finden aus den vierzig Jahren Lebens- und Alltagskultur der untergegangenen DDR? Was an DDR-Architektur wurde erhalten, was stillschweigend oder
absichtsvoll dem endgültigen Verfall preisgegeben? Wo gab es Denkmalstürmerei, wo gibt es Denkmalpflege? Was fand selbstverständlichen Eingang in die gelebte Gegenwart? Sensibilität und Entdeckerlust
prägen seinen fotografischen Blick. Der umfangreiche Bildband »Ost-Places« ist eine Spurensuche durch die ehemalige DDR, vom Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz, über den »Teepott« in
Warnemünde und die Plattenbauten in Halle-Neustadt bis zum Karl-Marx-Kopf in Chemnitz. Dabei erzählen die Bilder auch von einem Wettrennen gegen die Uhr: Motive verschwinden, weil Gebäude abgerissen,
eine Inschrift oder ganze Wandgemälde übermalt wurden. Ost Places werden zu Lost Places. Aber auch das: Da biegt überraschend eine »Schwalbe« um die Ecke, werden Jugendweihen gefeiert, treffen sich
Alt und Jung bei der Traditionsdemo nach Berlin-Friedrichsfelde. Mit präzisen und zugleich ungeschönten Fotografien gibt der Bildband »Ost Places Vom Verschwinden und Wiederfinden der DDR« einen
Einblick in eine untergegangene Welt, die bis heute nachwirkt. Die Bilder von Andreas Metz fangen Geschichte von gestern ein und erzählen Geschichten von heute. Der gesamte Text des Buches ist zweisprachig verfasst (Deutsch und Englisch).
Die Ostdeutschen
zahlten die Reparationen, stärkten mit Fachkräften die Personaldecke, exportierten zu Dumpingpreisen Waren, die die Versandhauskataloge im Westen füllten.Quelle: krisenfrei Nach 1990 wurde das DDR-Volksvermögen vom Westen geplündert, es war die größte Industriedemontage in der
Geschichte der Menschheit und kein Volk auf Erden wurde so enteignet wie das Ostdeutsche, da 95% des Treuhandvermögens jetzt im West- Besitz ist.
Aus 600 Milliarden
Treuhandvermögen wurde am Ende eine Schreckensbilanz von minus 237 Milliarden D-Mark. Eine selbsttragende Wirtschaft ist in Ostdeutschland nicht mehr möglich, es werden immer große Transferzahlungen
von West nach Ost notwendig sein, woran die BRD langsam ausblutet. Die Treuhand nach dem Zerfall der DDR hatte den größten wirtschaftskriminalistischen Betrug in Deutschland zu verantworten und
die Menschen wurden einfach nur verkauft. Wann werden die Treuhandverbrecher endlich vor Gericht gestellt?
Der Westen schuldet
dem Osten mehr als 5 Billionen Euro, um diese Schuld abzutragen , müssten jährlich 25 bis 30 Milliarden Euro nach Ostdeutschland transferiert werden. Und das 150 Jahre
lang…
Filmhinweis: DER GOLDRAUSCH, ab 30.8.12 im
Kino “Vier kurze Jahre nur gab es die Treuhand, dann wurde sie
erfolgreich mit einem Verlust von 200 Milliarden Mark geschlossen. Der Dokumentarfilm ist ein differenziertes Porträt dieser Anstalt und zeichnet doch ein Bild, das viele immer schon hatten. Leider
stimmt es nicht. Es ist schlimmer.”
Macht und Eigentum, Paffrath Constanze– Während der Zeit der Teilung Deutschlands bestand kein Zweifel: die entschädigungslosen Enteignungen 1945-1949 in der Sowjetischen Besatzungszone
würden nach Beseitigung des SED-Unrechtsregimes wieder gutgemacht werden. Doch zur Überraschung vieler hob die Bundesregierung Kohl diese Unrechtsmaßnahmen im Prozess der Wiedervereinigung 1989/1990
nicht nur nicht auf, sondern legitimierte sie vielmehr, unter anderem durch eine Änderung des Grundgesetzes. Zur Rechtfertigung ihres Verhaltens berief sie sich auf eine angebliche Forderung der
Sowjetunion und der DDR-Regierung, die damaligen Konfiskationen um den Preis der Wiedervereinigung nicht wieder rückgängig machen zu dürfen: ohne Erfüllung jener Forderung sei die Einheit
Deutschlands nicht zu haben gewesen.§Dieser Wiedervereinigungslegende setzt die Autorin durch eine gründliche Auswertung aller verfügbaren Quellen ein Ende. hier weiter
Die große Enteignung– Volkseigentum – eine Kategorie, die dem bundesdeutschen Rechtssystem fremd ist. Deshalb rief man zur Wendezeit eilig die Treuhandanstalt ins Leben, um die VEBs der DDR auf
marktwirtschaftlichen Kurs zu bringen – mit fatalen Folgen. §Otto Köhler hat gründlich recherchiert und deckt nicht nur massive Schlampereien auf, sondern die gezielte Ausschaltung von Ost-Betrieben
durch West-Unternehmen in Allianz mit der Treuhand. Von wegen “Aufbau Ost” – eine erschütternde Bilanz. hier weiter
Die Rothschilds – Unglaublich, aber wahr: Es gibt eine unsichtbare Macht auf diesem Planeten, die seit mehr als zwei Jahrhunderten völlig unbehelligt am Rad der Geschichte dreht. Die
Familie Rothschild kontrolliert aus dem Hintergrund die Knotenpunkte zwischen Politik, Wirtschaft und Hochfinanz. Lange konnten sie sich in behaglicher Sicherheit wiegen, denn die Geheimhaltung stand
seit jeher im Mittelpunkt ihrer Strategie. Doch nun fliegt ihr Schwindel auf, die Mauer des Schweigens beginnt zu bröckeln, immer mehr Menschen wachen auf und erkennen die wahren Drahtzieher hinter
den Kulissen des Weltgeschehens! hier weiter
Langzeitlebensmittel zur Krisenvorsorge – Was essen Sie, wenn die Geschäfte geschlossen oder leer sind? Im Krisenfall werden die Supermärkte binnen weniger Stunden leer sein. Ein
Lebensmitteldiscounter schlägt sein Sortiment in der Regel alle zwei Tage komplett um. Das Bundesamt für Zivilschutz empfiehlt seit vielen Jahren, dass jeder Haushalt über einen Vorrat von mindestens
zwei Wochen verfügen sollte.
Die Schuld der DDR? Alternative zu Kapitalismus und Krieg 23.10.2019 • 06:00 Uhr https://de.rt.com/20cw
lle: Reuters Der 30. Jahrestag des Mauerfalls wird schon im Vorfeld von den hiesigen "Eliten" mit großem Brimborium gefeiert. Der 70. Jahrestag der hoffnungsvollen Gründung der DDR, des ersten
Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden, wurde hingegen pflichtbewusst ignoriert.
von Rainer Rupp In Großbritannien gibt die konservative Regierung für alles, was in Politik und Gesellschaft nicht funktioniert, den Russen und deren angeblichen Einmischung die Schuld. Auch in
Frankreich neigt man dazu, die Schuld für die eigenen Versäumnisse und die daraus entstandenen Proteste (z. B. Gelbwesten) den Russen und deren angeblichen "hybriden Kriegsführung" gegen Europa in
die Schuhe zu schieben.
Noch hysterischer als in London und Paris geht es in Washington zu, wo die Führer der Demokratischen Partei und Trumps Gegner aus dessen eigenen republikanischen Reihen die "böse Hand Russlands"
in allen Lebensbereichen des Landes erkennen. Demnach sind auch im "Land des unbegrenzten Irrsinns" die Russen an allem Schuld, was dort schiefläuft. Aber die in Washington herrschende Absurdität
geht sogar so weit, dass selbst "honorige" Politiker und Medienstars allen Ernstes Präsident Trump beschuldigen, ein russischer Agent zu sein, der von Präsident Putin mit Hilfe von
Erpressungsmaterial am Gängelband geführt wird. Der Beweis: Trump strebe ein gutes Auskommen mit Russland an. Abwegiger geht es nicht mehr.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland gab es einige zaghafte Versuche der Regierungsparteien CDU/CSU/SPD, die Schuld für ihr eigenes Versagen und die daraus resultierende Popularität der AfD auf
angeblich "verdeckte" russische Einmischung abzuwälzen. Aber diese erbärmliche Ablenkung vom eigenen Unvermögen erntete bei der breiten Masse der Bevölkerung mitleidiges Lächeln. Daher entschieden
die Propagandastrategen im Berliner "Ministerium für Wahrheit" auf das altbewährte Mittel zurückzugreifen und 30 Jahre nach ihrem Untergang weiterhin die DDR für alles verantwortlich zu machen, was
in unserem Land den wachsenden Protest der Bevölkerung hervorruft. Aber auch diese Masche kann von dem offensichtlichen eigenen Missmanagement immer weniger ablenken, vor allem im Osten.
Die großen Parolen der Politiker und Medien über die "blühenden Landschaften", der verklärte Aufbruch in die leuchtende Zukunft der "Deutschen Einheit", wo angeblich "zusammenwächst, was
zusammengehört", die vielen, den Menschen in Ost und West gegebenen Versprechen von einem sozial abgesicherten und materiell besseren Leben, in einer stabilen, von gegenseitiger Verantwortung und
Respekt geprägten Gesellschaft haben sich inzwischen als genau das erweisen, was sie von Anfang an waren, HEIßE LUFT.
Seit dem Verschwinden der DDR und ihres indirekten Einflusses als soziales Korrektiv auf die BRD haben die aufeinanderfolgenden Bundesregierungen, egal welcher parteipolitischen Zusammensetzung,
im neu vereinten Gesamtdeutschland einen zunehmend radikalen, neoliberalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kurs gefahren. Hatte in der Vorwendezeit, z. B. bei Tarifverhandlungen in der
Bundesrepublik, "die DDR mit ihren sozialen Errungenschaften stets unsichtbar mit den Gewerkschaften am Verhandlungstische gesessen" (so Danela Dahn), so gab es nach dem "Mauerfall" für das Kapital
kein Halten mehr. "Der Stärkere gewinnt, und der Gewinner nimmt alles", lautete ab jetzt das Mantra.
Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, sieht das erschreckende Resultat dieser bewusst betriebenen Politik an allen Ecken und Enden. Auch ohne Ostalgie oder unkritische Euphorie, die brutale
gesellschaftliche Realität in unserer heutigen Zeit zeigt, was mit der DDR verloren ging, trotz all ihrer Fehler und Schwächen.
Über zweieinhalb Millionen armer Kinder, die von der gesellschaftlichen Teilhabe weitgehend ausgeschlossen sind, existieren heute in unserem reichen Land, in dem Leute wie Frau Merkel "gut und
gerne leben". Mit ehrlicher Arbeit verdient heute kaum noch ein Malocher genug, um die ständig steigenden Mieten zu zahlen und zugleich seine Familie zu ernähren und die Bildung der Kinder zu
gewährleisten. Hinzu kommt die ständige Angst um den Arbeitsplatz.
Der bereits so oft gehörte Satz, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, gilt heute noch genauso wie vor zehn, 20 oder 30 Jahren – mit dem Resultat, dass die Schere
zwischen denen, die haben, und jenen, die nichts haben, in all den Jahren immer größer geworden ist. Die von unseren Politikern selbstgemachten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Probleme häufen sich. Auf einer schiefen Ebene gleiten nicht nur Deutschland, sondern auch die meisten EU-Länder ständig weiter ins gesellschaftliche Chaos ab. Bei den schwachen und bereits
neoliberal gewendeten Gewerkschaften und den in sich uneinigen linken Parteien ist von der Seite keine Korrektur zu erwarten. Und in den regierenden Parteien fehlt der politische Wille, diese
Entwicklung zu stoppen und umzukehren, denn unkonventionelle staatliche Eingriffe in den geheiligten Markt sind tabu.
Viele Politberater und auch die Klügeren unter den Politikern haben bereits erkannt, dass es ohne einen radikalen Kurswechsel keine Lösung für die sich zuspitzenden Probleme gibt. Aber offen
darüber zu reden, käme nicht nur dem Eingeständnis der Unfähigkeit der eigenen Parteien gleich, sondern auch dass über Jahrzehnte die falsche Politik betrieben wurde. Also heißt die Devise: Kopf
einziehen und auf Zeit spielen, in der Hoffnung, dass man sich irgendwie durchwurschteln kann, obwohl man immer tiefer in die Sackgasse geht. Und damit die Wähler von all dem nichts merken, muss man
sie natürlich mit neu erfundenen Themen wie der Gender-Debatte ablenken oder ihnen mit der Klima-Hysterie Angst vorm Weltuntergang einjagen, um sie opferbereiter zu machen, damit sie Verzicht üben
und – um die Welt zu retten – höhere Energiepreise und Steuern zahlen, auch wenn sie dadurch noch weniger Kaufkraft in der Tasche haben.
Indoktrination der DDR-Schuld Und wer ist schuld an all diesen Problemen? Die DDR natürlich! Mit dieser angeblich unverrückbaren "Tatsache" werden die Bundesbürger anlässlich des 30. Jahrestages
des Mauerfalls schon im Vorfeld mit einer gigantischen Medienlawine indoktriniert. Alles Böse und alles Schlechte, was uns heute zu schaffen macht, einschließlich der üblen AfD, haben ihre Wurzeln in
der DDR. Das zumindest ist die Quintessenz der Berichte der PresstituiertenGemeinschaft aus den öffentlich-rechtlichen bis hin zu den privaten Medien.
Allerdings haben einige Politiker inzwischen mitbekommen, dass die ständige Dämonisierung der DDR in Ostdeutschland nicht gut ankommt, oder wenn die Wessis immer besser wissen, wie die
Ostdeutschen in der DDR gelebt haben als die Ostdeutschen selbst. MecklenburgVorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) hat daher versucht, etwas zu bremsen. Frau Schwesig stört sich
neuerdings an dem Begriff "Unrechtsstaat". Dieser werde von vielen Menschen, die in der DDR gelebt haben, als herabsetzend empfunden und wirke, "als sei ihr ganzes Leben Unrecht gewesen", so Frau
Schwesig. Deshalb nennt sie jetzt die DDR lieber "Diktatur", was die DDR auch war, nämlich eine Diktatur der Arbeiterklasse statt einer Diktatur des Kapitals, wie sie bei uns herrscht.
Während der Mauerfall landauf, landab gefeiert wird, als gäbe es keine anderen Probleme, war der Jahrestag der Gründung der DDR unseren gleichgeschalteten Medien kein Wort und keine Zeile wert.
Selbst die Führung der Partei Die Linke und deren Hauszeitung Neues Deutschland schwiegen zum 70. Geburtstag der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober. Das verwundert nicht. Denn Die Linke
wird zunehmend als Partei wahrgenommen, die im bürgerlichen Politikbetrieb angekommen ist und dabei linke Grundpositionen aufgibt. Eine klare Position für eine sozialistische Alternative sei bei ihr
nicht mehr erkennbar, erklärte
der Vorsitzende des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden (OKV) in Berlin bei einer Festveranstaltungen zum Jahrestag der DDR-Gründung, an der immerhin 500 Menschen teilnahmen. Um in
Regierungsverantwortung zu kommen, habe sich die Linke stromlinienförmig angepasst und sei dazu übergegangen, ihre Wurzeln zu leugnen und die Geschichte der DDR zu diffamieren. Die
DDR-Errungenschaften, im sozialen und gesellschaftlichen Bereich, in der Friedenspolitik, beim Antifaschismus, in Bildung und Kultur, würden verschwiegen oder kleingeredet. Die kritische Aufarbeitung
der alles andere als blütenreinen Weste der BRDGeschichte werde dagegen weitgehend ausgespart, sagte der OKV-Vorsitzende und fügte hinzu: "Die Partei Die Linke verliert im Osten Deutschlands an
politischer Akzeptanz bei vielen Bürgern." In der Tat lässt sich das unschwer am signifikanten Wählerwechsel von der Linken zur AfD erkennen.
Am Ende der Veranstaltung wurde eine Erklärung verabschiedet, dass die Maxime der DDR, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe, zur Maxime für ganz Deutschland werden müsse.
Alle Kriegseinsätze der Bundeswehr seien zu beenden und alle Waffenexporte zu stoppen.
Die Entsorgung der DDR Fakt ist, dass nach der sogenannten Wende 80 Prozent der volkseigenen DDR-Betriebe von ihren westdeutschen und zehn Prozent von internationalen Konkurrenten für 'n Appel und
'n Ei aufgekauft wurden. Dann wurden kurze Zeit später die Filetstückchen an Grund und Boden für teures Geld verkauft, während die Kundenkarteien der DDR-Betriebe von den Aufkäufern übernommen
wurden, um sie anschließend vom Westen aus zu beliefern. Die Belegschaften der DDR-Betriebe wurden in die aufblühende Massenarbeitslosigkeit entlassen. Heute, 30 Jahre später, stehen die inzwischen
total vergammelten Ruinen der volkseigenen Fabriken immer noch in der Landschaft, wo sie immerhin noch einen Zweck erfüllen, nämlich die angeblich "marode DDR-Wirtschaft" zu bezeugen.
Dass in diesen Fabriken einst Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern der DDR gleichberechtigt und ohne Angst vor unsicheren Arbeitsplätzen und ohne Drangsalierung den Mehrwert für das Volk und
nicht für die private Schatulle der Bosse und Aktionäre geschaffen haben, ist längst im offiziellen Gedächtnisloch der BRD entsorgt worden. Ebenfalls entsorgt wurden alle Erinnerungen an die vielen
sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften, auf die die meisten DDR-Bürger auch heute noch stolz sind, vor allem vor dem Hintergrund der realen Lebenserfahrung in der Ellenbogengesellschaft des
Siegerstaates BRD, wo das Prinzip gilt: "Der Gewinner nimmt alles."
Freiheit von wem oder von was? Damals allerdings, vor 30 Jahren, seien nicht wenige DDR-Bewohner auf "das Versprechen von blühenden Landschaften und den Konsum in Hülle und Fülle, ja und vor allem
der Freiheit" hereingefallen. Das sagte Andreas Maluga, Vorsitzender des DDR-Kabinett-Bochum vor 300 Gästen in seiner Begrüßungsansprache anlässlich einer anderen, feierlichen Veranstaltung zum 70.
Gründungstag der DDR. (Die vom DDR-Kabinett-Bochum organisierte Veranstaltung, die bereits im Vorfeld frühzeitig ausgebucht war, fand in Berlin-Marzahn am 10. Oktober statt.) Laut Maluga hätten sich
leider viele DDR-Bürger nicht die Frage gestellt: "Freiheit von wem oder von was?" Die Antwort darauf sei nach der Wende prompt gekommen: "Quasi über Nacht wechselten Betriebe, soziale Einrichtungen,
Wohnkomplexe und Agrarland ihren Besitzer: Volkseigentum, das jedem Bürger Ausbildung, Arbeit, Kultur und medizinische Versorgung garantierte, wurde jetzt privatwirtschaftlichem Kalkül
unterworfen."
Die Tatsache, dass das Wirtschaftsprodukt pro Kopf der Bevölkerung in der BRD deutlich höher war als das in der DDR, soll hier nicht geleugnet werden. Da zeugt jedoch nicht zwingend für "marodes
Wirtschaften". Wenn die BRD sich unter ähnlich schwereren Startbedingungen wie die DDR in den Nachkriegsjahren hätte entwickeln müssen (hohe Reparationszahlungen an die Sowjetunion in der DDR statt
Marshallplan-Hilfen für die BRD), wenn sie wie die DDR mit dem COCOM-Embargo der NATO vom wissenschaftlich- technischen Fortschritt der westlichen Länder ausgeschlossen gewesen wäre, dann würde ein
Vergleich ganz anders aussehen. Ungeachtet dessen haben die siegreichen BRD-Eliten weiter an der Legende der "maroden DDR-Wirtschaft" gearbeitet, wobei der Begriff "DDR" zu einem Synonym für
"Mangelwirtschaft" geworden sei, betonte Maluga in Berlin-Marzahn und führte weiter aus:
"Es stimmt, verglichen mit der BRD war das Angebot an Konsumgütern bescheiden. Wer sich jedoch in der Welt umgesehen hat, hat einen anderen Maßstab. Hatte die DDR einen Bildungsnotstand? Erfroren
im Winter Obdachlose? Starben in der DDR Menschen, weil sie sich keine medizinische Versorgung leisten konnten? Die DDR garantierte allen Bürgern die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechte, die die Vereinten Nationen in einer Internationalen Konvention 1966 festgelegt haben. Diese Rechte waren in der Verfassung verankert und damit für jeden Bürger einklagbar. Das Grundgesetz
kennt diese Rechte nicht. Sollen wir das vergessen?"
Tatsache ist, dass im vereinten Deutschland die in der UNO-Konvention verankerten "sozialen Menschenrechte", wie z. B. das Recht auf Arbeit oder das Recht auf ein Dach über dem Kopf,
systematisch unterschlagen werden, obwohl sie gleichrangig mit den sogenannten "bürgerlichen Freiheitsrechten" sind.
Vor diesem Hintergrund muss die seit 70 Jahren andauernde Hetze gegen alles, was auch nur nach DDR riecht, verstanden werden. Auch 30 Jahre nach ihrem Untergang stellt die DDR mit ihren sozialen
Errungenschaften noch eine Gefahr für die Herrschenden dar, zumal sich in der politisch zunehmend instabilen Bundesrepublik die sozialen Probleme weiter zuspitzen. Daher bergen positive Erinnerungen
an die DDR – trotz aller Rückschläge, Fehlentscheidungen und an manchen Stellen auch Ungerechtigkeiten – auch drei Jahrzehnte nach ihrer Zerschlagung für die Sieger gefährlichen Sprengstoff. Folglich
versuchen die Herrschenden und deren Presstituierten mit allen Mitteln alle positive Erinnerungen auszulöschen und den Drachen der sozialistischen DDR ein für alle Mal zu töten. Das wird jedoch immer
schwerer, wenn die realen Alltagserfahrungen der Menschen in zu offensichtlichen Widerspruch zu den Legenden der Drachentöter geraten.
Der ehemalige SED-Politiker Egon Krenz, der von Oktober bis Dezember 1989 knapp drei Wochen als Nachfolger Erich Honeckers SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR war, räumte in
einer ostalgiefreien Rede als Höhepunkt der Marzahner Veranstaltung mit den wichtigsten Legenden der westdeutschen Drachentöter auf. Seine Rede mit dem Titel "Nicht das DDR-Erbe, sondern Nazis und
Neonazis sind eine Gefahr für Deutschland" ist in ungekürzter Fassung samt Quellenangaben auf der Webseite des DDR-Kabinetts dokumentiert und über diesen Link zu erreichen.
"Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!" Dieser Schwur von Buchenwald sei das Fundament gewesen, auf dem die Deutsche Demokratische Republik am 7. Oktober 1949 gegründet wurde, so Krenz zu
Beginn seiner Rede. Aber nach dem Anschluss der DDR befinden sich deren Bürger jetzt in einem Deutschland, "das wieder Kriege führt, erst in Jugoslawien, dann in Afghanistan und in weiteren
Kampfeinsätzen mit mehr als 100 gefallenen deutschen Soldaten."
"In 40 DDR-Jahren habe nicht ein Soldat der Nationalen Volksarmee fremden Boden zu Kampfeinsätzen betreten. Undenkbar auch, dass ein Oberst der Nationalen Volksarmee wie jener der Bundeswehr in
Afghanistan einen Befehl hätte geben können, in dessen Folge allein in einer Nacht mehr als 150 Zivilisten getötet wurden und der dennoch zum General der Bundeswehr befördert wurde. Niemand könne die
Wahrheit aus der Welt schaffen, dass die DDR in der langen deutschen Geschichte der einzige Staat war, der nie einen Krieg geführt
hat. Allein das rechtfertigt, sich ihrer mit größtem Respekt zu erinnern", forderte der 82 Jahre alte, studierte Pädagoge Krenz.
Zurückgreifend auf die Gründung der DDR sagte er, es hätte die DDR nie gegeben, wenn nicht zuvor der Separatstaat Bundesrepublik geschaffen worden wäre. Unter dem Strich sei die DDR nach der
Wiederbelebung kapitalistischer Verhältnisse in Westdeutschland und dem Aufstehen alter Nazis die einzig vernünftige Alternative zu einem Deutschland gewesen, das für zwei Weltkriege und die grausame
faschistische Diktatur verantwortlich war.
Tatsächlich stamme das Szenario für den Umgang des westdeutschen Staates mit den Ostdeutschen seit der Wende "schon aus einer Zeit, als die DDR noch gar nicht existierte, als sie all die Untaten,
die man ihr heute zuschreibt, noch gar nicht vollbracht haben konnte", so Krenz. Dabei nahm er unter anderem Bezug auf die Aussage eines der Väter des Grundgesetzes während des Verfassungskonvents
vom Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948. Der hatte gefordert, dass jeder, der sich "der Heimholung (der Ostzone) mit allen Mitteln" wiedersetze, "als Hochverräter zu behandeln und zu
verfolgen" sei. Später habe dann Adenauer verlangt: "Das Wort Wiedervereinigung soll endlich verschwinden. Befreiung ist die Parole." Daraus folgerte Krenz: "Die Geburtsurkunde des Hasses auf die DDR
war und bleibt der Antikommunismus", den Thomas Mann schon im vergangenen Jahrhundert "eine Grundtorheit" genannt hatte.
Krenz erinnerte mit einigen Beispielen daran, wie die politische Spitze der BRD im letzten Jahrzehnt vor dem Ende des Kalten Krieges und dem Mauerfall sich gerne mit "guten Beziehungen" zur
DDR-Führung geschmückt hatte. Schließlich sei es Helmut Kohl gewesen, der Honecker einen "zuverlässigen Partner" genannt habe, und sein Nachfolger Gerhard Schröder habe sich vom
DDR-Staatsratsvorsitzenden regelrecht beeindruckt gezeigt. Hochrangige bundesdeutsche Politiker haben sogar nicht selten ein gemeinsames Foto mit dem SED-Generalsekretär als Hilfe in ihrem Wahlkampf
genutzt. Das sei die Zeit gewesen, in der man dann "auch völkerrechtlich bindende Verträge geschlossen und 1987 gar das DDRStaatsoberhaupt zu einem offiziellen Besuch mit allen diplomatischen Ehren"
empfangen habe.
Doch dann sei man 1990 zum irren Geschichtsbild der 1950er Jahre zurückgekehrt, das bis heute gilt und die politische Atmosphäre vergiftet. So habe der Ostbeauftragte der Bundesregierung in seinem
Regierungsbericht auch dieses Jahr nur wiederholt, was seit 29 Jahren Standard ist, dass nämlich "an allem, was in der Bundesrepublik nicht funktioniert, die 'marode' DDR Schuld ist, die angeblich
nur Verbrechen und Schulden in die Einheit
mitgebracht hätte", so Krenz, der im weiteren Verlauf seiner Rede die Behauptungen von einer bankrotten und zahlungsunfähigen DDR gründlich widerlegte, siehe diesen Link. Dieser Ostbeauftragte der
Bundesregierung ist 1989 gerade einmal 13 Jahre alt gewesen. Dennoch erinnere er sich noch ganz genau daran, dass die Ostdeutschen das Pech gehabt hätten, "40 Jahre auf der falschen Seite der
Geschichte gestanden" zu haben. Dieses Nachplappern geistloser Stereotype aus den Jahren des Kalten Krieges stimme nun aber keinesfalls mit den praktischen Erfahrungen sehr, sehr vieler Bürger aus
der DDR überein, so Krenz. Wenn inzwischen nur 38 Prozent der Ostdeutschen die Vereinigung für gelungen halten und 57 Prozent sich gar als "Bürger zweiter Klasse" fühlen, müssten sich doch die
Regierenden endlich mal fragen, wo dafür die Ursachen liegen.
Laut Krenz zeigen vorliegende Untersuchungen, dass nach 1945 in Westdeutschland lediglich 13 Prozent der Nazi-Kader aus Amt und Würden entfernt wurden. Nach dem Anschluss der DDR an die
Bundesrepublik schickte die neue BRD-Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten ins berufliche und damit nicht selten auch ins soziale Aus.
In seiner Rede ging Krenz noch auf viele weitere politische und geschichtliche Ereignisse über die Entwicklung der DDR zu einem der weltweit anerkannten Industriestaaten bis hin zu ihrem Untergang
und den Folgen der Anschlusses 1990 bzw. ihrer feindlichen Übernahme durch die BRD, wie dieser Akt zunehmend von "gelernten" DDR-Bürgern bezeichnet wird.
Allerdings erkannte Krenz auch Fortschritte an, die seit dem Untergang der DDR gemacht worden sind. Er sagte: "Wir sind auch keine Ignoranten, die nicht sehen wollen, dass seit 1990 viel geleistet
wurde. Wir glorifizieren die DDR nicht. Nein, wir sind wache Zeitgenossen, die Erfahrungen in zwei gesellschaftlichen Systemen haben und dadurch gut vergleichen können, was die DDR wirklich war und
was ihr blinde Wut an Schlechtem andichtet."
Zum Ende bestand der letzte SED-Generalsekretär darauf, dass die DDR nicht gegen das eigene Volk regiert worden war. "Beim Werden und Wachsen der DDR gab es Siege und Niederlagen, Freude und
Enttäuschungen, leider auch Opfer", stellte er fest. "So sehr ich diese bedaure, so bleibt es doch wahr: Die Geschichte der DDR ist keine Kette von Fehlern oder gar Verbrechen. Sie ist vielmehr die
Geschichte eines Ausbruchs aus dem ewigen deutschen Kreislauf von Krieg und Krisen, eines Aufbruchs für eine tatsächliche Alternative zum Kapitalismus, eine Absage an Faschismus und Rassenhass,
Antisemitismus und Russophobie!"
Die ungekürzte Rede von Krenz kann über diesen Link aufgerufen werden
Über die ersten zwei Jahre nach der
Annexion der DDR durch die BRD
Von Friedrich
Wolff
ap
Politische Verteidigungen bildeten
nach der Übernahme der DDR den Schwerpunkt der juristischen Arbeit: Friedrich Wolff mit dem 1992 von Rußland ausgelieferten ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in Berlin,
4.1.1993
Anfang März erscheint im Kölner PapyRossa Verlag nach »Verlorene Prozesse.
Meine Verteidigungen in politischen Verfahren 1952–2003« (edition ost) ein zweites autobiographisches Buch von Friedrich Wolff. In »Ein Leben – Vier Mal Deutschland« gibt der Jurist und Kommunist
Auskunft über sein Leben in der Weimarer Republik, im Faschismus, in der DDR und schließlich in der BRD. jW druckt einen Auszug aus dem Kapitel »Honecker-Anwalt 1990–1993« ab. Redaktionelle Zusätze
sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet, Änderungen mit runden.
Im Januar 1992 hatten die Gerichte die zehn Jahre andauernden Prozesse begonnen, die als »Bewältigung«
oder »Aufarbeitung« der DDR-Vergangenheit, »Verfolgung der Regierungskriminalität« oder des »SED-Unrechts« bezeichnet wurden. Es begann damit nach der strafrechtlichen Verfolgung der NS-Verbrechen,
nach der Kommunistenverfolgung von 1949 bis 1968, nach der Verfolgung der RAF, die vierte Prozeßwelle politischer Strafverfolgung in der Bundesrepublik. Sieht man von der halbherzigen Verfolgung der
NS-Verbrechen ab (selbst der BGH spricht von einer »insgesamt fehlgeschlagene[n] Auseinandersetzung mit der NS-Justiz«), so setzte sich nach dem 3. Oktober 1990 der seit Beginn des 19. Jahrhunderts
andauernde, kaum unterbrochene Kampf der Justiz gegen die Linke in Deutschland fort. Das Landgericht Berlin fällte am 20. Januar 1992 das erste »Mauerschützen«-Urteil. Nach den Strafprozessen gegen
Grenzer stellten Richter und Staatsanwälte der DDR die zweite große Gruppe von Angeklagten, denen »SED-Unrecht« zur Last wurden. Ihnen wurde Rechtsbeugung vorgeworfen.
An dem ersten Verfahren dieser Art war unsere Sozietät beteiligt, es endete mit einem Freispruch. Nicht alle politischen Prozesse waren verlorene Prozesse. Die Justiz mußte die Grenze des politisch
und juristisch Machbaren bei der Verfolgung der DDR-Funktionäre finden. Allzu viel war schädlich, zu wenig sollte es aber auch nicht sein. Insgesamt wurden mehr als 100000 DDR-Bürger bis 1999
strafrechtlich verfolgt. Der Wille zur Verfolgung war also groß. Die Verfahren sollten bei ihrer Einleitung die Grundlage für die These vom »Unrechtsstaat DDR« liefern.
Der damalige Justizminister Klaus Kinkel hatte 1991 verkündet: »Das Unrecht in der früheren DDR darf und kann nicht verdrängt werden. Das System der Deutschen Demokratischen Republik muß auch in den
Köpfen der Menschen delegitimiert werden.« Verurteilt wurden laut Generalstaatsanwalt [Christoph] Schaefgen bis 30. September 1999 jedoch nur 289 [ehemalige DDR-Bürger], davon wegen Rechtsbeugung 27,
wegen »Gewalttaten an der Grenze« 98 und wegen »MfS-Straftaten« ganze 20. Das wurde den Ambitionen Kinkels nicht gerecht, das paßte nicht in die regierungsamtliche Konzeption der »Aufarbeitung« der
DDR-Geschichte. Also verschwiegen es die unabhängigen Medien ebenso wie die Politik.
Man hat die Differenz zwischen der Zahl der Beschuldigten und der Zahl der Verurteilten als einen Beweis für die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren ausgegeben. Nur, selbst die geringe Zahl der
Verurteilungen verstieß gegen elementare Rechtsgrundsätze wie das Rückwirkungsverbot oder den Grundsatz in dubio pro reo, im Zweifel zugunsten des Angeklagten. Die Mehrzahl der deutschen Straf- und
Staatsrechtsprofessoren hielt deswegen diese Verfahren nicht für rechtsstaatlich. Die tatsächlich erfolgten Freisprüche und Verfahrenseinstellungen beruhten nicht auf rechtlichen Erwägungen, wie sie
die Professoren angestellt hatten, sondern ausschließlich auf Beweisschwierigkeiten. (…)
Bahro: Anerkennung der DDR
Schon vor Beginn des Honecker-Prozesses,
1991, erhielt ich ein Schreiben von Rudolf Bahro, der in der DDR vom Stadtgericht Berlin 1978 wegen Geheimnisverrats zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden war. Sein Verteidiger
war Gregor Gysi. Bahro war ein typisches Opfer der politischen Justiz der DDR. Er verhielt sich aber, wie man das von Opfern nicht erwartete. So schrieb er mir am 17. Dezember: »Schon irgendwann im
Jahre 1990 hatte ich Rechtsanwalt [Wolfgang] Vogel, dessen Mandant Erich Honecker wohl damals war, erklärt, daß ich die eigentliche, die politische Verteidigung übernehmen möchte, wenn es zu einem
Prozeß kommen sollte. Heute wäre ich noch tiefer als damals daran interessiert, in dieser Sache so öffentlich wie möglich das Wort zu ergreifen.« Dem Brief lag das Manuskript eines Beitrags bei, den
Bahro am 28. November 1991 auf einer Diskussionsveranstaltung im Auditorium Maximum der Humboldt-Universität gehalten hatte und in dem er gegen die Anschuldigungen aufgetreten war, die gegen Heinrich
Fink, den ehemaligen Rektor der Universität (1990–1992) erhoben wurden. Noch dezidierter machte Bahro seinen Standpunkt in einem Essay deutlich, den er am 21. Juni 1992 an den Spiegel schickte.
(…)
Seine Meinung wollte der Spiegel nicht verbreiten. Halten wir nochmals fest, was Bahro erklärte: »Es geht um nichts anderes als die lange überfällige, aber nachträglich alles andere als überflüssige
geistige Anerkennung der DDR, nämlich ihrer ganz unzweifelhaften historischen Legitimität.«
Bahro ist nicht das einzige sogenannte Opfer des DDR-Stalinismus, das sich gegen die Praktiken der strafrechtlichen Verfolgung der »DDR-Regierungskriminellen« aussprach. Herbert Crüger, zu einer
Freiheitsstrafe von acht Jahren, Wolfgang Harich zu zehn Jahren und Walter Janka zu fünf Jahren verurteilt, verhielten sich entsprechend. (…)
Soweit die Meinungen von »Regimegegnern«. Das Mitglied des Politbüros Günter Schabowski wußte besser
Bescheid. Ich sah und hörte ihn am 18. Oktober 1991 im Fernsehen und notierte: »Der Kapitalismus ist die bessere Gesellschaftsordnung, und der Untergang des Sozialismus wird helfen, ihn von den
Makeln zu befreien, die er noch hat.« Die Opfer des Anschlusses wurden natürlich nicht gezählt, sie galten nicht als Opfer. (…)
Verteidiger Erich Honeckers
Die politischen Verteidigungen bildeten
den Schwerpunkt meiner Arbeit. Das politische Umfeld hatte sich inzwischen dramatisch verändert. Am 23. August hatte ich in meinem Tagebuch notiert: »Die Welt steht Kopf. Was wird aus Erich Honecker,
fragten mich Journalisten. Was wird überhaupt?« Jelzin war inzwischen Präsident Rußlands geworden, hatte 1991 die Kommunistische Partei der UdSSR verboten und schließlich die UdSSR aufgelöst. Die
juristische Abrechnung mit der DDR und ihren Politikern brauchte keine außenpolitischen Rücksichten mehr zu nehmen. Ich sollte das bald zu spüren bekommen.
Noch im März 1991 war Honecker von der Sowjetischen Armee nach Moskau ausgeflogen worden. Ich kommentierte in meinem Tagebuch: »Es kam, wie es kommen mußte, der Prozeß gegen EH findet nicht statt.«
Es kam wieder einmal anders, als ich dachte. Im November 1991 zeigte sich mir das eindrucksvoll, als ich nach einem Gespräch mit Rechtsanwalt Gunter Widmaier und Werner Großmann in Karlsruhe von dort
unmittelbar nach Moskau fuhr, wo meine Westberliner Kollegen und ich uns mit Erich Honecker treffen wollten. Es war mein erstes Treffen mit Erich Honecker, nachdem er Beelitz verlassen hatte, es war
überhaupt mein erster Besuch im neuen Rußland. Am Flughafen traf ich meine Kollegen. Margot Honecker holte uns mit zwei Wolga-PKW ab. Die Wagen befanden sich in einem maroden Zustand. Symbol für das
ganze Land. Auch die Stadt selbst war verändert, kaum beleuchtet, heruntergekommen.
Wir fuhren in die Umgebung Moskaus, in eine Regierungsdatsche. Das Gelände war eingezäunt, das Haus, in dem Honeckers wohnten, für eine Datsche sehr geräumig. Eine Wachmannschaft wohnte wohl im
Untergeschoß. Mittags wurden wir mit einem warmen Essen bewirtet. Es gab sogar, anders als sonst bei Honeckers, russischen Weinbrand. In unseren Gesprächen ging es um die juristischen Mittel gegen
eine drohende Auslieferung. Wir hatten uns alle vorbereitet und entsprechende Ausarbeitungen mitgebracht, die wir übergaben. Das waren für mich neue Rechtsprobleme. Nie hatte ich zuvor mit solchen
Fragen des Völkerrechts zu tun gehabt, wie der Immunität von Staatsoberhäuptern oder dem Asyl für politische Flüchtlinge. Nach unserer Unterredung wurden wir in ein neugebautes Hotel gebracht, ich
glaube, es war ein Hotel der Lufthansa. Nach meinem Eindruck waren wir wohl die einzigen Gäste. Die Preise hatten Weltniveau. Genutzt haben unsere juristischen Bemühungen unserem Mandanten nicht.
Politik ging vor Recht.
Politisch motivierte Urteile
Daheim in Deutschland liefen die ersten
Prozesse wegen der »Regierungskriminalität« an oder standen unmittelbar bevor. Sie interessierten auch die Wissenschaft, denn sie warfen grundsätzliche rechtliche Probleme auf. Am 4. und 5. April
1992 veranstaltete die Fritz Thyssen Stiftung in Moritzburg ein Kolloquium mit dem Thema »Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung«. Durch Vermittlung des
Professors der Humboldt-Universität, der meine Dissertation betreut hatte, erhielt ich dazu eine Einladung. Ich war neben einem leitenden Ministerialrat der einzige Praktiker im Kreis der Professoren
oder Assistenten. Von den 25 Teilnehmern waren nach meiner Meinung sechs oder sieben Ossis. Alle lasen ihre ausgearbeiteten Vorträge vor. Ich las jedoch meinen Text nicht vor, sondern sprach, wohl
entgegen dem mir unbekannten Komment, frei zu den von mir eingereichten Thesen. Während meine ehemaligen DDR-Kollegen sich zurückhielten, was ich ihnen nicht verübelte, da sie im Gegensatz zu mir
alle hoffen mußten, in der BRD wieder verwendet zu werden, sagte ich meine Meinung offen. In der Publikation über dieses Kolloquium wird mein Beitrag wie folgt in dritter Person
wiedergegeben:
dpa/Oliver
Berg
Justizminister Klaus Kinkel (FDP,
sitzend) legt 1991 den regierungsamtlichen Umgang mit der DDR fest: »Das System der Deutschen Demokratischen Republik muß in den Köpfen der Menschen delegitimiert werden.« (mit den
CDU-Minister
»Er habe den Eindruck gewonnen, daß die unterschiedlichen Meinungen zu Fragen der ›Regierungskriminalität‹
auf unterschiedlichen Grundhaltungen beruhten, die wiederum bestimmte Intentionen hätten. Dabei verwende man teilweise ausgefallene, nicht nachvollziehbare Begründungsversuche, um zu bestimmten
Ergebnissen zu gelangen. Die Diskussion leide häufig an fehlender Tatsachenkenntnis: So sei die Behauptung bestritten, Honecker habe 1974 angeordnet, bei Grenzdurchbrüchen von der Schußwaffe
rücksichtslos Gebrauch zu machen. Es sei daher illegitim, insoweit von einer unstreitigen Tatsache auszugehen. Auch habe er, der mehr als 30 Jahre als Strafverteidiger tätig gewesen sei, keinen Fall
von Virusinfizierungen (so das Referat von Lüderssen) oder Folter erlebt. Überzogene Kritik dieser Art sei stets mit der Gefahr verknüpft, das Gegenteil zu bewirken.«
Anschließend an meinen Vortrag, der hier nur auszugsweise wiedergeben ist, hieß es laut Diskussionsbericht: »Hillenkamp dankte auch für diesen pointierten und provozierenden Vortrag.« Im
Diskussionsbericht hieß es dann unter anderem weiter: »Justizsenatorin Prof. [Jutta] Limbach (Berlin) konstatierte einen deutlichen Unterschied zwischen dem Nazi-Unrecht und demjenigen der ehem. DDR.
Gleichwohl lasse sich eine Ähnlichkeit der Verteidigung Wolffs mit derjenigen bei NS-Verbrechen nicht leugnen. Klarzustellen sei, daß es hier um keinen politischen Prozeß geht. Der Strafprozeß werde
nicht für bestimmte politische Ziele mißbraucht, was im übrigen infolge des Untergangs der DDR auch nicht mehr möglich sei. Für die Kritik Wolffs, es habe den Anschein, ein Blinder urteile über die
Farbe, habe sie durchaus Verständnis. Es gebe aber Möglichkeiten, sich sehend zu machen. Nicht billigen könne sie den Vorwurf, es finde eine übersteigerte Vorverurteilung statt. Sie habe vielmehr den
Eindruck gewonnen, man sei noch zu naiv gewesen. Sie habe eine Vielzahl gravierender Unrechtsurteile kennengelernt. Allein in Berlin seien bereits (mit stark steigender Tendenz) 6804
Prüfungsverfahren wegen Rechtsbeugung anhängig.«
Aus heutiger Sicht kann ich hinzufügen, Frau Limbach hat später selbst anerkannt, daß es sich bei der Verfolgung von Regierungskriminalität um politische Prozesse handelte. Aus der »stark steigenden
Tendenz der Rechtsbeugungsverfahren« sind bis 1999 wie erwähnt nur 27 Verurteilungen geworden. Auch sie halten rechtsstaatlichen Maßstäben nicht stand. Was die Möglichkeiten anbelangt, »sich sehend
zu machen«, so hat die Politik den Bürgern diese Möglichkeiten nicht gegeben, denn sie hat keine Resultate der gerichtlichen Abrechnung mit der DDR publiziert, da diese sich im wahrsten Sinne des
Wortes nicht sehen lassen konnten. Jedenfalls nicht als Beleg für das Urteil »Unrechtsstaat«.
Selbstmorde von Riege und Fuchs
Das für meine berufliche Tätigkeit wie für
mein damaliges Leben überhaupt bestimmende Ereignis des Jahres 1992 war natürlich die Auslieferung Honeckers von Rußland an die Bundesrepublik. Parallel dazu liefen die gleichfalls politisch
herausragenden Verfahren gegen Werner Großmann und Hans Modrow. Überdies nahm mich auch der Prozeß gegen Markus Wolf anfangs noch in Anspruch. Hatten meine Westberliner Kollegen Becker und Ziegler
sich mit mir in der ersten Jahreshälfte bemüht, die Auslieferung Honeckers zu verhindern, so stand die zweite Jahreshälfte im Zeichen unserer Bestrebungen, die Einstellung des Verfahrens zu
erreichen.
Die neue Rechtssicherheit zeigte sich mir von einer unerwarteten Seite. Im Januar 1992 rief mich Vogel an. Nach der Mitteilung, daß gegen ihn 18 Ermittlungsverfahren liefen, sagte er auch, daß der
Spiegel gegen mich sowie gegen einen mir bekannten Anwalt recherchiere. Derartige Vorwürfe waren an der Tagesordnung. Je bekannter eine Persönlichkeit aus der DDR war, desto mehr war sie dem
Stasivorwurf ausgesetzt. Andere Vorwürfe gab es nicht, Mißbrauch von Kindern wurde nicht vermutet. Auch die Vorwürfe des Amtsmißbrauchs und der Untreue waren verschwunden.
Stasiverdacht wurde gegen Lothar de Maizière, Gregor Gysi, Manfred Stolpe und das Bundestagsmitglied Gerhard Riege geäußert, der sich deswegen das Leben nahm. In seinem Abschiedsbrief schrieb er:
»Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben. Sie ist mir mit der neuen Freiheit genommen worden. Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird und gegen die ich
mich nicht wehren kann. Ich habe Angst vor dem Haß, der mir im Bundestag entgegenschlägt, aus Mündern und Augen und Haltung von Leuten, die vielleicht nicht einmal ahnen, wie unmoralisch und
erbarmungslos das System ist, dem sie sich verschrieben haben. Sie werden den Sieg über uns voll auskosten. Nur die vollständige Hinrichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte
umzuschreiben und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen.«
Die eingeleiteten Strafverfahren forderten gleichfalls Todesopfer. Der ehemalige Vorsitzende einer großen Strafkammer in der DDR, Otto Fuchs, der wegen seiner Mitwirkung an den Waldheim-Prozessen –
1950 wurden in Waldheim über 3300 Angeklagte wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der NS-Zeit verurteilt – der Rechtsbeugung beschuldigt wurde, nahm sich zusammen
mit seiner Frau am 13. Februar 1992 durch Sturz aus dem Fenster das Leben. In einem Abschiedsbrief schrieb er seinem Verteidiger: »Ich versichere Ihnen, daß wir in meiner Strafkammer nur
Kriegsverbrecher verurteilt haben, und bin mir sicher, daß wir uns über kein Urteil schämen müssen. Alle Zeichen deuten aber darauf hin, alles ins Gegenteil zu verkehren und in einem Schauprozeß mich
zum Verbrecher zu stempeln. Ich glaubte, auch diesen Vorwürfen widerstehen und sie entkräften zu können. Leider habe ich feststellen müssen, daß ich sowohl körperlich als auch geistig diesen
Anforderungen nicht mehr gewachsen bin. Ich muß auch die gesamte Situation berücksichtigen, wie sie sich in der Presse widerspiegelt, in der eine Vorverurteilung schon programmiert ist. Heute, nach
einer langen Periode der Naziverbrechen, fühlen sich doch alle – und sind sie auch noch so schwer belastet – als völlig unschuldige Menschen. Die Verdrängung ging und geht ja so weit, daß Auschwitz
als Lüge hingestellt wird. Wie einfach ist da eine individuelle Schuld zu leugnen. Zumal jetzt die Tendenz überall bemerkbar wird, alles nachzuholen, was man 1945 hätte aufarbeiten müssen. Unter
solchen Bedingungen und der Vermutung, daß die Richter aus den alten Bundesländern kommen, wo die Nichtverfolgung von Naziverbrechen übliche Praxis war, ist für unsere Beurteilung solcher Verbrechen
wenig Verständnis zu erwarten. Sie sind vermutlich auch junge Menschen, die den faschistischen Krieg mit seinen scheußlichen Verbrechen sich kaum vorstellen können. Nach gründlichen Überlegungen sind
wir beide, meine Frau und ich, uns einig geworden, über uns selbst zu entscheiden. Wir haben gemeinsam unser bisheriges Leben gestaltet und wollen es auch weiter tun. Fuchs«
DDR gleich Faschismus
Die DDR war vor mehr als zwei Jahren
untergegangen, aber die Verdammung des »Unrechtsstaats« nahm eher zu als ab, die Politiker, die Medien beschimpften ihn, als wäre er noch lebendig. Besonders die »Stasi« war (und ist bis heute) Ziel
und Mittel der Schmähungen. Ständig wurde und wird die DDR mit Nazi-Deutschland verglichen. Spitze blieb bisher die Gleichsetzung von Bautzen und Auschwitz durch den damaligen Justizminister Kinkel.
In Auschwitz wurden – so berichtet die Onlineenzyklopädie Wikipedia 1,1 Millionen Menschen umgebracht. In dem »Stasiknast« Bautzen sind weder nach Wikipedia noch nach der Stiftung Sächsische
Gedenkstätten Häftlinge ermordet worden. Aber alles gleich. Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß die Institutionen des untergegangenen »Dritten Reichs« durchweg korrekt, also nie
mit allgemein gebräuchlichen diffamierenden Abkürzungen bezeichnet wurden. »Nazi« kam nicht vor, Gestapo blieb Gestapo, Nationalsozialismus hieß weiter so und galt manchem als Beweis für die
Verderblichkeit des Sozialismus.
Nichts war zu primitiv. Unglaubliche Lügen waren und sind an der Tagesordnung. Musterbeispiel: das »Stasi«-Gefängnis Hohenschönhausen. Keine einzige Verurteilung wegen Folter, nicht einmal eine
Anklage, aber ganzen Schulklassen wird Hohenschönhausen auf Staatskosten als Beweis für Folter präsentiert, und es wird geglaubt. Fast jeder, der in der DDR gelebt hatte, stand – oder steht noch
immer – unter Stasiverdacht. Ein bekannter Liedermacher aus der DDR, Reinhard Lakomy, sang: »Alles tutti, alles frutti, alles Stasi außer Mutti«. Von der Anwaltskammer war zu erfahren, daß 150
»Diplomjuristen« – so die Bezeichnung für die DDR-Juristen, die ihr Studium mit einem Diplom abgeschlossen hatten – auf Tätigkeit für das MfS überprüft werden sollten. Ein spezielles Gesetz wurde zu
diesem Zweck am 24. Juli 1992 erlassen, das Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter.
Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Anwaltsvereins Busse bemerkt dazu, es stünde »in einem gewissen Widerspruch zu der im Einigungsvertrag getroffenen Entscheidung, im Gegensatz zu Justiz und
öffentlicher Verwaltung die Fortführung der Tätigkeit der DDR-Anwälte nicht von einer Überprüfung ihres Verhaltens während der DDR-Zeit abhängig zu machen, sondern es bei vor den vor dem 3.10.1990
ausgesprochenen Zulassungen zu belassen«.
In Berlin wurden von 727 Ost-Berliner Anwälten 636 überprüft, ich natürlich auch. Ergebnis: in vier Fällen wurde die Zulassung widerrufen. Große Unsicherheit, große Unruhe, kleines vertragswidriges
Ergebnis. Mir wurde übrigens am 26. September 1994 von der Senatsverwaltung für Justiz mitgeteilt: »Die hier vorliegenden Erkenntnisse über Ihre Zusammenarbeit mit dem Ministerium für
Staatssicherheit der ehemaligen DDR geben keinen Anlaß zu Maßnahmen nach dem Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter.« Ich las ein
gewisses Bedauern aus der Mitteilung.
Friedrich Wolff: Ein Leben – Vier Mal Deutschland, PapyRossa-Verlag Köln, 248
Seiten, 15 Euro – auch im jW-Shop erhältlich
RTDeutsch
Gesellschaft
Kirche und Religion in der DDR: Gespräch mit einem
Experten
Wie sah das religiöse Leben in der DDR aus? Wie waren die Beziehungen zwischen Staat und Kirche? Wir sprachen
mit einem DDR-Experten für Kirchenfragen über das Verhältnis von Staat und Kirche im, wie er es nannte, "ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat".
von Hasan
Posdnjakow
Manfred Manteuffel war zu DDR-Zeiten Referent für
Kirchenfragen in der Stadt Rostock. Dabei handelte es sich sich um eine staatliche Funktion auf Kreisebene. Geboren wurde er in Danzig. In den Wirren des Krieges zog er nach Wismar, wo
er auch die Schule besuchte. Er lernte den Beruf des Stahlschiffbauers und war in seiner Jugend in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) aktiv. In den 1950er-Jahren wollte die DDR
angesichts der Gründung der NATO und der Wiederbewaffnung der BRD eigene Streitkräfte aufbauen. Also wurde Manteuffel zur Marine abkommandiert. Dort wurde er für die Offiziershochschule geworben. Er
war als leitender Ingenieur tätig und nahm an Minenräumarbeiten teil, unter anderem vor Rostock. Danach war er auf Raketenschnellboten tätig. Anschließend studierte er in Greifswald
Philosophie, wo er sich intensiv mit Religionsfragen auseinandersetzte. In Rostock zurückgekehrt arbeitete er anschließend als Philosoph bei der Marine. Nach 38 Dienstjahren wurde er seitens des
Rostocker Oberbürgermeisters zum Referenten für Kirchenfragen in der Hansestadt berufen.
Die Kirche in der DDR war an sich, das sagte Gysi* als Staatssekretär für Kirchenfragen sehr
deutlich, in Europa eine vorbildliche Kirche. Das Verhältnis von Politik, Staat und Kirche funktionierte in der DDR gut", sagt Manteuffel. "Gysi sagte, Staat und Kirche in der DDR müssen zwar
getrennt sein, aber miteinander funktionieren. Das hat auch gut funktioniert. Die DDR-Regierung hatte in den Kreisstädten Leute, die für Kirchenfragen zuständig waren, sie nannten sich Referenten für
Kirchenfragen."
*Der Vater des späteren
Linken-Politikers
Manteuffel pflegte das Verhältnis zwischen Staat und
Kirche. Er hatte "keine Probleme mit Rostocker Pastoren" – von denen es über 50 gab. Er bemühte sich, sagt er, sicherzustellen, dass die Kirchenvertreter eine enge Beziehung zur Stadt und zum Bezirk
hatten. Man traf sich einmal im Monat mit ihnen im Rathaus und unterhielt sich über die Probleme der Stadt. Die Pastoren seien davor immer etwas auf Distanz gegangen. Durch diese regelmäßigen Treffen
wurde dies Manteuffel zufolge überwunden. Er nahm auch Außentermine gemeinsam mit Kirchenvertretern wahr. Sie besuchten etwa zusammen die Rostocker Werft oder das dortige Fischkombinat. Ziel
solcher Termine sei es gewesen, den Pastoren zu zeigen, wie das Leben der Kirchenmitglieder – in erster Linie Arbeiter – außerhalb der Kirche aussieht.
Besonderen Wert habe man darauf gelegt, dass Staat und
Kirche sich nicht anfeindeten, sondern zusammenarbeiteten, wo sich Möglichkeiten boten, etwa in der Frage des Friedens. In anderen sozialistischen Staaten, etwa in Polen und Ungarn, hätte es andere
Ansätze gegeben. Manteuffel sei stets für diese Fragen zugänglich gewesen. Man habe aber dennoch darauf geachtet, eine gewisse Distanz zwischen Staat und Kirche zu wahren. Mit den evangelischen
Pastoren habe Manteuffel ein gutes Verhältnis gepflegt. Die katholischen Pfarrer hingegen hätten keinen engen Kontakt zum Staat gesucht.
Hasan
Posdnjakow: Welche Rolle haben die Religionsgemeinschaften im
öffentlichen Leben der DDR gespielt?
Manfred Manteuffel: Es kam darauf an, worum es ging. Der Staat hielt sich aus den kirchlichen
Angelegenheiten raus, und die Kirchen wiederum aus dem Staat. Wir in Rostock haben zum Beispiel viel für den Kirchenbau in Rostock getan. Wir hatten aber wenig Geld. Die Westkirchen waren dagegen
steinreich. Die haben Zuschüsse gezahlt. Wir haben die Kirchen aber nicht außer Acht gelassen. H. P.: Welches Verhältnis hatte die Regierungspartei SED zu den
Kirchen?
M. M.: Es war sehr differenziert. Im Ostseebezirk
hatten wir ein gutes Verhältnis zu den Kirchen und Pastoren. Hier gab es keinen großen Streit. In der DDR insgesamt war das sehr unterschiedlich. Wenn ich mit Leuten zusammenkam, die eine ähnliche
Funktion hatten wie ich, da haben sie nur gesagt: "Der Manteuffel muss ja nicht richtig laufen, weil er sich fast mit der Kirche verbrüdert." Ich habe mich nicht mit der Kirche verbrüdert. Wir sind
alle unsere eigenen Wege gegangen. Aber im Interesse der DDR haben wir vor allem in Hinblick auf die Frage zu Krieg und Frieden zusammengearbeitet. Das hat uns geeint. Da ließen wir keinen ran. Es
gab aber auch Leute, die sagten: "Ich bin Marxist-Leninist und habe mit der Kirche nichts gemeinsam." Das gab es auch. Für mich ist die Bibel eine interessante Geschichte. Das Neue Testament habe ich
intensiv verinnerlicht, ohne daran zu glauben. Bei vielen anderen war das aber anders. Sie konnten mit der Bibel nichts anfangen.
H. P.: Wie wirkte sich die
Teilnahme von Kirchenvertretern am Kampf gegen die Nazi-Diktatur auf die Beziehungen zwischen der DDR-Führung und den Kirchen nach 1945 aus?
M. M.: Das ist eine komplizierte Frage. Es gab
zwischen Kommunisten und der Kirche während der Zeit des Faschismus gute Verhältnisse. Es gab aber auch Negatives, wie den Pakt zwischen dem Vatikan und Hitler. Sonst war das Verhältnis allgemein
gesehen jedoch gut. Es gab zum Beispiel Anhänger des lutherischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der im April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet wurde, die sehr von den Kommunisten angetan waren. Für
sie war der Kommunismus auch ein Ideal, eine Lebensart. In Wismar gab es zum Beispiel einen Vertreter von Bonhoeffer, Robert Lansemann. Er zum Beispiel sagte: "Für mich gilt die Kirche, die Religion,
aber ich akzeptiere auch die Marxisten." Er wird noch heute in Wismar sehr verehrt. Es gab aber auch nicht wenige Pastoren, die gegen den Kommunismus waren.
Die Autorinnen Katrin McClean und Andrea Drescher sammeln Geschichten von Menschen aus Ost und West,
die vor 1989 im geteilten Deutschland gelebt haben. Hier schreiben sie, wie es dazu kam und was sie damit erreichen möchten.
Katrin
Erst vor wenigen Tagen habe ich es wieder
erlebt: Mein Mann und ich gehen in Hamburg essen, am Nebentisch zwei Frauen, die das Programm eines Filmfestivals vor sich liegen haben, neugierige, offene Menschen — so scheint es. Sie reden über
dies und das und landen schließlich bei ihrer Sorge über „die Rechten im Osten“ und nun beginnt die eine der anderen — für uns gut hörbar — zu erklären, dass es aufgrund der Allgegenwärtigkeit der
Stasi in der DDR nie zu einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gekommen sei. Sie hat das mehrfach gehört und gelesen, und deshalb muss es ja stimmen.
Vergessen die Tatsache, dass die Überwindung des Faschismus die
grundlegende Ideologie des DDR-Sozialismus war, und dass fast alle Nazis vor den strengen Entnazifizierungsprogrammen im Osten geflohen waren.
Geleugnet, dass unsere Erziehung und Schulbildung
zutiefst geprägt waren von der Erinnerung an die Opfer des Faschismus und an die Gräueltaten der Nazis, und dass man früher einmal genau das der DDR als „Propaganda“ vorwarf. Ignoriert, dass die
Aufarbeitung der Nazi-Zeit zum DDR-Kulturgut gehörte, dass auch die Frage des Mitläufertums wieder und wieder Thema berühmter DEFA-Filme war. Nichts davon gab und gibt es für diese Frau an unserem
Nachbartisch, für sie gibt es nur noch diese angelesene Behauptung, die sie mit wichtiger Miene wiederholt — und die mir die Sprache verschlägt, weil sie mit wenigen Sätzen mein ganzes
Selbstverständnis für null und nichtig erklärt.
Solche und ähnliche Situationen erlebe ich als gebürtige
Ostdeutsche wieder und wieder. Sie machen empfindlich, sie werden irgendwann unerträglich und sie fangen an, mein Verhalten zu prägen.
So geschehen auch in meiner ersten Begegnung mit Andrea
Drescher beim ersten Pax-Terra-Musica-Festival. Wir kannten uns vorher schon über Facebook und kamen nun erstmals ins Gespräch.
Kaum hörte ich ein „Aber bei euch Ossis war das doch
bestimmt so und so …“ von ihr, war ich schon fast „auf der Palme“, konterte aufgeregt: „Was weißt du schon …“. Und Andrea sagte: „Ja, woher soll ich es denn wissen? Erzähl es mir
doch.“
Da war plötzlich ein ganz anderer Ton. Andrea will
wirklich Fragen stellen. Sie will mir nicht erklären, was ich erlebt habe, so wie es so viele Westdeutsche immer wieder versuchen. Sie will es wirklich wissen, das Fragezeichen ist
echt.
Das war unsere erste Begegnung. Und für mich der Anfang
unseres Projektes, das wir hier dem Rubikon-Leser vorstellen wollen. Und weil es ein Projekt ist, in dem es ums Erzählen und um die Verständigung zwischen „Ossis und Wessis“ geht, wollen wir
gemeinsam davon erzählen.
Andrea
„Unser Projekt“ ging für mich eigentlich in drei
Schritten los — wobei Katrin erst ab der zweiten Phase eine Rolle gespielt hat. Phase 1 war mein eigener „Aufwachprozess“, der nun schon einige Jahre andauert. Als mir bewusst wurde, dass ich seit
meiner Jugend bei sehr vielen politischen Themen durch Politik und Medien bestenfalls die halbe Wahrheit erfahren hatte, fing ich an, alles zu hinterfragen. Und wenn ich sage alles, dann meine ich
alles. Eigentlich blieb nirgendwo mein altes Bild der Wirklichkeit erhalten. Alles stellte sich „irgendwie anders“ dar, nie ganz falsch, aber eben auch nie wirklich richtig. Seitdem bin ich überzeugt
davon, dass es ganz viele Perspektiven der Wirklichkeit gibt — selbst wann man nicht belogen wird, was häufig genug auch der Fall war und noch ist.
Man sieht nur den Ausschnitt der Welt, den man gezeigt bekommt
beziehungsweise den man, auf Basis der eigenen Erfahrungen und Lebenswelt, überhaupt bewusst zur Kenntnis nimmt.
Darum war ich bei Pax Terra neugierig auf Katrins
Ausschnitte der Welt. Ich hatte inzwischen ja schon einige ostdeutsche Kontakte über Facebook näher kennengelernt und es war mir klar, dass da vieles war, was ich nicht
kannte.
Phase 2 war für mich Katrins Rezension
meines Buches „Wir sind Frieden“. Als sie schrieb, es gefiele ihr nicht, dass ich so wenige Ostdeutsche interviewt hätte, dachte ich: „Spinnt die?“ Ich bin ein Piefke in Ösiland. Ich denke doch nicht
in solchen für mich „historischen“ Strukturen wie Ossi oder Wessi. Dieser Gedanke wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich wollte Menschen vorstellen, die etwas für den Frieden tun und wäre nie auf die
Idee gekommen, dabei auf die Herkunft zu achten. Erst im Laufe unseres daraus resultierenden Mailverkehrs wurde mir klar, dass Katrin als „Ossi“ eben völlig anders sieht als ich und aufgrund ihrer Lebenserfahrung und Perspektive auf so etwas achtet.
Als wir dann eine Diskussion auf Facebook zu einem
ähnlichen Thema hatten, schien es mir einfach wichtig, diesen Austausch auf etwas konkretere Füße zu stellen, eben Phase 3, zunächst nur unter uns. Wir fingen an, zu bestimmten Arbeitsthemen wie
„Kindheit“, „Schule“ oder „Freizeit“ unsere Erinnerungen aufzuschreiben und einander zu schicken.
Ein Buch hatte ich natürlich schon im Hinterkopf, da ich
ja schon mehrfach über Books on Demand publiziert habe. Dann kam die Idee, aus unserem Briefwechsel eine Lesung bei Pax Terra 2019 zu machen, in der wir die Besucher des Festivals einbeziehen könnten
…
Ja und der Rest ist sozusagen eine „gemahte Wies‘n“, wie
man in Österreich sagt. Ein Selbstläufer, einfach eine logische Konsequenz aus allem vorher. Wir machen die Einladung zum Mitschreiben nun öffentlich und suchen aktiv nach AutorInnen aus Ost und
West.
Was ich aber witzig fand: In unserer Vorbesprechung zum
Buch sagte Katrin, sie vermute, dass sie persönlich mehr Wessis als Ossis als Mitwirkende gewinnen würde.
Katrin
Ich bin 2001 nach Hamburg gezogen. Hier leite ich seit
fast 20 Jahren Kurse für kreatives Schreiben und habe darüber sehr viele Menschen kennengelernt, die sich in ihrer Freizeit dem Schreiben widmen. Und das sind in Hamburg nun mal zum größten Teil
Menschen mit westdeutscher Biografie. Es sind gerade diese Kurse, die für mich die Erfahrung bestätigen, dass jede Wahrheit mehrere Seiten hat. Und vor allem, dass alles Erlebte subjektiv
ist.
Was man in Geschichtsbüchern liest, kann immer nur eine
sehr grobe Darstellung von gesellschaftlichen Verhältnissen sein, in denen sich der Einzelne mit seinem Schicksal oft nur zum Teil, oder manchmal sogar nur zu einem ganz kleinen Teil wiederfindet.
Trotzdem glaube ich, dass es wiederum nur die persönlichen Geschichten sein können, mit denen die große historische Geschichte jenseits von Zahlen, Daten, Fakten spürbar
wird.
Und hier haben Andrea und ich schnell gemerkt, dass wir
beide auch nur zwei ganz spezielle und eher untypische Vertreter aus Ost und West sind. Und das hat uns ziemlich bald auf die Idee gebracht, andere Menschen zu unserem Erinnerungsexperiment
einzuladen. Schon jetzt hat unser Austausch meine Sichtweise auf den ehemaligen „Westen“ verändert und erweitert.
Mit den persönlichen Geschichten von Andrea werden mir
Facetten und Brüche in der ehemaligen westdeutschen Gesellschaft deutlich, die ich bisher kaum wahrnehmen konnte. Vor allem wird mir deutlich, dass auch die BRD, in der Andrea gelebt hat, längst
vergangen ist — fast genauso, wie die DDR vergangen ist.
Und natürlich finde ich, dass unser heutiger Medien- und Kulturbetrieb
eine starke Selektion betreibt, wenn es um Erinnerungen an die DDR geht. Es geht fast immer um Stasi und um die Grenze oder vielleicht um Mangelwirtschaft.
Es ist ja richtig, dass davon erzählt wird, aber es gäbe
so viel mehr über die DDR zu erzählen. Etwa vom Idealismus vieler Menschen in der DDR, die sich leidenschaftlich und aus vollster Überzeugung für eine bessere Gesellschaft einsetzen wollten.
Überhaupt einmal davon, was Leben in einer Kollektivgesellschaft eigentlich bedeutete.
Ich habe neulich jemanden getroffen, der wusste nicht
mal, wie man in einer entprivatisierten Wirtschaft einen Betrieb führen kann, also dass es da natürlich auch eine Betriebsleitung gab. Nur haben Betriebsdirektoren in der DDR eben kein Jahresgehalt
in Millionen erhalten wie heute etwa ein Vorstandsmitglied, sondern ein Gehalt, das höchstens doppelt so hoch war wie das eines Arbeiters.
Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, warum die
positiven Seiten der DDR nicht dargestellt werden, und warum alles daran gesetzt wird, sie zum „Unrechtsstaat“ zu erklären. Solche Bewertungen nützen vor allem denjenigen, die als Firmen- oder
Anteilseigner über ein enormes Privatvermögen verfügen. Ihnen kommt es sicher entgegen, dass man eine Gesellschaft, die der Privatisierung von Gewinnen den Hahn abgedreht hatte, so düster und negativ
wie nur möglich darstellt.
Gibt es eigentlich in Bezug auf die ehemalige BRD Dinge,
an die man heute auch eher wenig erinnert? Momentan kann man ja fast das Gefühl bekommen, die BRD hat es vor 1989 überhaupt nicht gegeben oder zumindest hat sich nicht das Geringste verändert. Alles,
was an Beiträgen zum bevorstehenden Jahrestag des Mauerfalls kommt, sind doch fast nur Geschichten über den Osten.
Andrea
Da muss ich dir leider zustimmen. Irgendwie ging in den
vergangenen Jahren „meine“ alte Bundesrepublik verloren — mit ihren guten, aber auch mit ihren Schattenseiten. Ersteres bemerke ich immer in Diskussionen mit Ostdeutschen, die im heutigen
neoliberalen Wahnsinn genau das wiederfinden, wovor sie immer gewarnt worden waren. Eine asoziale Leistungsgesellschaft, in der nur die Reichen ein sicheres Auskommen haben, die Masse der
Beschäftigten aber bessere Lohnsklaven sind und durch den Druck von drohender Arbeitslosigkeit und Hartz IV keinen Widerstand wagen. Aufstiegschancen für die, die ganz unten sind: nicht vorhanden.
Ausgrenzung, Obdachlosigkeit — die hässliche Fratze des Kapitalismus eben.
Aber das kannte ich bis zur Maueröffnung auch nicht —
beziehungsweise nur in sehr geringem Ausmaß. Aus welchen Gründen auch immer — mir hat sich die BRD bis 1989 völlig anders dargestellt. Vielleicht auch nur, um den Menschen im Osten eine Illusion
vorzuspielen, um das westliche System möglichst attraktiv zu präsentieren, um damit den Sozialismus zu Fall zu bringen. Ich sage „vielleicht“, weil ich das nur vermute, aber nie beweisen kann — auch
wenn ich inzwischen überzeugt davon bin.
Die BRD vor 1989 war eine Gesellschaft, die mir — aus
finanzschwachen Verhältnissen kommend — den sozialen Aufstieg problemlos ermöglicht hat. Zwar mit viel Arbeit — aber gut, das Leben ist bekanntermaßen kein Ponyhof. Aber es gab in meiner
Vorstellungswelt keine wirklichen Grenzen meiner Möglichkeiten, während die Perspektiven für Hartz-IV-Kinder heute bestenfalls als düster zu bezeichnen sind. Einmal unten, immer unten. So fühlt sich
Deutschland heute für mich an.
In einer Diskussion mit einer Ostdeutschen hörte ich vor ein paar
Monaten: „Ich will mein ,Sozial‘ aus dem Sozialismus wieder haben“. Ihr konnte ich nur erwidern: „Und ich will mein ,Sozial‘ aus der Sozialen Marktwirtschaft wieder
haben.“
Was mir aber auffällt: Viele „Wessis“ haben die
Schattenseiten der BRD ziemlich gut verdrängt. Vom KPD-Verbot über den Radikalenerlass und Berufsverbote bis hin zu Alt-Nazis in den Parlamenten und Regierungsämtern bis in die 80er Jahre hinein.
Dann die ganzen Neo-Nazis, gegen die man Widerstand leisten musste. Ob Republikaner oder DVU — das war alles andere als lustig. Wenn man heute so tut, als ob es Faschos nur im Osten gäbe, kann ich
nur mit dem Kopf schütteln. Faschos stellten für mich in Hessen, wo ich groß wurde, in den 70ern und 80ern eine richtige Bedrohung dar. Mit 16 war ich auf meiner ersten Demo gegen Rechts, 1979 gab es
das erste Rock-gegen-Rechts-Festival — wenn ich mich richtig erinnere. Und diese Rechten gibt es immer noch „hüben“ wie „drüben“. Thematisiert wird aber — meinem Empfinden nach — nur der „böse rechte
Osten“.
Etwas, was mir erst in den letzten Jahren wirklich
bewusst wurde: Man bot uns im Westen die „Möglichkeit“, Dinge zu verändern, im Gegensatz zum „bösen Osten“, wo der Staat angeblich alles vorgab. Aber heute denke ich, das war doch nur eine Illusion.
Ändern konnten wir wenig bis nichts. Die damalige Öko- und Antikriegsbewegung führte zwar zur Gründung einer grünen Friedenspartei, die den Namen noch verdient hatte — aber was hat es letztlich
gebracht?
Heute stehen grüne Politiker wie Joschka Fischer oder
Marieluise Beck für Krieg beziehungsweise für einen kriegerischen Konfrontationskurs und es gibt eine grüne Machtelite, die sich über Pöstchen freut, Spenden von Rüstungskonzernen annimmt und die
Rodung des Hambacher Forstes genehmigt. Die Demos gegen AKWs haben letztlich auch zu nichts geführt; zum Ausstieg kam es erst nach Fukushima — Jahrzehnte später — und nicht aufgrund der Proteste. Die
Betreiber der Anlagen wurden und werden massiv subventioniert, auch die finanziellen Risiken wie etwa für die Atommüllentsorgung hat jetzt ja wieder der Steuerzahler übernehmen
dürfen.
Die Umweltsituation hat sich aber bis zum Mauerfall —
meinem Eindruck nach — im Westen etwas positiver dargestellt als im Osten. Das war wohl ein Kotau an die Umweltaktivisten. Im Vergleich zu Bitterfeld und ähnlichen Umweltkatastrophen waren die
BRD-Regierungen durch die Grünen und die Straße etwas unter Zugzwang. Oder sehe ich das falsch?
Katrin
Die Umweltbewegung in der DDR war eine wesentliche Kraft
bei der Gründung des Neuen Forums in der DDR, denn hier lag wirklich vieles im Argen. Auch dazu gibt es vermutlich einige interessante Geschichten. Wir haben jetzt schon eine Menge Themen angerissen,
die auftauchen, wenn man einen offenen und unbegrenzten Rückblick wagt. Da aber unser eigener Erfahrungshorizont auch nur einen Ausschnitt unserer jeweiligen Gesellschaft umfassen kann, ist es an
dieser Stelle wohl am besten, den Leser einzubeziehen. Wie haben Sie, lieber Leser und liebe Leserin, die Zeit vor 1989 erlebt?
Wir sind sicher: Jeder, der im Osten oder im Westen des
geteilten Deutschlands aufgewachsen ist, kann konkrete Geschichten darüber erzählen, wie sich die jeweilige Gesellschaft persönlich für ihn oder sie darstellte. Und so lange etwas persönlich erlebt
wurde, kann man nicht darüber streiten, ob es wahr oder falsch ist, denn Erlebnisse sind keine Meinungen, sondern als persönliche Geschichte ein Teil der deutsch-deutschen
Geschichte.
Wir haben 23 Themenvorschläge vorbereitet, zu denen wir
uns Beiträge von einer maximalen Länge von 7 Seiten wünschen. Wenn Sie Interesse haben, an unserem Buchprojekt mitzuwirken, schreiben Sie bitte an
Sie erhalten dann noch einmal eine detaillierte
Projektbeschreibung.
Das Buch soll am 3. Oktober 2020
erscheinen.
Möchten Sie uns beipflichten
oder entschieden widersprechen? Jede Geschichte ist uns willkommen. Anstelle eines Einheitsbreis am Tag der Einheit wünschen wir uns eine vielfältige, sehr gern auch völlig widersprüchliche Sammlung
von Geschichten, die unser Geschichtsbild ergänzen, relativieren und bereichern kann und vor allem, so glauben wir, können Geschichten Vorurteile überwinden und Brücken bauen, um einander zu
verstehen.
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Samstag, 09. November 2019, 15:00 Uhr
~28 Minuten Lesezeit
Enttäuschte Erwartungen
Die Ostdeutschen hatten sich die deutsche Wiedervereinigung ganz anders
vorgestellt.
Im Rubikon-Interview berichtet der Berliner Soziologe Uwe Markus über das Stimmungsbild der
DDR-Bevölkerung im Wendeherbst 1989, über den Wissensstand des Politbüros und über die falschen Einheitshoffnungen ostdeutscher Arbeiter.
Rubikon: Herr Markus, Sie haben als Sozialforscher in der DDR gearbeitet. Ihre Kollegen und Sie haben in den 1980er Jahren in Umfragen und Studien
die Stimmung in der Bevölkerung erfragt. Wie sah diese denn im Wendeherbst 1989 aus?
Uwe Markus: Wer die Wendezeit erlebt hat,
der kann sich an die Stimmung von damals sicher gut erinnern. Es war eine ganz eigenartige Mischung. Auf der einen Seite hat man gemerkt, es gibt in der Bevölkerung einen massiven Vertrauensverlust
in die politische Führung und in deren Fähigkeit, sich auf neue Realitäten einzustellen. Es gab damals dieses geflügelte Wort des „Realitätsverlusts der Greise im Politbüro“. Dafür gab es
verschiedene Indikatoren. Dazu gehörte, dass das Politbüro Glasnost und Perestroika ablehnte, die Zeitung Sputnik verbot und
viele andere Dinge. Man hat Erich Honecker und anderen Herren, die dort Jahrzehnte an der Spitze standen, nicht mehr getraut.
Zudem gab es eine ganz massive Entfremdung von diesem
Gesellschaftssystem und vom Staat, weil die Leute gesehen haben, dass viele Dinge nicht so laufen, wie erwartet. Dass die Versprechen, die immer gemacht wurden, nicht eingehalten
wurden.
Es gab einen Perspektivverlust, das heißt, man konnte
nicht mehr erklären, wo es in dieser Gesellschaft eigentlich hingehen soll. Man hat überall Erosionserscheinungen gesehen. Die Lebensqualität ging zurück. Die Politik konnte keine Antworten mehr
geben. Das alles hat zu einem massiven politischen Überdruss geführt. Niemand hat dieser Führung mehr zukunftsgerichtete Politik zugetraut.
„Überall herrschte große Ratlosigkeit“
1987 und 1988 habe ich Untersuchungen in zwei großen
Unternehmen durchgeführt. Im damaligen Kombinat „Fritz Heckert“ in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz. Das war ein großer Werkzeugmaschinenbaubetrieb. Und in Radebeul beim Unternehmen „Planeta“. Die
haben Druckmaschinen produziert und waren weltweit sehr gut aufgestellt. In beiden Standorten habe ich mich mit der Entwicklung der Lebensqualität beschäftigt. Da ging es sowohl um die
Arbeitsbedingungen als auch um das städtische Umfeld. Und mir konnte damals bereits von den dortigen Leuten mit Entscheidungsbefugnis niemand sagen, in welche Richtung es politisch und ökonomisch
gehen sollte.
Man hat überall nur den Mangel verwaltet und versucht,
Lücken zu stopfen. Die Lücken in den Unternehmen sind vor allem dadurch entstanden, dass Leute Ausreiseanträge gestellt und diesem Land den Rücken gekehrt hatten. Es gab überall eine recht große
Ratlosigkeit. Es war erkennbar, dass man mit diesen ständig wiederholten Parolen aus Parteitagsbeschlüssen in der Praxis relativ wenig anfangen konnte.
Das, was 1989 eskalierte, hatte natürlich eine
Vorgeschichte. Der gesellschaftliche Erosionsprozess begann Mitte/Ende der 1970er Jahre. 1972 gab es noch eine gewisse Aufbruchsstimmung, als Erich Honecker auf dem achten Parteitag sein Programm von
der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ vorstellte. Man hatte kurz den Eindruck, nun kann es mit der Entwicklung der Lebensqualität im Alltag vorangehen. Ein paar Jahre später hatte sich
diese Euphorie sehr abgeschwächt.
Die Enttäuschung war groß, dass viele der postulierten
Ziele nicht eingehalten wurden. Das lag auch an äußeren Faktoren wie dem westlichen Technologieembargo, der veränderten Lage auf den Weltmärkten, den Funktionsdefiziten des Rates für Gegenseitige
Wirtschaftshilfe (RGW) und den zunehmenden wirtschaftlichen Problemen der UdSSR. Aber es gab auch innere Faktoren wo sich Behörden im Weg standen, wo Entscheidungsprozesse zu schwerfällig, wo
Entscheidungsstrukturen verkrustet waren. Und die DDR hatte nicht die Wirtschaftskraft, den notwendigen technologischen Umbruch in der Industrie weitgehend auf sich gestellt zu
bewältigen.
„Der Staatsführung war die schlechte Stimmung sehr wohl bekannt“
Sie sprachen vom „Realitätsverlust der Greise im Politbüro“. War denen die extrem negative gesellschaftliche Stimmung tatsächlich nicht
bekannt?
Es gab in der DDR etliche soziologische Analysen, die
diesen gesellschaftlichen Zustand richtig abbildeten. Oft kamen die vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig. Aber es gab auch entsprechende Untersuchungen an der Akademie der
Wissenschaften, bei der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee (ZK) der SED oder der Akademie der pädagogischen Wissenschaften.
Die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen waren zumindest
den Wissenschaftlern bekannt und wurden diskutiert. Und die Forschungsergebnisse wurden auch den politischen Entscheidungsträgern zur Kenntnis gebracht. Das war ja der erklärte Sinn solcher
Forschungsprojekte — Fehlentwicklungen zu erkennen und im politischen Prozess zu korrigieren. Tatsächlich war es ein Umsetzungsproblem. Man wusste also innerhalb der politischen Führung durchaus oder
konnte zumindest wissen, in welche Richtung sich die Stimmung der Bevölkerung entwickelt. Man hatte aber weder die Kraft noch den Willen, entsprechende Reformen umzusetzen. Die Dynamik der
Entwicklung wurde offensichtlich unterschätzt. Es gab eine Stagnation im politischen Entscheidungsprozess.
Das heißt, diesen Realitätsverlust in der DDR-Führung, von dem man oft hört, gab es nicht? Oder haben die entsprechenden Studien die oberste Führungsebene vielleicht gar nicht
erreicht?
Doch, ich denke, die haben das gewusst. Ich habe damals
an der GW-Akademie gearbeitet. Von dort gingen entsprechende Zusammenfassungen der empirischen Studien rüber ans ZK. Es gab die sogenannten Politbürostudien. Die waren genau für den obersten
Führungszirkel gedacht. Die waren natürlich an vielen Punkten weichgespült. Die gingen durch etliche Filter. Aber jeder, der durch das Land gefahren ist, hat gesehen, was los ist und gemerkt, dass es
viele Probleme gibt, die einer Lösung harren.
Teilweise mag man auf der obersten Führungsebene die
Brisanz nicht erkannt haben, aber hauptsächlich oft war es wohl ein Entscheidungs- und Handlungsdefizit. Ich habe mich damals auch immer gefragt, warum da nichts passiert. Wir als Sozialforscher sind
ja davon ausgegangen, dass es ein prinzipielles Erkenntnisinteresse der Führung gibt. Das ist ja auch der Sinn von empirischer Forschung, Informationen und Handwerkszeug zu liefern, damit Politik der
Realität angepasst werden kann. Genau an dem Punkt passierte aber fast nichts. In der Führung gab es Tabus, an die nicht herangegangen werden durfte.
Welche zum Beispiel?
Die Subventionierung der Mieten, die Subventionierung
der Nahrungsmittel, die ganze Frage der Preispolitik. Diese Bereiche wollte man einfach nicht antasten. Man wollte die Mieten nicht differenzierter gestalten. Es wäre dabei noch nicht mal unbedingt
um eine Erhöhung gegangen, sondern um eine Differenzierung der Mietpreise je nach Qualität und Zustand der Wohnung. Die Subventionierung von Nahrungsmitteln hat teils zu Fehlentwicklungen
geführt.
Also wenn Brot billiger ist als Viehfutter und das dann stattdessen ans
Vieh verfüttert wird, dann muss man politisch reagieren. Aber an diese „heiligen Kühe“ der Subventionierung wollte man in der Staatsführung nicht heran.
Wie gesagt, es gab kein Erkenntnisproblem der
Entscheidungsträger. Es gab unzählige soziologische Untersuchungen auch zur Frage der Wohnungsbauprogramme, zur Frage der Stadtentwicklung und so weiter. Da haben sich Leute die Finger
wundgeschrieben und sich bemüht, dort etwas zu bewegen. Es ist aber nichts passiert und so entstand ein Problemstau, der nicht mehr ohne weiteres aufgelöst werden konnte.
Bevor wir gleich konkret zu den Umfrageergebnissen kommen, erklären Sie bitte kurz, wie arbeiteten DDR-Soziologen konkret. Wie wurden die Umfragen damals gemacht? Wo haben Sie
genau gearbeitet?
Ich habe in Halle studiert und dort waren wir vor allem
auf empirische Untersuchungen und Datenauswertung in der Industrie orientiert. Nach dem Studium bin ich 1985 als wissenschaftlicher Assistent an die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK
der SED gegangen. Dort kam ich in den Bereich Sozialstrukturforschung, wo es darum ging, die Entwicklung der verschiedenen sozialen Gruppen und ihrer Lebenslagen abzubilden. Also eine zentrale Frage
war zum Beispiel: Wie wirken sich technologische Veränderungen auf die strukturelle Zusammensetzung der Gesellschaft aus. Das war damals ein großes Thema. Eine weitere Forschungsgruppe befasste sich
mit Stadtentwicklung, eine andere mit der Entwicklung sozialer Strukturen auf dem Lande.
Ich war eingebunden bei einer Untersuchung in den
Betrieben, wo es darum ging, unterschiedliche Technologieniveaus zu identifizieren und die gesellschaftlichen Konsequenzen des beginnenden technologischen Umbruchs zu beschreiben. Wir hatten in der
DDR auf der einen Seite total veraltete Betriebe, wo mit Technik fast noch aus der Jahrhundertwende gearbeitet wurde, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Dann gab es ein mittleres
Niveau und auf der anderen Seite auch High-Tech-Betriebe. Und wir haben Vergleichsanalysen zur sozialen Lage in diesen Unternehmen durchgeführt.
Und mit welchen Forschungsmethoden haben Sie Ihre Informationen gewonnen?
Unser Vorgehen unterschied sich nicht von den
etablierten Methoden der empirischen Sozialforschung, die auch im Westen üblich waren und bis heute üblich sind. Also es gab zum einen große Bevölkerungsumfragen über Stimmungs- und Meinungsbilder.
Das geschah mit standardisierten Fragebögen, deren Ergebnisse rechentechnisch erfasst und anschließend ausgewertet wurden. Dann gab es Fallstudien, etwa in bestimmten Betrieben oder
Verwaltungseinheiten. Da hat man sowohl quantitative Methoden wie standardisierte Fragebögen benutzt, aber auch qualitative Methoden wie narrative Interviews, Experteninterviews oder Gruppengespräche
angewendet.
Über diesen Methodenmix hat man als Forscher einen
durchaus objektiven Blick auf die tatsächliche Stimmungslage in der Gesellschaft bekommen. Die zusammengefassten Ergebnisse sind in den politischen Entscheidungsbereich weitergegeben worden. Darauf,
wie das dort dann reflektiert wurde, hatten wir natürlich keinen Einfluss mehr.
„Die Menschen haben in Interviews mit uns Klartext geredet“
Wie offen und ehrlich waren die Leute Ihrer Ansicht nach in den Interviews? Haben die ihrem Frust freien Lauf gelassen oder haben Sie gemerkt, dass da etwas zurückgehalten
wird?
Mein Eindruck war immer positiv, also die haben offen
gesagt, was sie dachten. Wir haben den Gesprächspartnern vorher verdeutlicht, dass die Interviews anonymisiert werden. Das haben wir auch eingehalten. Das ist eine Frage der Berufsethik. Es ist so
gewesen, dass die Leute dankbar dafür waren, dass mal jemand gekommen ist und sich für ihre Probleme interessiert. Das ist so eine Art Seelsorger-Effekt, den man aus der Umfrageforschung schon seit
langer Zeit kennt.
„Endlich hört mir mal jemand zu! Endlich werde ich als Individuum mit
meinen Problemen, Ängsten und Hoffnungen wahrgenommen und kann die Dinge so darstellen, wie ich sie sehe.“
Und das haben die Leute auch sehr offensiv gemacht und
haben alles benannt, was an Problemen auftrat. Egal ob es um die Arbeitswelt ging, um das kommunale Umfeld, um die Anzahl von Restaurantplätzen, um die Freizeitmöglichkeiten oder das ganze Thema
Reisen. Da ist Klartext geredet worden. Die Interviews hatten für die Leute natürlich eine gewisse Ventilfunktion. Sie hatten auch Hoffnung, dass das, was sie sagen, in politische Entscheidungen
einfließt und das Land weiterbringt. Das war ja auch für uns Sozialforscher immer die Motivation. Wir hatten die Hoffnung, dass wir durch solche Erhebungen Einsicht in der Politik erzeugen und das
System besser und menschenfreundlicher machen können.
Auch im Wendejahr 1989 war die DDR-Sozialforschung aktiv. Sie haben die Studien und Zahlen ja vorliegen. Deuteten sich die Montagsdemos und andere Proteste des Herbstes vorher
konkret an?
Ja, es gab entsprechende Untersuchungen auch schon in
den Jahren davor. Ich will das mal an einem Beispiel konkret machen. Ein Freund und Kollege von mir, Rainer Thieme, hatte seine Dissertation geschrieben zum Thema „Antragstellungen auf ständige
Ausreise — Versuche einer Bilanz aus soziologischer Sicht“. Er weist darin auf die stark erhöhte Zahl der Ausreiseanträge hin. Und da gibt es folgende Kernaussage: Bei der Mehrzahl der Fälle liegt
die Ursache in einem „zunehmenden Auseinanderfallen von sich verändernden individuellen Bedürfnissen und den stagnierenden, sich teilweise rückläufig entwickelnden Realisierungsbedingungen“ dafür.
Also die Leute kehrten dem Land den Rücken, weil offizielle Selbstdarstellung des Landes und die Alltagsrealität weit auseinanderklafften. Die Menschen sagten: „Hier wird sich auf absehbare Zeit
nichts ändern.“
„82
Prozent waren über die Umweltsituation besorgt“
Es gab zum Beispiel auch eine Untersuchung im Bezirk
Dresden im Frühjahr 1989. Darin gibt es folgende Aussage: „Dass sich auf wichtigen gesellschaftlichen Gebieten überwiegend oder nur Rückschritte in den 1980er Jahren vollzogen haben“, äußerten in
Bezug auf die Versorgung der Bevölkerung 50 Prozent der Befragten. Hinsichtlich der medizinischen Betreuung meinten das 32 Prozent der Befragten. Rückschritte bei der Gestaltung zwischenmenschlicher
Beziehungen beklagten 29 Prozent. Und bei der Effektivität der zentralen staatlichen Leitung sahen 26 Prozent erhebliche Probleme. 82 Prozent haben sich über die Umweltsituation besorgt geäußert. Der
Verschleißgrad der Maschinen in den Betrieben wurde thematisiert, genauso wie der Verfall der Altbausubstanz — besonders in den Städten Meißen, Görlitz und Riesa.
Eine weitere Studie hieß „Soziale Probleme der
Entwicklung von Städten und Dörfern in der DDR“. Das wurde auch in der Akademie veröffentlicht. Zitat daraus: „Nach Auffassung eines beachtlichen Teils der Befragten haben sich wesentliche
Lebensbedingungen, die das Wohlbefinden und die Lebensqualität in unserer Gesellschaft beeinflussen, in den letzten Jahren verschlechtert.“ Das betraf insbesondere das Warenangebot. Hier
konstatierten damals über 63 Prozent der Befragten eine Verschlechterung.
Die Umweltbedingungen: Knapp über 60 Prozent sahen eine
Verschlechterung. Bei der Möglichkeit, sich für sein Einkommen etwas zu kaufen, waren es 44 Prozent, beim Niveau der Dienstleistungen 30 Prozent. Unzufrieden mit der Einbeziehung in die
Weiterentwicklung des Wohngebiets waren 43 Prozent der Probanden und mit den Einkaufsmöglichkeiten 47 Prozent. Mit den Dienstleistungen und Reparaturen: 46 Prozent. Mit der Umweltsituation: 58
Prozent. Rund 15 Prozent der Befragten wurden als potenzielle Ausreisekandidaten eingeschätzt. Auch diese Studie ist 1989 abgeschlossen worden.
Gab es bestimmte Orte, wo die Unzufriedenheit besonders hoch war?
Sehr problematisch war es in Klein- und Mittelstädten.
Dort gab es viel weniger Investitionen, viel weniger Wohnungsbau, weil die Kapazitäten dafür nach Ost-Berlin beziehungsweise in die Bezirksstädte abgezogen worden waren. Die Klein- und Mittelstädte
waren abgekoppelt und besonders stark verschlissen. Dort wurde auch schnell die Abrissbirne eingesetzt, weil man die hohen Kosten für die Sanierung von Altbauten nicht tragen wollte und konnte. Dort
waren auch die sonstigen Versorgungsverhältnisse ausgesprochen schlecht. In der eben genannten Studie steht zu den kleinen und mittleren Städten: „59 Prozent der befragten Bürger sind unzufrieden mit
der allgemeinen Wohnungssituation im Wohnort, 54 Prozent mit der Entwicklung des Wohnortes in den letzten zehn Jahren.“ In solchen Städten hielten 49 Prozent der Befragten ihren Wohnort für unsauber,
26 Prozent für hässlich und 50 Prozent für langweilig.
„An
der DDR-Stagnation war auch der Wirtschaftskrieg des Westens schuld“
Sie reden immer wieder von der Stagnation in der DDR. Können Sie aus soziologischer Sicht mal erläutern, was konkret die Gründe dafür waren? So dass Menschen, die nicht in der DDR
gelebt haben, sich in die Zeit und Situation hineinversetzen können. Welche Alltagsmechanismen waren verantwortlich für die Blockade und Perspektivlosigkeit der
Gesellschaft?
Ja, die DDR ist ja in den 1950er Jahren tatsächlich als
sehr dynamische Gesellschaft aufgebrochen. Aus meiner Sicht gibt es vier entscheidende Aspekte, um Ihre Frage zu beantworten. Das erste sind wirtschaftspolitische Ursachen. Schon in der
Gründungsphase hatte es einen Wirtschaftskrieg des Westens gegen diesen Staat gegeben — verbunden mit der Unterbrechung vieler traditioneller arbeitsteiliger Beziehungen. Also mussten neue
Wirtschaftsstrukturen aufgebaut werden, um sich gegen westliche Störversuche — etwa im Bereich der Stahlerzeugung — abzusichern. Das erforderte erhebliche Investitionen, die anderswo fehlten. Hinzu
kamen die Reparationen, die bis Anfang 1954 an die UdSSR zu zahlen waren. In einigen Bereichen hat sich die DDR von dem damaligen Aderlass bis zu ihrem Ende nicht erholen
können.
Ab Ende der 1960er blieb die DDR technologisch immer
mehr hinter der Bundesrepublik zurück. Diverse westliche Technologieembargos verstärkten diesen Trend bis in die 80er. Was man im Westen nicht kaufen konnte, musste man selbst entwickeln oder unter
Umgehung der Embargos beschaffen — ein extrem kostentreibendes Unterfangen. Auch die technologische Schwäche der Sowjetunion in der Zivilwirtschaft und die Mängel des Rats für gegenseitige
Wirtschaftshilfe (RGW) sind äußere Gründe.
Zudem gab es einen ökonomischen Investitionsstau. In den
1980er Jahren gab es nur noch Re-Investitionen in die Wirtschaft von zehn bis zwölf Prozent des jährlichen Nationaleinkommens. Das war eindeutig zu wenig und führte zu einem Verschleiß der
Produktionsmittel, der Infrastruktur und zu extremen Umweltproblemen. Letzteres bewirkte weitere Einschränkungen der Lebensqualität. Wenn Sie sich den Bezirk Halle in Erinnerung rufen, diesen
Chemiebezirk mit unzähligen Betrieben und deren Verschmutzungen von Luft und Wasser, dann können Sie niemandem erzählen, dass das positive Bedingungen für ein gutes Leben
sind.
„Die DDR hat ihre Leistungsmechanismen selbst ausgehebelt“
Die zweite Ursache war eine sozialstrukturelle. Die DDR
wollte massive soziale Ungleichheiten hinsichtlich der Bildungs- und Lebenschancen beseitigen, was ihr auch weitgehend gelungen ist. Das gehörte zum Selbstverständnis dieses Staates und war ein
wesentlicher Legitimationshintergrund. Und das bleibt eine enorme historische Leistung. In der Gründungsphase wurde gerade über die Bildungspolitik viel für die sozialstrukturelle Öffnung der
Gesellschaft und für den sozialen Aufstieg bislang benachteiligter Gruppen getan.
Die DDR war aber auch eine Industrie- und Leistungsgesellschaft. Sie
musste sich über die Steigerungen der Arbeitsproduktivität entwickeln. Individuelle Leistung musste also zumindest teilweise Maßstab für Einkommen und Konsum
bleiben.
Leistungsabhängige soziale Unterschiede waren in dieser
Phase der Entwicklung unverzichtbar. Die Politik hatte aber sozialpolitische Ausgleichsmechanismen eingeführt wie die Angleichung von Löhnen und Gehältern unterschiedlicher Qualifikationsgruppen und
diverse Sozialleistungen, die unabhängig von der individuellen Leistung zugänglich waren. Das bewirkte sukzessive eine zunehmende Statusangleichung der verschiedenen sozialen Gruppen. In der
Soziologie spricht man von Nivellierung.
Diese Mechanismen verhinderten häufig, dass sich
individuelle Leistung für den Einzelnen auch lohnte. Das Einkommen wurde tendenziell von der individuellen Leistung oder Qualifikation abgekoppelt. Also wenn ich beispielsweise als Ingenieur weniger
verdiene als ein Facharbeiter oder als Wissenschaftler keine größere Wohnung als die zugewiesene bekommen kann, um mir dort ein Arbeitszimmer einzurichten, dann hat man persönlich ein Problem, sich
in so einer Gesellschaft produktiv zu verhalten und seine Fähigkeiten einzubringen.
Es war immer Thema bei uns an der Akademie, wie sich
massive soziale Ungleichheiten verhindern lassen, aber gleichzeitig maßvolle soziale Abstufungen genutzt werden können, um die Gesellschaft produktiver zu machen. Die Menschen müssen Anreize haben,
sich fortzuentwickeln, sich zu qualifizieren, aufzusteigen. Diese Mechanismen wurden nicht im erforderlichen Maß genutzt, weil die politische Vorgabe lange Zeit hieß: „Wir wollen letztlich die
klassenlose Gesellschaft“ und weil man meinte, sich diesem Fernziel über sozialpolitische Umverteilungsmechanismen nähern zu können.
„Der Zugang zu guten Waren war nicht von der Leistung abhängig, sondern von Westverwandtschaft“
Das Problem ging noch weiter: Wenn der Ausdruck der
individuellen Arbeitsleistung das Arbeitseinkommen ist, dann muss die Wirtschaft auch entsprechende Waren und Produkte bereitstellen, die die Leute für das Einkommen in ihrer (Binnen-)Währung kaufen
können. Nur dann ist der individuelle Wohlstand abhängig von dem, was ich beruflich leiste. Wenn es aber — so wie in der DDR — eine zweite Währung gibt in Form der D-Mark oder in Form der
Forum-Schecks, dann ist der Zugang zu bestimmten attraktiven Gütern, die man damals im Intershop kaufen konnte, nicht mehr von der individuellen Arbeitsleistung abhängig, sondern davon, ob man
Verwandtschaft in Westdeutschland hat oder nicht.
Die DDR hat also durch ihre soziale Nivellierungspolitik
und die inoffizielle Akzeptanz einer zweiten Währung das eigene Leistungsbewertungssystem ausgehebelt. Wenn die Leute gesehen haben, es gibt bestimmte Waren nur im Intershop gegen „harte Währung“ und
dass sie dort keinen Zugang haben, egal, wie sie sich anstrengen oder wenn jemand sieht, dass er nach einem Studium materiell schlechter gestellt ist als ohne Studium, dann funktioniert das alles
nicht. Diese Probleme hatten Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft.
„Die Konsummöglichkeiten wurden immer mit denen der BRD verglichen“
Und der dritte Grund für die Stagnation war?
Das waren die großen Defizite in der Lebensqualität —
also etwa der Zustand der Umwelt, der Zustand der Wohnungen, das Stadtbild, die Freizeit- und Reisemöglichkeiten. Habe ich die Chance, mal nach Paris oder woanders ins westliche Ausland zu fahren?
Wenn das auf Dauer verunmöglicht wird, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern weil Verantwortliche meinen, die Leute bleiben „drüben“ und das soll verhindert werden, dann schafft der Staat
latentes Misstrauen und die Leute fühlen sich bevormundet.
Zur Lebensqualität gehört natürlich auch die Frage der
Konsummöglichkeiten. Das war ein Riesenproblem in der DDR. Gerade daran haben die Menschen immer wieder bemerkt, dass diese Gesellschaft bestimmte selbst vorgegebene Standards nicht erfüllen konnte.
Natürlich muss man dazu wissen, dass die DDR-Bürger als Referenzsystem immer die Bundesrepublik im Kopf hatten. Das heißt der Konsum in der BRD war der Maßstab für die Zufriedenheit mit dem Konsum in
der DDR. Auch die DDR-Führung hat so gedacht. Da hat man immer mit dem westlichen System gewetteifert. Und wenn man diese Maßstäbe übernimmt, muss man sich nicht wundern, dass man diesen Wettbewerb
wegen der anderen Voraussetzungen nicht gewinnen kann.
Und die vierte Ursache ist die politische Gängelung und Entmündigung. Es
gab starke Demokratiedefizite. Offiziell wollte man die Menschen einbeziehen, aber stellte das immer unter diesen engen politischen Vorbehalt. Das ging den Leuten auf die
Nerven.
Die ständigen Parolen, die ständige Agitation, die
ständigen Aufmärsche, die einseitig berichtenden Medien. Die Menschen haben sich dann lieber über westdeutsche Medien informiert, weil sie den Eindruck hatten, dort gebe es objektive Informationen.
Das alles führte zur Entfremdung und zur Abkehr von diesem Staat.
Aber wie schon gesagt, das war der politischen Führung
alles bekannt. Es gab kleinere Versuche, gegenzusteuern. Zum Beispiel beim Jugendfernsehen „elf99“ oder dem Jugendradio DT64. Es wurde dort Ende der 80er versucht, die jungen Leute anders
anzusprechen und die Dinge offener zu handhaben. Gleichzeitig gab es Glasnost und Perestroika. Das zeigte den Leuten, es ist plötzlich möglich, über Dinge zu sprechen, die bis dahin tabu waren. Aber
eine DDR-spezifische Diskussion der immer schwieriger werdenden Systemrealität fand offiziell nicht statt. Die Leute haben also der DDR innerlich gekündigt und sich ins Private zurückgezogen. Deshalb
gab es Resignation und Stagnation.
„Mindestens ein Drittel der Leute sah keine Perspektive mehr“
Wie hat sich denn diese Resignation in Umfragen konkret geäußert?
Zur Perspektivlosigkeit gibt es ein schönes Zitat aus
einer der vorhin genannten Studien: „Gerade auch bei jenen Lebensbedingungen, die die Werktätigen am kritischsten beurteilen, denen nach ihrer Meinung in der Politik eine höhere Priorität eingeräumt
werden sollte, erwartet etwa ein Drittel der Befragten bis zum Jahre 2000 keine spürbare Verbesserung. Das ist umso schwerwiegender, als es sich hierbei um Themen und Probleme handelt, die die
sozialistische Gesellschaft ohnehin schon seit vielen Jahren begleiten.“ Das ist eine Aussage aus der Studie von 1989.
Ein Drittel der Bürger hat Ende der 1980er keine
Perspektive in der DDR gesehen. Viele haben dann mit den Füßen abgestimmt und es eskalierte ab Sommer 1989. Auch nach Honeckers Entmachtung kamen mit Egon Krenz und den anderen ja keine neuen Leute
an die Macht. Die waren auch moralisch verschlissen. Da war bei den meisten Menschen die Schmerzgrenze erreicht und sie haben gesagt: Ich will das alles nicht mehr. Friedrich Schorlemmer, der damals
als Bürgerrechtler aktiv war, hat das 1990 sehr schön auf den Punkt gebracht.
„Nach dem Desaster die Gegenreaktion. Kein Sozialismusexperiment mehr!
nur allzu verständlich. Wer gibt die Garantie, dass wir nicht gleich wieder Versuchskaninchen einer großen Idee werden, wobei der gute, große Zweck wieder die bösartigen und kleinlichen Mittel
rechtfertigen könnte ...“
Und genau das war die Stimmung eines Teils der damaligen
DDR-Bürger, die sofort den Anschluss an die Bundesrepublik wollten und dazu im März 1990 die Allianz für Deutschland gewählt haben. Das waren 48 Prozent der Stimmen. Die sagten: „Keine Experimente
mehr, ich will meine Lebenszeit nicht weiter vergeuden!“
Und das hat die Aufrufe Ende 1989, die DDR zu erhalten
und zu reformieren, damals schon illusorisch gemacht. Auch viele Leute in der Bürgerrechtsbewegung haben schnell mitbekommen, dass große Teile keinen erneuerten Sozialismus, sondern den scheinbar
einfacheren Weg der Anpassung an das Erfolgsmodell BRD wollten.
Wie haben Sie und Ihre Kollegen des Instituts im Wendeherbst reagiert? Konnten Sie dann noch arbeiten und wenn ja, was haben Sie getan?
Also im Prinzip passierte in der Akademie für
Gesellschaftswissenschaften, weil wir eine Parteieinrichtung waren, empirisch nicht mehr viel. Wir, also einige jüngere Leute, haben uns dann zusammengeschlossen und gesagt: „Wir machen jetzt
Meinungsforschung. Wir haben alle Möglichkeiten.“ Ab November 1989 haben wir regelmäßig demoskopische Analysen durchgeführt. Das wurde später auch als Sammelband veröffentlicht. Wir haben die Wahlen
demoskopisch begleitet, aber auch danach Stimmungsbilder erhoben, also etwa: Welche Erwartungen hatten die Leute an die Einheit?
„Das Bild der Bundesrepublik speiste sich aus Werbung und Verwandtschaftsbesuchen“
Bleiben wir gern dabei. Welche Erwartungen hatten die Ostdeutschen denn an die Einheit?
Die Mehrheit der Leute wusste nicht, was auf sie
zukommt. Das Bild der Bundesrepublik speiste sich bis dahin im Prinzip nur aus dem, was die Leute aus der Werbung kannten und aus dem, was sie bei Besuchen im Westen gesehen hatten. Diese
Wahrnehmungen waren euphorisch und selektiv. Man sah das Warenangebot, das Bild der Innenstädte und die Kleidung der Westdeutschen. Das war natürlich alles anstrebenswert. Was man auf den ersten
Blick aber nicht sah, war, dass es auch in dieser Gesellschaft soziale Verwerfungen und Armut gibt. Dass das Leben im Westen beziehungsweise sich diesen Konsumwohlstand individuell zu sichern, mit
sehr vielen Anstrengungen verbunden ist. Die Ostdeutschen wollten den Wohlstand auch, hatten im Hinterkopf aber natürlich noch ihre DDR-Sozialisation.
„68
Prozent der Ostdeutschen wollten 1990 das Volkseigentum beibehalten“
Viele haben sich eingebildet, man könne wesentliche
Elemente der DDR beibehalten. Wir hatten in unseren Befragungen da aus heutiger Sicht ganz viele eigentümliche Aussagen dazu. Zum Beispiel was mit dem Volkseigentum passieren soll. Interessant ist
zum Beispiel unsere Untersuchung aus dem Februar 1990.
Da waren 68 Prozent der Befragten der Meinung, dass das
Volkseigentum als dominierende Rechtsform der Volkswirtschaft weiter bestehen bleiben sollte. 74 Prozent sprachen sich dafür aus, das private Betriebe nicht über die Größenordnung kleiner und
mittlerer Betriebe hinausgehen sollten. 61 Prozent der Befragten stimmten in vollem Umfang zu, dass kommunales und genossenschaftliches Eigentum an Wohnungen weiter durch staatliche Subventionen vor
dem Zugriff privater Vermieter geschützt werden sollte. Nur 14 Prozent waren dagegen. Da hat es ganz eigene Vorstellungen im wirtschaftspolitischen Bereich gegeben.
Aber auch im politischen Bereich. In derselben Umfrage
haben sich 48 Prozent der Wähler in der DDR dafür ausgesprochen, dass der Prozess des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten schneller als der europäische Einigungsprozess verlaufen sollte und
dass beide Staaten den Prozess der Vereinigung gleichberechtigt gestalten müssten. Für den unverzüglichen Beitritt der DDR zur BRD und für die Übernahme des bundesdeutschen Systems im Osten waren in
dieser Studie nur elf Prozent. Der Rest ging von einer Art mehrjährigem Übergangsprozess aus. So klar und einfach wie Medien und Politik das heute darstellen, war es nicht. Einige wollten die
schnelle Einheit, aber viele haben auch die Risiken gesehen.
„75
Prozent wollten 1990 die Auflösung von NATO und Warschauer Pakt“
Zu diesem Zeitpunkt gab es noch sehr viele Unklarheiten.
Das war vor der Volkskammerwahl und man wusste damals auch noch nicht, ob sich die UdSSR mit der Entwicklung so einfach abfinden würde. Zu dieser Zeit haben auch 75 Prozent gesagt, dass NATO und
Warschauer Vertrag abrüsten und letztlich vollständig aufgelöst werden müssten.
Ende Mai 1990, also kurz vor der Währungsunion, haben
wir eine Umfrage speziell zu deutschlandpolitischen Themen durchgeführt. Da haben wir unter anderem nach den Gründen der Vereinigungsbefürworter für ihre Meinung gefragt. Die Antworten widerlegen
einfache Erklärungsmuster von heute.
Von denjenigen, die die Einheit wollten, begründeten das
33 Prozent damit, dass sie sich als Deutsche fühlen und in einem einheitlichen deutschen Staat leben wollten. Die DDR hatte diesen nationalen Aspekt jahrelang unterschätzt. 20 Prozent sagten, sie
wollen einen Lebensstandard erreichen, wie er in die BRD üblich ist. Ein weiteres Fünftel befürwortete vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und gemeinsamer kultureller Werte die Einheit. Acht
Prozent meinten, dass sie in einem einheitlichen Deutschland bessere persönliche Entwicklungsmöglichkeiten hätten.
Wir haben auch die Gegner der Einheit gefragt, warum sie
dagegen sind. Dort dominierte die Angst vor den sozialen Härten und der Wunsch nach einem eigenen Weg der DDR, da die Vereinigung nicht gleichberechtigt verlaufen werde.
„40
Prozent wollten eine völlig neue Verfassung für das vereinigte Deutschland“
Wir haben auch die Meinungen zur Verfassung des
vereinten Deutschlands erhoben. 40 Prozent aller Befragten wollten für das vereinigte Deutschland die Erarbeitung einer völlig neuen Verfassung. 23 Prozent wollten ein modifiziertes Grundgesetz. 19
Prozent wollten es unverändert lassen, aber einige Sonderregelungen für die neuen Bundesländer einfügen. Nur acht Prozent waren für eine komplette Übernahme des Grundgesetzes ohne Änderungen und fünf
Prozent wollten, dass die vom Zentralen Runden Tisch der DDR neu ausgearbeitete Verfassung für ganz Deutschland gelten sollte. Große Teile wollten auch eine Volksabstimmung über die neue
Verfassung.
Daran sieht man, dass die Vorstellungen im
Vereinigungsprozess ganz andere waren, als es dann gekommen ist. Das große Erwachen kam danach. Da hat man gemerkt, jetzt gilt das Grundgesetz, alles ist anders. Von einem gleichberechtigten
nationalen Diskurs über das zukünftige deutsche Zusammenleben war keine Rede mehr. Das hat ernüchtert.
„Gerade die Gruppe der Arbeiter, die mehrheitlich die schnelle Einheit wollte, wurde zuerst arbeitslos.“
Im seinem Buch „Die Übernahme“ zitiert der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ebenfalls eine Umfrage aus dem Frühjahr 1990 (1). Darin wurden die Hauptängste der DDR-Bürger
abgefragt. Da nannten die Menschen vor allem Umweltverschmutzung und steigende Kriminalität. Erstaunlich für mich ist, dass Arbeitslosigkeit ziemlich weit hinten rangierte. Ist diese Unterschätzung
der realen Gefahren der Wiedervereinigung auch auf die DDR-Sozialisation zurückzuführen? In der DDR war Arbeitslosigkeit ja keine reale Bedrohung.
Das ist sehr interessant und korrespondiert mit den
Ergebnissen der DDR-Volkskammerwahl 1990. Damals fuhr die Allianz für Deutschland besonders hohe Wahlergebnisse in den Südbezirken, in den Mittelstädten und im grenznahen Bereich ein, also in
besonders vernachlässigten Gegenden der DDR. Hinzu kommt, dass 60 Prozent der Arbeiter Parteien der Allianz für Deutschland wählten. Diese Gruppe hat bewusst so gewählt, weil sie einen schnellen
Anschluss an die Bundesrepublik wollte. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wenn man diesen Leuten damals gesagt hat: „Bei dieser Wahlentscheidung müsst ihr aber auch Arbeitslosigkeit
akzeptieren.“
Da haben die einen ausgelacht und gesagt: „Was denn? Wir
sind produktiv tätig, wir haben uns immer angestrengt, wir sind leistungsbereit. Gebt uns die anständigen Maschinen! Gebt uns die Westtechnologie und wir werden keinerlei Probleme
haben!“
Man war damals der Meinung, dass Arbeitslosigkeit eher
diejenigen trifft, die zu den Funktionseliten gehörten. Also Ingenieure, Verwaltungsleute und so weiter. Aber als nach der Währungsunion die osteuropäischen Märkte für die ostdeutschen Betriebe
wegbrachen, weil man nun die Löhne in D-Mark zahlen musste und die Kunden in Osteuropa keine Devisen für den Import der ostdeutschen Produkte hatten, da hat die Arbeitslosigkeit genau die soziale
Gruppe der Arbeiter getroffen, die zuvor mit ihrer Wahlentscheidung den unverzüglichen Beitritt der DDR zur BRD herbeigeführt hatte. Das ist einerseits paradox, andererseits aber absehbar gewesen.Der
Deindustrialisierungsprozess ist vor allem zu Lasten der Arbeiter gegangen. Ihre Leistungsbereitschaft war unerheblich.
Ich nehme an, dementsprechend haben sich auch die Umfrageergebnisse in den folgenden Jahren gedreht.
Ja, es gab eine starke Verschiebung hin zu den
existenziellen Themen. Aber ich persönlich habe mich in dieser Zeit eher auf Marktanalysen für große Unternehmen konzentriert.
Wie ging es denn mit Ihnen und Ihren Kollegen aus der DDR-Sozialforschung nach 1990 beruflich weiter?
Ich habe die Wendezeit für mich persönlich als große
Chance gesehen, weil es plötzlich eine neue Freiheit der Forschung gab. Ich musste mir nichts mehr genehmigen lassen. Mir wurden die Zahlen sozusagen aus den Händen gerissen — von den Medien
beispielsweise oder westdeutschen Marktforschungsinstituten, die alle damit beschäftigt waren, „den Ossi“ zu ergründen. Das war ja sowas wie der Yeti. Wir haben damals ziemlich schnell Angebote von
westdeutschen Instituten bekommen, mit denen gemeinsam Marktforschung zu betreiben. Das haben wir auch erfolgreich getan. Für mich persönlich war das also sehr positiv.
„Die DDR-Soziologie wurde gnadenlos abgewickelt.“
Wenn ich mich aber umschaue, welcher DDR-Soziologe und
welche Einrichtungen da noch übrig geblieben sind, dann ist das sehr überschaubar. Im universitären Bereich hat man die Soziologen im Lehrbetrieb gnadenlos abgewickelt und die Institute, die häufig
als Vereine oder Stiftungen weiterarbeiteten, mussten schwer um Fördergelder kämpfen. Den DDR-Sozialforschern wurde im Nachgang aus dem Westen oft Systemnähe und methodische Rückständigkeit
vorgeworfen. Das war völliger Unfug. Wir waren wissenschaftliche Exoten, die mit ihren Erhebungen und deren Ergebnissen den politischen Entscheidern oft lästig fielen. Natürlich ging es darum, das
DDR-System zu verbessern und effizienter zu machen. Das mag man als Systemnähe denunzieren, es wird aber der damaligen Situation der empirischen Forschung in der DDR nicht
gerecht.
Und hinsichtlich der Forschungsmethodik hatten wir zum
Westen keinen Rückstand. Wir konnten sofort mit unseren Westpartnern kooperieren. Ich habe in den letzten 30 Jahren mit vielen Marktforschungsinstituten aus der Bundesrepublik zusammengearbeitet und
habe oft festgestellt, wir im Osten waren in vielen Punkten methodisch weiter.
Zum Ende noch ein interessanter Punkt: Ihr Institut hatte im November 1989 auch Mitarbeiter zu den offenen Berliner Grenzübergängen geschickt. Was haben die bei den Gesprächen mit
den DDR-Bürgern damals erfahren?
Unsere Interviewer sind zu den Mauerdurchgängen gefahren
und haben versucht, Stimmungsbilder einzufangen. Das waren keine repräsentativen Umfragen. Unsere Leute waren da mit kurzen Fragebögen. Und das Ergebnis, das sie mitbrachten, zeigte im Grunde, dass
die Ostdeutschen mal rüberfahren wollten, um zu sehen, wie der Westen ist. Die haben das genossen und gesagt:
„Endlich können wir das mal machen. Aber wir bleiben
trotzdem in der DDR.“
Das war der Tenor. Sie wollten nicht abhauen, sondern
nur mal rüber gucken. Das heißt auch, der Druck, der in den Jahren zuvor auf dem Kessel war, den hätte die DDR schon viel früher abbauen können. Man hätte den Leuten sagen
können:
„Ja, ihr dürft reisen. Guckt euch die Welt an. Dann
könnt ihr das mit der DDR vergleichen.“
Die Ostdeutschen an der Mauer
haben am 10. November völlig entspannt reagiert. Das Wochenende stand an. Sie fuhren rüber, haben geguckt und kamen euphorisch zurück. Sicher sind in den Monaten danach die Ausreisezahlen gestiegen,
aber die allermeisten haben in der DDR ihr Leben weitergeführt und sind zur Arbeit gegangen. Es hatte überhaupt nicht diese Dramatik, dass nun alle wegrennen.
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Samstag, 09. November 2019, 15:00 Uhr
~23 Minuten Lesezeit
Wende-Episoden
Die Geschichte der Übernahme der DDR durch Westdeutschland ist eine Geschichte
verpasster Chancen für wirklichen Wandel.
Der Autor — ein Kind des Staates DDR — ist der Ansicht, dass jene Zeit, die heute als Wendezeit
bejubelt und verklärt wird, viel mehr eine Zeit der verpassten Gelegenheiten für eine wirkliche Wende war. Als die Menschen in der DDR die großartige Möglichkeit erhielten, selbst über ihr
zukünftiges System zu entscheiden — einschließlich des einzuschlagenden Weges —, verzagten sie und wählten den bequemen Weg, „übernommen“ zu werden.
Die Opfer der DDR blieben auch später Opfer.
Für sich selbst vertraten und vertreten auch heute oft wie unbewusst viele dieser Menschen diesen Anspruch, vor, während und nach der sogenannten Wende vor allem Opfer gewesen zu sein. Doch was für
eine Art von Wende war das? War es nicht letztlich eine kollektive Hinwendung zu dem, das heute für Ausbeutung und Krieg verantwortlich ist?
Viele Details jener ereignisreichen Tage, in denen der
Untergang der DDR — bis dahin geführt als zentralistischer Staat mit einer streng ideologischen Ausrichtung und dem absoluten Machtanspruch der „Partei der Arbeiterklasse“ — eingeleitet wurde, sind
aus der Erinnerung und damit dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Aus diesem Grunde habe ich mir die Mühe gemacht, tief in meiner Erinnerung zu graben, um jene Zeit aus einer
autobiografischen Sicht lebendiger zu machen.
Wenn von einer aufbegehrenden Zivilgesellschaft
gesprochen wird, die als Ursache für den Sturz der SED-geführten DDR-Regierung auszumachen ist, dann geht das — so meine ich — ein Stück an der Realität vorbei. Das ignoriert keinesfalls das
Engagement von Einzelpersonen und Gruppen aus der Friedens- und Umweltbewegung sowie der Kirche, die sich seit Jahren für eine andere DDR einsetzten. Doch waren diese politisch aktiven Menschen bis
zum Oktober 1989 eine kleine Minderheit — und blieben es darüber hinaus auch. Eine Veränderung der DDR, dem ein Wandel im öffentlichen Bewusstsein voranging, stand trotzdem an und hatte bereits
begonnen. Die Ereignisse ab Sommer 1989 gaben diesem Prozess allerdings eine andere Richtung, eine für die wir DDR-Bürger immer empfänglich waren.
Aufstand mündiger Bürger?
Am Mittwoch, dem 4. Oktober 1989, kehrten wir — ein
Kollege und ich — spät abends von einer LKW-Fernfahrt zurück und durchquerten die Dresdner Innenstadt. Wir verstanden nicht wirklich, was da vor sich ging. Der Bereich zwischen Prager Straße und
Hauptbahnhof war — nach 22 Uhr war das damals völlig ungewöhnlich — mit unglaublich vielen Menschen bevölkert. An in überbordender Menge auftretende Polizei oder andere Sicherheitskräfte kann ich
mich nicht erinnern. Es gab auch keine Straßensperrungen. Wir fuhren direkt am Dresdner Hauptbahnhof vorbei und durch dessen beide Brücken hindurch.
Direkt am Bahnhof sahen wir Massen von Menschen — zum
imposanten Bahnhofsgebäude hin eine überschaubare Anzahl Polizisten, davor „andere Leute“. Wie gesagt, war uns in diesem Augenblick unklar, was da vor sich ging. Als wir nach Passieren der
Bahnbrücken links auf die Strehlener Straße abbogen, staunten wir nicht schlecht.
Auf der gesamten Straße waren Dutzende, wenn nicht
Hunderte Fahrzeuge kreuz und quer, also wild geparkt. Dutzende Menschen liefen — nur mit Beuteln oder kleinen Taschen ausgerüstet — in Richtung Bahnhof. Sie und bereits früher Gekommene hatten die
Autos so sinnfrei abgestellt, weil sie nicht beabsichtigten, diese jemals wieder zu nutzen. Hier lief etwas nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“ ab, etwas das an eine Massenpsychose grenzte. Wir
wussten nicht, dass sich Ähnliches — in etwas kleinerer Dimension — am Abend zuvor schon einmal abgespielt hatte. Die „Demonstranten“ am Bahnhof hatten in diesen Tagen nur eine Losung auf den Lippen:
„Wir wollen raus!“ (1).
In dieser massenpsychologischen Befindlichkeit war kein
Platz für Rationalität, für Abwägen und Reflexion des eigenen Tuns. Die Ausweisewilligen waren im wahrsten Sinne des Wortes im — per se emotionalen — Fluchtmodus und sie waren bereit, fast jeden
Preis dafür zu zahlen. Sie waren auch bereit, sich und andere Menschen zu gefährden. Sie waren nicht Herr ihrer selbst.
Lassen wir an dieser Stelle offen, wie und warum es so
weit gekommen war. Doch was den 2. bis 4. Oktober 1989 in Dresden betrifft, kann von einer Bürger- oder Demokratiebewegung, gar einer „friedlichen Revolution“ — der Begriff allein ist schon durchaus
ein Widerspruch in sich — mitnichten gesprochen werden. An diesem, den 4. Oktober, ja selbst am folgenden Tag wussten wir noch nicht, dass die Gewalt keinesfalls von Polizisten ausgegangen war (2).
Der Historiker Clemens Vollnhas meinte zu den damaligen Antrieben der „Revolution“:
„Die Kirchen waren keineswegs der Motor der Revolution. Der enorme
Ausreisewille so vieler Menschen mit der Wut und dem Mut der Verzweifelten war die eigentliche Sprengkraft — und das unverhältnismäßige Reagieren des Staates darauf“
(3).
Was als unverhältnismäßig eingeschätzt werden darf, ist
ein zweischneidiges Schwert und eine Differenzierung tut auch hier dringend Not. Der Dresdner Hauptbahnhof wurde am 4. Oktober 1989 von 20.000 Menschen belagert, von dem ein Teil versuchte, diesen zu
stürmen. Die Polizisten, die sich im Bahnhof verbarrikadiert hatten und auf die Tausende Pflastersteine geworfen wurden, fürchteten um ihr Leben. Neben 46 verletzten Demonstranten, Ausreisewilligen
und Randalierern wurden folgerichtig auch 106 verletzte Polizisten gezählt. Bei solch einem Verhältnis darf man zumindest kurz innehalten, wenn es um die Frage geht, wer die Gewalt vorantrieb
(4).
In blinder Wut warfen gewalttätige Randalierer Steine
nicht nur auf Polizisten, sondern auch auf völlig Unbeteiligte, so auf die Insassen einer Straßenbahn (5). Wenn Emotionen durchbrennen, können sich rasch Verhältnisse einstellen, wie man sie zum
Beispiel in den Wochen bis Ende Februar 2014 auf dem Kiewer Maidan erleben musste. Foto- und Filmdokumente der DDR-Staatssicherheit belegen eine Orgie der Zerstörung, statt Demonstrationen gegen die
DDR-Führung (6).
Wie gesagt, geht es mir hier nicht darum, Schuldige zu
präsentieren, sondern den Lesern die Möglichkeit zu geben, gedanklich und emotional in die damaligen Ereignisse in Dresden einzutauchen. Als ich am 5. Oktober erstmals auf die Straße ging, hatte ich
ein Wissensdefizit, das ich mit vielen anderen Demonstranten teilte. Wir wussten nichts über das Ausmaß an Gewalt, die sich an den beiden Vortagen ganz in der Nähe ausgetobt hatte (7). Heben wir uns
noch kurz die Begründung auf, warum das von so großer Bedeutung ist.
Wir glaubten der damaligen Systempresse nichts mehr,
auch nicht als diese über die Ereignisse vom Vortag berichtete:
„Wie das Transportpolizeiamt Dresden informierte, kam es im Zusammenhang
mit dem Inkrafttreten von zeitweiligen Regelungen des Reiseverkehrs zwischen der DDR und ČSSR in den Morgenstunden des gestrigen Tages durch rowdyhaftes Verhalten von Personen zu Störungen der
öffentlichen Ordnung auf dem Dresdner Hauptbahnhof (...). Dabei ereignete sich ein Unfall, bei dem eine Person durch einen ausfahrenden Leerzug schwer verletzt wurde“
(8).
Das entsprach den Tatsachen. Der Mann versuchte, auf den
fahrenden Zug aufzuspringen — was bekanntermaßen lebensgefährlich ist — und kam dabei mit einem Bein unter dessen Räder. Die Hysterie, die damals bei vielen Menschen ausbrach, hatte verschiedene
Ursachen, die keineswegs nur in den desolaten Verhältnissen der DDR zu suchen waren.
Gelernte DDR-Bürger nahmen ihre Medien nicht mehr ernst
und informierten sich über Westmedien. Dafür hatte das System in der DDR gesorgt, dessen Propaganda — verglichen mit der heutigen — einfach nur dilettantisch war. Das größte Problem aus meiner
damaligen Sicht war die fehlende Offenheit in Bezug auf die unübersehbaren Probleme des Landes. Das pausenlose Schönreden des Arbeiter- und Bauernstaates kontrastierte mit der verfallenden
Infrastruktur, Umweltverschmutzung und einer sich zunehmend verschlechternden Versorgungslage.
Anfang Oktober 1989 schlug diese Art der Propaganda auf
den Machtapparat und seine Medien zurück. Wir glaubten ihnen nichts, rein gar nichts mehr. Aber es war eben nicht alles erlogen und erstunken, was sie da berichteten.
Hinzu kam in jenen Tagen eine unglaubliche Arroganz der
DDR-Führung, die nämlich darauf bestand, dass die Fluchtwilligen — jene, die seit Tagen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag campierten — „ausgewiesen“, „ausgebürgert“ werden und zu diesem Zweck
über das Gebiet der DDR ausreisen müssten (9, b1).
Diese völlig von der Realität abgehobene Forderung der
DDR — durchgesetzt in Verhandlungen mit den Außenministerien der BRD, der UdSSR und der ČSSR — machte die folgenden chaotischen Zustände an der Eisenbahnstrecke der DDR erst möglich. An jenem Abend,
als ich eine ferne Ahnung beim Vorbeifahren am Bahnhof bekam, fuhren noch vier proppenvolle Personenzüge — aus Prag kommend, mit dem bundesdeutschen Ziel Hof — ohne Halt durch den Dresdner
Hauptbahnhof. Auf diese Züge wollten Tausende aufspringen — völlig irrsinnig.
Extrem verschärfend kam hinzu, dass die DDR-Führung — um
dem Strom an Ausreisewilligen in Richtung der bundesdeutschen Botschaft in Prag Einhalt zu gebieten — die Visa-Freiheit im Grenzverkehr zwischen der DDR und der ČSSR aussetzte. Das war zwar
nachvollziehbar, doch verstärkte es in vielen Menschen — mich eingeschlossen — das Gefühl, im Staat DDR eingesperrt zu sein.
Zudem empörte uns — Kollegen, Freunde und Verwandte —
fast einhellig die Selektierung in der Berichterstattung der DDR-Medien auf Gewalttäter sowie die Art und Weise des Umgangs mit dem Problem, dass Abertausende Menschen das Land verließen. Wenige Tage
zuvor — nachdem die Entscheidung gefallen war, die in der Prager Botschaft der BRD ausharrenden Menschen in die BRD ausreisen zu lassen — hatte Staatschef Erich Honecker über die
DDR-Nachrichtenagentur ADN verlauten lassen: „Wir weinen ihnen keine Träne nach!“ (10).
Das sagte dieser zunehmend senile Mann im Angesicht der
Tatsache, dass die DDR in Massen das Wertvollste verlor: ihre Menschen. Doch gab es da noch mehr.
Die Tatsache, dass man den eigenen Medien nichts mehr glaubte und im
Gegenzug westlichen Medien fast alles abnahm, blieb für unser Denken, Fühlen und Handeln nicht folgenlos.
Wir hatten — und für viele trifft das heute noch zu —
keine blasse Ahnung, warum, wie und welche Informationen durch westliche Massenmedien verbreitet wurden. Das führte dazu, dass viele Menschen zunehmend Angst vor einer „chinesischen Lösung“
bekamen.
Wir — mich eingeschlossen — glaubten an die
Berichterstattung über ein angebliches „Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens“. Für viele Menschen war diese Angst Grund genug, mit der ganzen Familie auf abenteuerlichem Wege die
Flucht aus der DDR zu wagen. Oppositionelle Jugendgruppen, wie auch die Bewegung „Neues Forum“, die vom Repressionsapparat der DDR verfolgt wurde, verbreiteten aktiv die Mär vom Massaker in Peking
(11). Inwieweit sie ebenfalls der westlichen Propaganda aufgesessen waren oder ob sie eine bewusste, aktive Rolle für Interessen auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenze spielten, ist für
mich offen.
Dass ein Machtapparat, wenn er in die Enge getrieben
wird, zur Gewalt greift, ist keine sensationelle Erkenntnis und gilt systemübergreifend. Eine solche Gefahr bestand also in der DDR des Herbstes 1989 zweifellos. Doch die westliche Propaganda zu den
Unruhen in China — die auch von kirchlichen Gruppen verbreitet wurde — spielte eine erhebliche Rolle beim Schüren von Ängsten (12). Wir waren schon damals sehr empfänglich für Propaganda und
unterschieden uns da nicht von den „Brüdern und Schwestern“ im Westen.
Auch wenn ich mich nicht mit den Ausreisenden
solidarisieren konnte — ich beurteilte ein solches Verhalten bereits damals als Flucht vor der Verantwortung —, so war es doch trotzdem das Hauptmotiv für mich, am nächsten Abend in die Stadt zu
gehen. Dazu gesellten sich an diesem, meinem ersten Demonstrationstag Neugier, ja vielleicht sogar ein Hauch von Ahnung, dass diese Tage von besonderer Bedeutung werden würden. Nicht zufällig habe
ich deshalb bis heute diverse Ausgaben des Dresdner Regionalblattes Sächsische Zeitung aus jener Zeit in meinem Fundus aufbewahrt.
Demonstration der anderen Art
Trotz der Uninformiertheit über das dahin in Dresden
Geschehene war ich durchaus nicht naiv und wusste, dass die Teilnahme an Demonstrationen „außer der Reihe“ mit einem respektablen Risiko behaftet war. Man musste ernsthaft damit rechnen, verhaftet
und für unbestimmte Zeit an einen für die Nächsten unbekannten Ort gebracht zu werden. Damals waren unsere Kinder gerade vier Jahre alt geworden und wir suchten eine Lösung, die auch diesen Schatz
angemessen berücksichtigte. Deshalb entschieden meine damalige Frau und ich, wechselweise demonstrieren zu gehen. Das zogen wir bis zum Sonntag, den 8. Oktober durch.
Aber ohne Frage öffnete sich hier ein Ventil, um sich zu
artikulieren — so wie knappe 25 Jahre später im Frühsommer 2014, als ich das erste Mal wieder eine Montagsdemonstration besuchte. Wobei „artikulieren“ nicht so recht beschreibt, mit welchen
Vorstellungen man damals demonstrieren ging. Bis in das Jahr 1988 hatte ich an jeder Demonstration zum 1. Mai teilgenommen, als sehr junger Mann bekennend, später aus Opportunismus. Es machten
schließlich (fast) alle so. Danach konnte man ja noch gemeinsam ein Bier trinken gehen. Aktive politische Teilhabe sieht anders aus.
1989 fand ich es — ich kann mich an dieses Gefühl
tatsächlich noch gut erinnern — einfach sinnlos und ließ das Ereignis weg. Auch die Kommunalwahlen ließ ich weg. Das war kein mutiger Schritt in die Opposition, sondern nur ein nüchterner Entschluss,
angesichts der Tatsache, dass es schlichtweg keine Rolle spielte, ob man wählt oder nicht. Letztlich entschieden sich doch eh immer 99,8 Prozent aller Wähler für die Kandidaten der Nationalen Front.
Ich fand dieses Spiel albern und stieg aus. Mehr war da nicht (a1). Auch erlebte ich in der Folge keinerlei Repressionen als Folge dieses Entschlusses.
Die
Psychologie der Gewalt
Viele der Szenen jener Tage, die sich dauerhaft in
meinem Kopf verankerten, hatten — sowohl damals, als ich sie erlebte, als auch jetzt in der Erinnerung — surreale Züge. Wie fragil und irrational das Alles war, ist mir erst Jahrzehnte später richtig
bewusst geworden.
Am Abend des 5. Oktober war ich Teil einer Masse
Tausender Dresdner, die an den Vortagen weder demonstriert noch zu flüchten versucht oder randaliert hatten. Das Publikum hatte sich gewandelt. Doch war das anfangs weder uns noch der „anderen Seite“
bewusst. Beide Seiten hatten also ein Informationsdefizit.
Um zu verstehen, benötigen wir Wissen und Empathie. Ohne
Wissen lässt sich unsere Empathie verführen und neigt zur Ablehnung auf der einen oder zum Solidarisieren auf der anderen Seite. Ohne Wissen werden Objekte eher als fremd und gesichtslos
wahrgenommen. Wir nehmen ihre Menschlichkeit reduziert wahr. Das ist sehr gefährlich, weil sie auf diese Weise schnell als Feindbild erkannt werden können.
Ganz sicher — und das ist eben auch kein Sonderfall der
DDR — tobten sich in jenen Tagen auch ideologisch fest gebriefte Überzeugungstäter aus dem Sicherheitsapparat an friedlichen Menschen aus. Doch nach den Ereignissen der Vortage grassierte in Dresden
die blanke Angst — und das eben nicht nur bei demonstrierenden Bürgern. Ein Offizier der Volkspolizei erzählte:
„Am Bahnhof haben junge Kollegen um ihr Leben gebangt. Da hat kaum einer daran gedacht: Ich rette hier den Sozialismus. Wir dachten nur: Wenn hier Zehntausende in den Bahnhof
reinkommen, werden wir gelyncht. Drinnen waren wir nur 200 Polizisten. Die Steine, die von draußen flogen, haben wir zurückgeworfen. Es hat sich hochgeschaukelt“(13).
Wie werden Einsatzkräfte und deren Führung sich auf den
nächsten Abend vorbereiten, nach dem sie solche traumatischen Erfahrungen gemacht haben? Dort standen Hunderte blutjunge Menschen in Reih und Glied vor uns, bewaffnet mit Schlagstock, Helm und Schild
— einer Ausrüstung, die ich bei DDR-Sicherheitskräften zuvor noch nie gesehen hatte —, denen diese Angst regelrecht ins Gesicht geschrieben stand.
Einige von ihnen versuchten, sich dem Einsatz zu
entziehen. Sie wurden mit Gewalt und Gebrüll von Offizieren, die hinter dem Kordon standen, wieder zurückgetrieben. Wir Demonstranten quittierten das mit Gejohle und Pfeifen. Eigentlich hatte keiner
von uns einen richtigen Plan. Man gab sich betont locker und fühlte sich in der Menge Gleichgesinnter stärker und damit sicherer. Das Gefährliche war die konsequente Trennung zwischen den
Einsatzkräften und Demonstranten.
Dadurch wurde auf beiden Seiten die feindbetonte Haltung
beibehalten und gepflegt. Der explizit ausgedrückte Wille zur Verständigung war am 5. Oktober 1989 für mich nicht erkennbar und wurde auch nicht durch mich selbst gepflegt.
Und so erlebte ich diverse Provokationen, von denen jede
Einzelne genügte, um das Fass zum überlaufen zu bringen. An meinem ersten Demonstrationstag schätzte ich die Anzahl der Demonstranten auf vielleicht 5.000. Damit kamen die Sicherheitskräfte gut
zurecht. Ihr Auftrag lautete wohl in etwa: Demonstration auflösen und Rädelsführer festnehmen. Systematisch filetierten sie die Menschenmenge, schnitten so große Gruppen voneinander ab und bildeten
sodann Kessel mit einem Kordon, als quasi „Abfluss“, aus dem die Menschen aus dem Kessel entweichen konnten.
Wenn es so weit war — Kessel gebildet und der „Abfluss“
offen —, schlugen Hunderte Gummiknüppel auf Schilde. Das machte den Polizisten Mut und uns Angst. Zweimal bin ich aus so einem Kessel entwichen und ich weiß noch heute, dass mein Herz bis zum Hals
schlug. Innerhalb des „Abflusses“ prasselten die Hiebe von Gummiknüppeln auf uns ein und „Greifer“ zogen sich „Rädelsführer“ aus der Menge heraus. In diesen Situationen denkt man nicht mehr. Man
funktioniert, erlebt dabei alles wie in einem Film und streift — mit Adrenalin zugedröhnt — die Angst aus dem Bewusstsein.
Danach fanden und sammelten wir uns wieder, und das
Spiel begann von Neuem. Zwei Stunden genügten mir, um danach völlig erschöpft, aber gesund den Heimweg anzutreten. Unsere einzigen politischen Botschaften an jenem Tag waren nach meiner Erinnerung:
„Keine Gewalt!“ und „Wir bleiben hier!“. Es kamen hinzu: „Wir sind das Volk!“ und „StaaSi raus!“ (a2).
Das war das — im Nachhinein — fast Normale dieser Tage.
Irgendwann gewöhnte man sich instinktiv an den Verfolgungsdruck und wurde gewissermaßen gelassen. Dass das ohne schwerwiegende Folgen für uns verlief, war aber auch reines Glück. An jenem 5. Oktober
erlebte ich auch Szenen, die mich daran erinnerten, dass dieses Spiel sehr, sehr ernst genommen werden musste. Schließlich wurden in jenen Tagen allein in Dresden mehr als 1.000 Menschen „zugeführt“:
Randalierer, Verzweifelte und Menschen, die nicht weiter wie bis dahin ihr Leben in der DDR gestalten wollten.
Die
Macht der Provokateure
Provokateure kapern Veranstaltungen und deren
Botschaften für eigene oder beauftragte Ziele. Sie biegen über emotionale Trigger den Zweck einer politischen Kundgebung de facto um, entreißen den Initiatoren die Gestaltung. Sie schaffen eine
Situation, eine Realität, über die nachfolgend berichtet werden kann und die den Zweck der politischen Kundgebung ersetzt durch die von den Provokateuren erschaffene Realität. Dann kann darüber auch
im Prinzip wahrheitsgemäß in den Systemblättern berichtet werden und so war das auch damals in Dresden:
„In Dresden haben sich in den vergangenen Tagen größere Gruppen junger Menschen zu rowdyhaften, staatsfeindlichen und verfassungswidrigen Aktionen zusammengerottet. Sie
verwüsteten Einrichtung und Anlagen auf dem Hauptbahnhof sowie in der Innenstadt, schrien antisozialistische Losungen und Beschimpfungen, die bis zur Mordhetze
reichten“(14).
Man stellte also einen für die Gemeinschaft
unakzeptablen Zustand her und nutzte dann das Mittel der Kontaktschuld — alles kleine Helferchen, die wir auch im heutigen System antreffen. Am 5. Oktober habe ich einen Provokateur in Echtzeit
erlebt. Er positionierte sich in Höhe des damaligen monumentalen Lenin-Denkmals zwischen Prager Straße und Hauptbahnhof und brüllte Parolen wie: „Schlagt die Kommunistenschweine tot“ und weitere, an
die ich mich heute nicht mehr erinnern kann.
Dichtung und Wahrheit, Weglassen und das gewünschte
Hervorheben zur emotionalen Ausrichtung des Rezipienten beherrschten auch Redakteure in DDR-Medien. Ganz einfach deshalb, weil solche Neigungen in jedem von uns angelegt sind! In der Sächsischen
Zeitung klang das am 9. Oktober 1989 so:
„So grölten sie unter anderem ‚Schlagt die Kommunistenschweine und hängt sie auf!‘ oder ‚Wir wollen eine grüne Leiche sehen‘. In ihrer Zerstörungswut warfen sie mit Eisenstangen,
Stahlkugeln und benutzten Luftdruckpistolen“(15).
Dass dies geschehen ist, schließe ich nicht aus.
Trotzdem vermittelt es ein grundsätzlich falsches Bild. Es vermischt — in Ermangelung weiterer Argumente — die Ereignisse vom 2. bis 4. Oktober 1989 mit den Demonstrationen der folgenden Tage, in
denen all das auf keinen Fall mehr zutraf. Schon deshalb, weil ab dem Morgen des 5. Oktober keine Züge mehr Flüchtlinge durch Dresden gen Westen transportierten.
Aber den Provokateur, den gab es — ich habe ihn gesehen
und gehört — und ein tendenziös gefasster Bericht kann ihn leicht als Teil der Bewegung verhackstücken. Wirklich beeindruckend war für mich jedoch etwas ganz anderes: Jedem von uns war sofort und
instinktiv bewusst, dass dieser Mensch in der Rolle des Provokateurs auftrat und so bildete sich in kürzester Zeit zwischen ihm und den Teilnehmern der Demonstration ein Bannkreis der Leere. Der Mann
war völlig isoliert, dem Schutz der Menge beraubt und mehr noch: Er wurde nicht festgenommen. Er war enttarnt.
Im Nachhinein werte ich auch die Szene, als man den
Polizisten kleine DDR-Münzen — Pfennige oder Groschen — zuwarf und sie mit den Worten „Nimm deinen Judas-Lohn“ aufforderte, diese Münzen aufzuheben, als äußerst hässliche Provokation. Heute fühle ich
mich ziemlich ungemütlich, wenn ich mich an mein blödes Lachen angesichts dieses zweifelhaften „Spaßes“ erinnere. Nun, damals war ich keine 30 und ziemlich unreif. Da liegt die Chance der
Provokateure. Denn junge Menschen sind naturgemäß unreif und so am besten ausnutzbar.
Provokateure reden zuerst nach dem Mund, um eine
Vertrauensstellung einnehmen zu können. Sie nehmen Witterung zur Stimmung auf, selektieren daraus deren destruktiven Elemente und verstärken sie sodann. Stimmungen stehen für Emotionen. Emotionen
sind unterbewusste Signale unseres Ichs und nicht so ohne Weiteres kontrollierbar. Daher an dieser Stelle mein Appell: Hüten Sie sich vor Provokateuren, denn diese können in kürzester Zeit
Konstruktivität in Destruktivität kippen lassen.
Mir sind die Strukturen des Sicherheitsapparates der DDR
bis heute nicht im Detail bekannt. Innerhalb dieser waren Provokateure sicher ein legitimes Mittel. Wer sich provozieren ließ, war eben ein Rädelsführer und konnte „zugeführt“ werden, wie es damals
hieß. Was aber auch bedeutet, dass im Prinzip JEDER hätte zugeführt werden können, weil auch jeder Mensch — gerade in einer aufgeheizten Atmosphäre auf seine spezielle Weise empfänglich für
Provokationen ist. So war es dann auch. Denn die „Zuführungen“ erschienen mir willkürlich. Damals konnte auch einfach ein „dummes Gesicht“ genügen, um verhaftet zu werden.
Unauslöschbar ist mir eine Episode in Erinnerung, bei
der — als ich sie erlebte — in mir wie ein Blitz der Gedanke hochschoss: Ist das nicht Faschismus?! Als nämlich in kaum 50 Meter Entfernung Sicherheitskräfte — immer zwei für einen — Menschen wie
Stückgut auf einen LKW warfen. Auf diesem saßen Polizisten, Wehrpflichtige, wer auch immer, deren Stiefel auf diesen nun auf dem LKW halb liegenden, halb sitzenden Menschen standen. Als ich das sah,
keimte in mir tatsächlich das erste Mal konkret der Gedanke, dass die DDR auf dem Weg in den Untergang ist.
Täglich demonstrierten nun mehr Menschen. Am Samstag,
meinem zweiten Demonstrationstag schätzte ich die Anzahl auf etwa 10.000. Jeden Tag erfasste der Protest neue Stadtgebiete und jeden Tag wurden mehr Menschen verhaftet und verschwanden einfach. Es
musste etwas geschehen.
Was
ist Mut?
Gehen wir gedanklich zum Abend des 8. Oktober 1989
zurück und begeben uns auf die Dresdner Prager Straße. Im schwarzen Priestergewand steht auch der Kaplan Frank Richter inmitten Tausender Demonstranten. Das Prozedere der vergangenen drei Tage nimmt
seinen erneuten Lauf. Die Menschen formieren sich, rufen ihre Forderungen, werden auseinandergetrieben, eingekesselt, Verhaftungen erfolgen, Gewalt tobt sich aus ... Wiederum formieren sich die
Protestierenden und stehen den Polizeikräften erneut, wenn auch in respektvoller Distanz gegenüber.
Kurz nach 20 Uhr entschließt sich der Geistliche, diese
Distanz wie auch seine Angst zu überwinden und geht allein auf die Polizeikette zu. Ruhig spricht er der Reihe nach mehrere der mit Helm, Schild und Stock Bewaffneten an und bittet sie, mit dem
Einsatzleiter sprechen zu dürfen. Zunächst reagiert keiner, doch schließlich öffnet sich der Wall der Bewaffneten und lässt den Mann hindurch. Einer der Polizisten führt Frank Richter zu einem Mann
in Zivilkleidung.
Diesen bittet Richter in einem ersten Gespräch, keine
Gewalt anzuwenden, da solche auch nicht von den Demonstranten ausgeht und ausgehen werde. Danach drängt er auf „einen kompetenten Gesprächspartner von staatlicher Seite“ für ein weiteres Gespräch.
Sein Erstkontakt heißt Detlev Pappermann und ist als Offizier der Volkspolizei bei einer Spezialeinheit tätig. Der zögert, geht dann aber auf den Wunsch Kaplans ein (16,17).
Eigentlich war es das schon: der entscheidende erste, mutige Schritt
BEIDER Seiten, um die feindselige Distanz aufzulösen und für die anderen Vertrauen aufzubauen. Er war damit getan. Das können nur Menschen leisten, kein System, keine Struktur, keine
Ideologie.
Frank Richter geht zurück zu den
Demonstranten, die in der Nähe eines Springbrunnens ausharren. Als ob Teil der Dramaturgie, versiegt dieser und es tritt eine plötzliche Stille ein. In diese hinein, teilt Richter den Menschen mit,
dass ein Dialog mit dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer zustande kommen könne. Er bittet um Mitstreiter, welche die Courage besitzen, an diesem Gespräch teilzunehmen. Es melden sich
etwa 25 Personen, welche im Kern später die sogenannte Gruppe der 20 bilden werden. Der Beifall der Menge ist ihre Legitimation
(18). Es wird in den nachfolgenden, turbulenten Wochen keinerlei Ausschreitungen mehr gegenüber friedlichen Demonstranten geben.
DAS ist das bis dahin Einmalige, das ganz Besondere und
mich noch heute tief Bewegende jener Tage gewesen. In diesen Stunden wagten mündige Menschen, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Rolle im bestehenden System einen Neuanfang — einfach
großartig.
Fazit
Niemand, der die damalige Zeit miterlebte, muss sich
nach Lesen dieses Textes schlecht fühlen. Erstens beschreibt er zuallererst die Sicht des Autors und zweitens rückt er die Dinge in ein menschlicheres Licht. Denn wir sind per se keine Helden und
eben so wenig sind wir Versager. Als Menschen leben wir den Alltag und arrangieren uns mit den Gegebenheiten. Wir sind keine Revolutionäre und auch nicht jeden Tag aufs Neue mutig bis zur
Selbstaufgabe. Wir sind manipulierbar und in unseren Sehnsüchten oft sehr schlicht.
So die Helden vom Sockel und die Bösen aus der
Verbannung holend, haben uns die bewegten Wochen im Herbst 1989 durch ein Fenster schauen lassen; ein Fenster, das wir durch unser eigenes Wollen geöffnet hatten. Für eine kurze Zeit sahen wir völlig
neue, zuvor ungeahnte Möglichkeiten, die für ein tatsächlich selbstbestimmtes, verantwortungsvolles und in friedlicher Kooperation Probleme angehendes Leben Voraussetzung sind. Das ist der für mich
lohnendste Aspekt, wenn ich mich an das erinnere, was heute — ich denke eher unpassend — als Wende bezeichnet wird.
Lassen Sie mich diesen Text mit einer Metapher
beenden.
Dass die DDR damals nicht in einem Bürgerkrieg versank, hat sie ihren
Menschen zu verdanken.
Keiner — weder die oben noch die unten — wollten so
weitermachen wie bisher. Es benötigte Zeit, bis genug Mutige auf allen Seiten vorangingen und entschieden, den Karren DDR, so wie er beladen war, einfach nicht mehr weiter zu ziehen. Das ist etwas
anderes, als den Karren umzukippen. Als es darum ging, diesen Karren zu reparieren oder neu aufzubauen, gewann rasch wieder die Verzagtheit die Oberhand. Deshalb wurde die DDR auch nicht übernommen.
Sie verschwand einfach. Heute ziehen wir auch wieder einen Karren. Nichts muss, alles kann.
Bitte bleiben Sie schön
aufmerksam.
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Samstag, 09. November 2019, 15:15 Uhr
~26 Minuten Lesezeit
Die Arroganz der Macht
Statt sich wegen seiner Großartigkeit selbst auf die Schulter zu klopfen, sollte
der Westen endlich beginnen, den Ostdeutschen zuzuhören.
Der 9. November: Ein Datum, welches alles Widersprüchliche und Unvollkommene der deutschen
Geschichte in sich vereint. Als ich 1973 das Licht der Welt erblickte, lagen zwei mit ihm verknüpfte Ereignisse, Novemberrevolution und Reichskristallnacht, bereits in ferner Vergangenheit. Und der
nächste historische 9. November sollte noch 16 Jahre auf sich warten lassen. 16 Jahre, in denen ich eine typische DDR-Kindheit und -Jugend erlebte, die genauso widersprüchlich war wie der 9.
November, dieses zum Schicksalstag der Deutschen gewordene Datum. Alles andere als geradlinig und widerspruchsfrei verlief dann auch die Zeit danach. Das eigene Erleben als geborener „Ossi“ kritisch
zu reflektieren, es in die zugrundeliegenden historischen und gesellschaftlichen Prozesse einzuordnen und daraus schließlich Lehren für eine im Sein verankerte Lebensweise zu ziehen, ist alles andere
als leicht und kann eigentlich nur scheitern. Ich möchte es dennoch nach bestem Wissen und Gewissen versuchen.
Abwesende
Eltern
Während mein Vater seinen Wehrdienst am
„antifaschistischen Schutzwall“ leistete und zum Glück nie in die Verlegenheit geriet, zwischen Gewissen und Schusswaffengebrauch entscheiden zu müssen, trat meine Mutter kurz nach meiner Geburt ihre
erste Stelle als Lehrerin an einer neu gebauten Schule in einer auf der grünen Wiese errichteten Plattenbausiedlung an. Und so besuchte ich, wie die meisten Kinder meiner Generation, schon im
Babyalter die Kinderkrippe.
Mütter im Konflikt
Ob eine Mutter in der DDR ihr Baby bereits nach wenigen
Wochen in die Krippe brachte, war in den seltensten Fällen das Ergebnis einer selbstbestimmten Entscheidung zwischen dem Bedürfnis nach der Betreuung der eigenen Kinder und dem Interesse an
beruflicher Verwirklichung, sondern eine doppelte Notwendigkeit. Einerseits benötigte die Gesellschaft der DDR alle zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, also auch Frauen. Und andererseits war für
die Frauen in der DDR die Erwerbsarbeit ökonomisch notwendig, damit der Familie ein ausreichendes Einkommen zur Verfügung stand.
Ab 1976 hatten Frauen zwar die Möglichkeit,
ein Jahr Erziehungsurlaub bei voller Lohnfortzahlung in Anspruch zu nehmen. Allerdings galt dies erst ab dem
zweitgeborenen Kind. Das bezahlte Babyjahr bereits ab dem Erstgeborenen wurde gar erst 1986 eingeführt. Konkret bedeutete dies also, dass sich die Mütter aller vor 1976 geborenen Kinder und aller vor
1986 Erstgeborenen nach Ablauf der Mutterschutzfristen entscheiden mussten, ob sie auf ihr Einkommen oder auf die Betreuung ihrer Kinder verzichteten. In die Wendezeit schwappte folglich eine ganze
Welle frühbetreuter Kinder und mit ihren Gewissenskonflikten beladener Mütter.
Fortbestehende Unterdrückung der Weiblichkeit
Dieses System der Abhängigkeit junger Mütter von der
Erwerbsarbeit wurde ideologisch als Gleichberechtigung der Frau dargestellt. Tatsächlich aber rüttelte es nicht an den Wurzeln ihrer Unterdrückung, sondern modifizierte sie nach den speziellen
Anforderungen, die sich im staatssozialistischen System stellten. Diese Wurzeln reichen zumindest in die frühe Neuzeit, in die Phase des allmählichen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus,
zurück.
In einem brutalen Prozess der Verdrängung des
Weiblichen, der in den Hexenverfolgungen seinen sichtbarsten Ausdruck fand, wurde den Frauen die mechanistische Funktion zugewiesen, in Form von kostenloser Hausarbeit die Erwerbsfähigkeit des Mannes
zu reproduzieren, ihn also täglich so aufzupäppeln, dass er physisch in der Lage war, fremdbestimmte Arbeit zu leisten. Männer wurden in Lohnarbeit und Frauen in kostenlose Reproduktionsarbeit
gepresst. Darüber hinaus wurde die Frau in diesem Prozess der ursprünglichen Akkumulation des weiblichen Körpers auf ihre Funktion als Gebärerin zukünftiger Arbeitskräfte reduziert
(1).
Während diese Rollenverteilung im Westen weitgehend
erhalten blieb, kam für die Frauen im Osten hinzu, dass sie zusätzlich zur Hausarbeit selbst zur Lohnarbeit gezwungen waren und ihnen für die Gewinnung der hierfür benötigten Zeit die Kinderbetreuung
frühzeitig und umfassend vom Staat abgenommen wurde.
Tatsächlich kann also von der viel
beschworenen Emanzipation der Frauen in der DDR kaum gesprochen werden, soweit dies beinhaltete, dass Mütter ihre zum Teil kaum acht Wochen alten Babys in die Krippe bringen mussten. Ich vermag
keinen gesellschaftlichen Fortschritt darin zu erkennen, Mütter und Kinder voneinander zu trennen und bis hin zur Entfremdung leiden zu lassen. Ich selbst benötigte lange Jahre und Hilfe von außen, um mich der schmerzlichen Einsicht zu stellen: Meine kindlichen
Bedürfnisse, um mich psychisch gesund entwickeln zu können, wurden im System der sehr frühen Fremdbetreuung objektiv verletzt.
Natürlich bestanden die genannten ökonomischen und
gesellschaftlichen Zwänge, in denen sich Frauen wie meine Mutter befanden. Dennoch ist es unabdingbar, die frühe Trennung der meisten DDR-Kinder von ihren Müttern als kollektive Traumatisierung einer
ganzen Generation, mit allen bis heute wirkenden Problemen, zu begreifen.
Es wird viel darüber gesprochen, mit welchem Hass und
welcher Gewalt sich gerade im Osten die Angst vor dem Verlust von Heimat, Tradition und Werten äußert. Es wäre interessant herauszufinden, in welcher Beziehung dies zur frühzeitigen Trennung der
Betroffenen von ihren Müttern steht und ob das Fremde, in all seinen verschiedenen Facetten, letztlich nur ein Trigger ist, der die verdrängte Erfahrung der eigenen frühkindlichen Entfremdung
schmerzlich weckt. Sicherlich lässt sich der sogenannte „Rechtsruck im Osten“ nicht monokausal als Folge der flächendeckenden Krippenerziehung erklären. Ein Teil der Erklärung dürfte sich aber hierin
finden lassen.
Arme und reiche Provinzen im System der Megamaschine
Manch ein Leser mag sich an dieser Stelle
fragen, was bis ins ausgehende Mittelalter zurückreichende Ausführungen über die Unterdrückung des Weiblichen in einem Artikel zu suchen haben, in welchem es vordergründig um persönliche Erfahrungen
vor, während und nach der sogenannten Wende gehen soll. Mir war dieser Einschub jedoch wichtig, um exemplarisch zu verdeutlichen, dass auch der Staatssozialismus der DDR nur ansatzweise an dem
rüttelte, was Fabian Scheidler die „vier Tyranneien“
nennt, welche die in den letzten 5000 Jahren hervorgebrachte „Megamaschine“ am Laufen halten.
Auch die DDR war, wie die Konkurrenz im Westen, ein auf
physischer, struktureller und ideologischer Gewalt basierendes und im mechanistischen und anthropozentrischen Denken verhaftetes Herrschaftsmodell. Die DDR war zwar, was die soziale Frage betraf, der
bislang fortschrittlichste Herrschaftsentwurf auf deutschem Boden. Unter der Geltung des Grundgesetzes wiederum verwirklichte sich bislang am umfassendsten die Freiheit des
Individuums.
Die Symbiose von Gleichheit und Freiheit gelang aber keinem der beiden
Systeme. Sie wird erst dann möglich sein, wenn alle Macht beseitigt ist.
Erst dann kann sich der Einzelne mit seinen
individuellen Potentialen voll entfalten. Und da der Mensch, sofern seine Psyche nicht durch Macht und Herrschaft deformiert ist, ein soziales Wesen ist, bringt die volle individuelle Freiheit eine
egalitäre Gesellschaft
hervor.
Von daher war dieser weite Schwenk
notwendig, um klar zu machen, dass ich DDR und BRD als Varianten innerhalb des Systems der Macht betrachte und damit beiden Entwürfen gleichermaßen kritisch gegenüberstehe. Damit dürfte auch für die
folgenden Betrachtungen klar sein, dass es mir weder um billige Ostalgie noch um eine Rechtfertigung von Unrecht geht, unter dem in der DDR viel zu viele Menschen litten. Ich halte es mit Hans-Eckardt Wenzel,
der so kurz wie treffend meinte, der Westen sei die andere Provinz, nur reicher.
Kindheit in der Gemeinschaft
Soweit also in der Herrschaftsstruktur der DDR die
Gleichheit gegenüber der individuellen Freiheit weitaus höher bewertet wurde, bedeutete dies für mich als Kind, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Das klassische Westklischee verknüpft dies allein mit
Zwang, Indoktrination, Kontrolle und Verleugnung der eigenen Individualität. Wie soeben ausführlich dargelegt wurde, gab es dies natürlich. Es bedeutete aber auch, dass ich als Teil einer
Gemeinschaft von Kindern aufwuchs, die nicht auf den Prinzipien von Leistung, Konkurrenz und Selektion beruhte, sondern in der wir untereinander tatsächlich gleichwertig waren. Kinder waren nicht das
Prestigeobjekt ihrer Eltern oder gar der krönende Schritt in deren Karriereplanung. Kinder waren einfach da und zwar sehr zahlreich.
Ich wuchs in einer typischen Plattenbausiedlung auf. All
meine Klassenkameraden, mit denen ich zehn Jahre gemeinsam zur Schule ging, wohnten im Umkreis von wenigen hundert Metern in der gleichen Platte. Für uns spielte es keinerlei Rolle, wer oder was
unsere Eltern waren. Nennenswerte materielle Unterschiede waren nur dann auszumachen, wenn jemand dank Westverwandtschaft etwas anderes anzuziehen hatte als den Einheitsbrei aus der HO oder wenn
jemand seinen Sommerurlaub nicht an der Ostsee oder in der Dahlener Heide verbrachte, sondern in Ungarn oder gar in Bulgarien.
Freiräume in der Unfreiheit
Hatte ich dabei das Gefühl, in einer Diktatur zu leben?
Das ist schwierig zu beantworten. Einerseits waren die Beschränkungen und Grenzen, denen man als Kind und viel bewusster als Jugendlicher in der DDR unterworfen war, offensichtlich. Man konnte nicht
überall offen sagen, was man dachte. Freies Reisen war, mit Ausnahme der CSSR, noch nicht einmal in die sozialistischen Bruderländer möglich. Eine von der Propaganda der Partei- und Staatsführung
abweichende Presse existierte nicht. Dass es in der eigenen Schulklasse, in der Hausgemeinschaft und sogar innerhalb der Familie Stasi-Spitzel geben konnte, war mir schon damals völlig klar. Aber
gerade weil die Beschränkungen so offenkundig waren, lernte ich, kreativ mit ihnen umzugehen und die Nischen der Freiheit in vollen Zügen zu genießen und wertzuschätzen.
Ich hatte Freiräume, in denen ich mich mit meinen
Freunden kreativ und ohne Vorgaben der Erwachsenen und des Staates ausleben konnte: Wir gestalteten den brachliegenden Schulclub neu. Heute ist er abgerissen. Wir bastelten uns unsere eigenen
Skateboards und bretterten damit Pisten hinab, von denen unsere Eltern lieber nichts erfahren durften. Merchandisingprodukte unserer Lieblingsbands gab es nicht. Also bemalten wir unsere Klamotten
selbst. Jeder, der seine Kindheit und Jugend in der DDR verbrachte, wird sich an dieser Stelle an seine eigenen Geschichten und Erlebnisse erinnern. Die offizielle Linie der Partei- und Staatsführung
war in solchen Freiräumen nicht anwesend oder bildete allenfalls ein nicht mehr wahrgenommenes Hintergrundrauschen.
Ich wusste, dass ich Propaganda und Ideologisierung
ausgesetzt war. Aber gerade weil dies kein Geheimnis war, sondern offen so benannt wurde, glaubte ich nicht alles, was mir erzählt wurde.
Propaganda ohne Propaganda
Die Jugend heute hat es da viel schwerer. Die
Propaganda, die auf sie einwirkt, besteht vor allem in der Behauptung, dass es keine Propaganda gäbe, sondern dass Nachrichten der selbsternannten freien Presse objektive und wertneutrale Berichte
über die Wirklichkeit seien. Das macht es ungleich komplizierter, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.
Dieser propagandalosen Propaganda waren natürlich auch schon meine
Altersgenossen ausgesetzt, die in der BRD groß wurden. Und viele, ich fürchte sogar die meisten von ihnen, haben das bis heute nicht begriffen und fühlen sich deshalb dem „Ossi“ überlegen, der so
blöd war, sich belügen und täuschen zu lassen, während man selbst in Freiheit und Wahrhaftigkeit aufgewachsen sei.
Tagesschau und Heute-Journal unterscheiden
sich insoweit von der Aktuellen Kamera, als dass letztere wenigstens ganz offen zugab, die regierungsamtliche Sicht unter die Leute zu bringen. Tagesschau und Co. käuen auch im Wesentlichen die Sicht
der marktkonform agierenden, also dem
Kapital dienenden Regierung wieder, bezeichnen dies aber kontrafaktisch als freie und unabhängige Berichterstattung.
Ostdeutsche haben angesichts ihres Erfahrungshorizonts
mit offener Propaganda viel eher ein Gespür dafür, wann sie belogen werden. Und deshalb trauen sie sich auch viel eher, das Offenkundige auszusprechen, nämlich dass der Kaiser nackt ist, während sich
die noch immer nicht ent-täuschten Westdeutschen der Illusion hingeben, dass die bloße Bezeichnung als freie und unabhängige Berichterstattung bedeute, dass dem auch inhaltlich so
sei.
Sozialdarwinismus im Leistungssport der DDR
Eine Ausnahme von dem Gemeinschaftsprinzip,
welches meine Kindheit und Jugend in der DDR durchzog, stellte der Sport dar. Und es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass ausgerechnet im einzigen Bereich, in dem der Leistungs- und
Konkurrenzgedanke gnadenlos durchgezogen wurde, die DDR der BRD turmhoch überlegen war. Im Westen redet man sich natürlich gerne ein, die sportlichen Erfolge des Ostens seien letztendlich das
Ergebnis staatlichen Dopings. Na klar wurde gedopt. Und zwar massiv und auch bereits bei minderjährigen Sportlern. Es wird dabei aber, typisch Doppelmoral, das eigene Dopingsystem geleugnet oder relativiert. Und es wird schlicht nicht zur Kenntnis genommen, mit welcher Professionalität der Leistungssport bis in die Breite und bis
zu den Jüngsten betrieben wurde.
Meine Trainer zum Beispiel — ich war ein mäßig
erfolgreicher Schwimmer — waren diplomierte Sportlehrer. Die Zeit, die sie mit uns Knirpsen im Stadtbad verbrachten, wurde ihnen auf die Arbeitszeit in der Schule, an der sie regulär unterrichteten,
angerechnet. Wer sich heutzutage im Sportverein als Übungsleiter hinstellt, macht dies meist ehrenamtlich, zusätzlich zum 40-Stunden-Job, und bezahlt die erforderlichen Trainerscheine selbst. Und
auch wenn der Leistungssport in der DDR als Kompensation beziehungsweise Ausgleich für die westliche Leistungsgesellschaft erscheinen mag, so war der Zugang zu ihm dennoch egalitär. Fragen wie die,
ob man sich als Eltern den Sport des Kindes leisten kann und wie man es während der Woche zum Training und am Wochenende zu den Wettkämpfen fährt, stellten sich nicht.
Veränderungen auf Mikro- und Makroebene
Eingebettet in diese Sozialisierung, kam die sogenannte
Wende und mit ihr der 9. November 1989. Ich erlebte diese Zeit wie im Rausch. Im Nachhinein betrachtet, waren es zwei Ebenen der Veränderung, die sich gleichzeitig vollzogen, sich dabei überlagerten
und damit — um ein physikalisches Bild zu bemühen — zu einer Resonanz verstärkten. Einerseits war da meine persönliche Situation als pubertierender, nach Ausbruch und Veränderung strebender
Jugendlicher. Und andererseits war da dieser Strudel an welthistorischen Ereignissen, die gleichzeitig auf der Makroebene abliefen.
Während also die Jugend in normalen Zeiten
gegen starre Gesellschaften aufbegehrt, war mein eigener jugendlicher Drang im Einklang mit der Wucht der gesellschaftlichen Veränderungen. Diese besondere Kombination unterscheidet meine Generation
grundlegend von der Generation meiner Eltern. Für die gab es zwar auch Aufbruch und Befreiung. Doch die Freude über die erlangte Reisefreiheit und das Ende der Lähmung und Erstarrung, welche in der
Endphase der DDR zunehmend um sich griff, wich alsbald den Schrecken der neoliberalen Schocktherapie, welche unter tatkräftiger Beteiligung eines gewissen Thilo Sarrazin dem Osten verpasst wurde. Die Traumatisierungen und Demütigungen,
die damit einhergingen, sind bis heute zu spüren und ein weiterer Teil der Erklärung des sogenannten „Rechtsrucks“.
Jens Wernicke und Andreas Peglau haben hierzu in der Debatte mit
Götz Eisenberg bereits
Wichtiges gesagt und der Rahmen dieses bereits viel zu langen Beitrages würde gesprengt, wollte ich an dieser Stelle in die Debatte einsteigen.
Schlüsselerlebnis Machtzerfall
Während also die Generation meiner Eltern teils
traumatische Erfahrungen machen musste, war es für mich eine Zeit der Befreiung und der unbegrenzten Möglichkeiten.
Was sich mir bei allem Rauschhaften tief einbrannte, war die zutiefst
befreiende Erfahrung, dass sich Macht von heute auf morgen und vor aller Augen in Nichts auflösen kann. Genau das ist es, woraus ich bis heute meinen Optimismus ziehe, dass ein Ende von
Kapitaldiktatur und ökologischem Kollaps möglich ist.
Dinge, die in Stein gemeißelt schienen, bröselten
widerstandslos auseinander, weil es zu viele Menschen gab, die keine Angst mehr hatten. Jeder kennt die Bilder der Grenzsoldaten, die am Abend des 9. November 1989 völlig hilflos die Massen
vorbeiziehen ließen. Erinnert sei aber auch an einen fast in Vergessenheit geratenen Aspekt, der den geräuschlosen Zusammenbruch staatlicher Autorität noch viel besser verdeutlicht: Bis zum 9.
November 1989 bestand in der DDR am Sonnabend Schulpflicht. An den folgenden Wochenenden hatte aber keiner mehr Bock, sonnabends in die Schule zu gehen, sondern alle wollten erkunden, wie sich der
goldene Westen so anfühlt. Dies führte zur klammheimlichen Abschaffung des Sonnabends als Schultag. Stell dir vor, es ist Schule, und keiner geht hin. So einfach war das.
Die
Normopathen wechseln die Seite
Während ich die Erfahrung machte, dass
staatliche Macht von heute auf morgen implodieren kann, erlebte ich gleichzeitig, wie bisherige Funktionsträger keine Probleme damit hatten, sich den neuen Herren anzudienen, anstatt sich von den
Siegern fernzuhalten. Dieses Wechseln der
ideologischen Front war mir damals unbegreiflich, heute kann ich es zumindest verstehen. Dass ich nach Studium und Referendariat keine Ambitionen hegte, in den öffentlichen Dienst
einzutreten und stets mein eigener Herr sein wollte, ist wohl maßgeblich dieser Wendeerfahrung geschuldet.
Die
Rosskur des Konsums
Dass es sich bei dem, was auf den Fall der Mauer folgte,
um einen Beitritt handelte, der euphemistisch als Wiedervereinigung umschrieben wurde, war mir damals völlig egal. Mit Einführung der D-Mark gab ich mich hemmungslos einem nachholenden Konsum hin,
der mir den Geist vernebelte. Der Preis einer Ware entschied darüber, in welche Lebensbereiche der Kommerz eindrang.
Es war fortan verpönt, aufwändig etwas selbst zu machen,
was man billig kaufen konnte. Marmelade wurde nicht mehr selbst gekocht, sondern zum Schleuderpreis bei Aldi gekauft. Pilze sammelte ich nicht mehr mit meinem Opa im Wald, sondern kaufte sie in der
Dose. Spaghetti Bolognese — ich aß damals noch Fleisch — bestand aus einer Maggi-Tüte und nicht aus frischen Zutaten. Bekleidung wurde nicht ausgebessert, sondern weggeworfen und neu gekauft.
Wertvolles Wissen darüber, wie man zum Beispiel einen Obstbaum selbst verschneidet, wie man aus Samen eine Tomatenpflanze zieht, wie man Klöße kocht und so weiter ging dabei fast verloren und ist
heute in vielen ostdeutschen Familien schon nicht mehr vorhanden. Steffen Mensching, der kongeniale Partner von Wenzel, fasste das, was auch mir passierte, wie folgt
zusammen:
„Wir — die Ostdeutschen als Teile der westlichen Welt — mussten wohl erst die andauernde Rosskur des Konsums über uns ergehen lassen, um in Ansätzen zu begreifen, dass sich das
Leben nicht kaufen lässt oder dass man, wenn man darauf vertraut, mit Ramsch und Junkfood abgespeist wird. Hungernde sind schwer von den Vorzügen der diätischen Lebensweise zu
überzeugen“(2).
Unerkannte Chancen
Wahrscheinlich war ich damals viel zu jung,
um dem falschen Glanz der Konsumgesellschaft auch nur ansatzweise zu widerstehen. Ich war mittendrin, statt nur dabei und fand es geil, Markenklamotten zu tragen, eine schnelle Karre zu fahren und
irgendwelchen technischen Schnickschnack mein Eigen zu nennen. Es dauerte Jahre, bis ich begriff, welche Chancen 1989/90 angesichts der allgemeinen Verblendung liegen gelassen wurden. Ich strebte
nach beruflichem Erfolg, gründete eine Familie, baute ein Haus. Die Stimme in mir, die mir permanent zurief, dass es das alles nicht gewesen sein kann und ich mich vom Sein immer mehr dem Haben (3)
zuwende, erhörte ich erst, als eine gewisse Ruhe einkehrte, insbesondere als meine Kinder älter wurden.
Ich holte meinen Marx wieder hervor, ließ mir von David
Graeber (4), Yuval Harari (5) und vom bereits erwähnten Fabian Scheidler (6) größere Zusammenhänge erklären und landete auf diesem Weg schließlich bei der wundervollen Daniela Dahn, deren Buch „Wir
sind der Staat!“ (7) mein ständiger Wegbegleiter und Ratgeber ist. Mir wurde klar, welche Chance uns spätestens ab Dezember 1989 aus den Fingern glitt, als aus „Wir sind das Volk“ „Wir sind ein Volk“
wurde. Ab diesem Moment ging es nicht mehr um die Selbstbestimmung (8) der Bevölkerung der DDR, sondern um die Assimilation durch den Westen.
Wiedervereinigung, Beitritt oder gar Annexion?
Mit dem anhaltenden Assimilationsprozess,
dem die gesamte ostdeutsche Bevölkerung unterworfen wurde, gingen vielfältige Kränkungen und Verletzungen einher. Dies beinhaltet zunächst einen juristischen Aspekt. Es gab keine echte
Wiedervereinigung mit gesamtdeutscher Volksabstimmung über eine Verfassung, welche die besten Ideen und Erfahrungen beider Seiten vereint hätte. Stattdessen erfolgte auf rein parlamentarischem Weg
der schnöde Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Bei der gegenwärtigen Überstrapazierung des Begriffes könnte man es im Klartext auch als Annexion bezeichnen, was da am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde.
Verzerrtes Geschichtsbild der Sieger
Aus diesem juristischen Akt folgt auch ein völlig
verzerrtes Geschichtsbild. Es wird so getan, als habe es von 1949 bis 1990 nur ein einziges und natürlich nur ein richtiges Deutschland gegeben. Die Geschichte der DDR ist nicht Teil der Geschichte
Deutschlands, sondern etwas, was außerhalb steht. Die DDR, das ist nichts weiter als ein missliebiger Fremdkörper, der den Stempel „Unrechtsstaat“, „Diktatur“ und „Stasi“ verpasst bekam. Dies ist in
mehrfacher Hinsicht äußerst bedenklich.
Einerseits ist die Tendenz festzustellen, dass faktisch
alles Unrecht, das in der DDR begangen wurde, über der Stasi und ihren Mitarbeitern ausgekippt wird, womit diejenigen, die außerhalb der Stasi Unrecht begingen, reingewaschen werden. Dabei wird
unterschlagen, dass die Stasi kein von Partei und Staat losgelöster Unrechtsapparat war, sondern „Schild und Schwert der Partei“. Ein Schwert, das niemand in Händen hält, ist
ungefährlich.
Weiterhin beobachte ich die unsägliche Entwicklung, das
DDR-Unrecht auf eine Stufe mit den monströsen NS-Verbrechen zu stellen. Die Angleichung erfolgt aus drei Stoßrichtungen: durch Abwertung und Verharmlosung der NS-Verbrechen, durch Überzeichnung des
in der DDR begangenen Unrechts sowie durch Ausblendung des eigenen Unrechtes.
Abwertung und Verharmlosung der NS-Verbrechen
Die NS-Zeit wird mehr und mehr auf die Shoa reduziert
und dabei so getan, als habe es sich um einen Betriebsunfall der Geschichte gehandelt, der allein dem Irren aus Braunau geschuldet sei. Dass dieser völlig bedeutungslos geblieben wäre, hätte es nicht
auch ein Volk gegeben, das einen Führer wollte, wird immer mehr verdrängt. Verdrängt wird auch die tief an der Wurzel des Faschismus ansetzende Frage, warum genau das Volk geführt werden wollte. Die
Beantwortung dieser Frage führt zwingend zur Entfremdung des Menschen von sich selbst in einem auf Leistung, Konkurrenz und allumfassender Warenförmigkeit beruhenden System und damit zur bekannten
Feststellung, dass man über den Faschismus schweigen sollte, wenn man über den Kapitalismus nicht reden will.
Von den 27 Millionen Menschen, die Opfer des
gegen die Sowjetunion geführten rassenideologischen Vernichtungskrieges wurden, wissen die Jungen heute kaum noch etwas. Stattdessen stehen deutsche Soldaten wieder vor den Toren von St. Petersburg,
wo ihre Vorfahren eine Million Einwohner allein zum Zwecke ihrer Vernichtung aushungerten.
Und wenn man doch etwas über den Krieg gegen die
Sowjetunion erfährt, so wird dieser in alter russophober Manier „Russlandfeldzug“ genannt, was die ukrainischen und weißrussischen Opfer verschwinden lässt. Und über Sinti und Roma, Kommunisten und
andere nicht ganz so beleumundete Opfer schweigt man sich lieber ebenso aus wie über die Verbrechen, die in Polen, Jugoslawien, Griechenland, Italien und so weiter begangen wurden. Mich widert diese
die Opfer missbrauchende Selektion an, wobei man mir die zynische Wortwahl verzeihen möge.
Überzeichnung der DDR als verbrecherisches Regime
Zur Gleichsetzung von NS-Diktatur mit DDR-Unrecht gehört
nicht nur die sich verengende Einhegung der NS-Verbrechen und die fehlende Aufarbeitung ihrer Ursachen, sondern gleichzeitig die Überzeichnung der DDR als verbrecherisches Regime. Dies geschieht im
Wesentlichen dadurch, dass man die DDR gedanklich an die Sowjetunion anheftet und diese wiederum allein auf Stalins monströse Verbrechen reduziert. Diese Vorgehensweise ist zwar grober Unfug, denn in
der DDR gab es keine Gulags, keine politischen Säuberungswellen, keine politisch verursachten Hungersnöte.
Das eigentliche „Verbrechen“ der DDR bestand
aus Sicht der siegreichen Geschichtsschreiber darin, sich am heiligen Privateigentum vergriffen und die Gewichtung von bürgerlichen und sozialen Grundrechten falsch herum vorgenommen zu haben. In der
UN-Menschenrechtscharta sind übrigens beide gleichrangig verankert.
Leugnung der eigenen Verbrechen
Zu den fatalen Entwicklungen gehört freilich auch, dass
man das Unrecht des eigenen Systems leugnet oder zumindest nicht in einen vernünftigen Kontext zu den Vorwürfen gegenüber der DDR setzt.
Gegen das, was NSA, CIA und Co. so alles ausschnüffeln, sammeln und an
Grund- und Menschenrechten verletzen, war die Stasi vergleichsweise harmlos.
Und was die mörderische Handels-, Sanktions- und
Interventionspolitik der selbstherrlichen westlichen Wertegemeinschaft gegenüber dem globalen Süden an einem Tag an Toten produziert, hat die Berliner Mauer in den gesamten 28 Jahren ihres Bestehens
nicht geschafft.
Doch hinter diesen juristischen und historischen
Betrachtungen bleibt verborgen, unter welchen konkreten Demütigungen und Verletzungen viele Ostdeutsche bis heute leiden. Welches Ausmaß an Ignoranz ihnen die westdeutsch geprägte öffentliche Meinung
entgegenbringt, soll anhand einiger Beispiele näher veranschaulicht werden.
Zu
blöd für den Grünpfeil
Von den Menschen im Beitrittsgebiet wurde
erwartet, dass sie sich innerhalb kürzester Zeit an ein neues Gesellschafts- und Rechtssystem anpassen. Fast alle ostdeutschen Familien waren von Arbeitslosigkeit betroffen und das Erlernen eines
neuen Berufes war nicht die Ausnahme, sondern die Regel (9). Für die Bevölkerung im Altbundesgebiet änderte sich hingegen nichts. Falls doch, waren es unwesentliche Neuerungen wie der berühmte
„Grüne
Pfeil“, den man als eher symbolische Geste an die Ostdeutschen auch im Westen einzuführen versuchte, was aber in der Praxis an teils grotesker Begriffsstutzigkeit der
Verkehrsteilnehmer scheiterte und bewirkte, dass der Grünpfeil nur mit erheblichen Einschränkungen gegenüber der im Osten geltenden Regelung eingeführt wurde.
Man kann sich unschwer vorstellen, wie demütigend es für
einen Menschen ist, dessen bisherige Biographie komplett entwertet wurde, der tiefgreifende soziale Veränderungen meistern und sich in einem völlig neuen Rechtsrahmen zurechtfinden musste, wenn er
feststellt, dass die Bevölkerung auf der anderen Seite des ehemals Eisernen Vorhanges es nicht einmal hinbekommt, mit einer neuen Verkehrsregel klarzukommen. „Ihr verlangt von uns ganz
selbstverständlich, dass wir von heute auf morgen all eure Regeln beherrschen, seid aber selbst zu blöd, selbstständig zu entscheiden, ob ihr bei Rot rechts abbiegen könnt?“ So oder ähnlich dachte
nicht nur ich, als der Grünpfeil 1994 auch im Westen in modifizierter Form eingeführt wurde.
Neuer Wein aus alten Krügen
Seit einigen Jahren ist es Mode, Bewährtes aus der DDR
als Neuerfindung unter geändertem Namen auszugeben. „Ganztagesschule“ nennt sich jetzt das, was in der DDR selbstverständlich war, nämlich eine Schule, in der nach dem Unterricht
Arbeitsgemeinschaften angeboten werden und in der ein Schulhort für die Früh- und Nachmittagsbetreuung von Kindern berufstätiger Eltern eingerichtet ist.
„MVZ“ ist die Bezeichnung für die Konzentration von
Arztpraxen verschiedener Fachrichtungen an einem Standort. In der DDR gab es das schon lange und nannte sich Poliklinik.
„Nachwuchsleistungszentren“ richtete der DFB
zur gezielten Förderung von Fußballtalenten ein. In der DDR gab es so etwas nicht nur im Fußball, sondern in allen olympischen Sportarten, und das wurde dort Trainingszentrum genannt.
Ostdeutsche empfinden nicht nur die Kaperung ihrer guten Ideen als Kränkung, sondern vor allem die Weigerung des Westens, einfach mal zuzugeben, dass der Osten Seiten hatte, von denen der Westen
lernen konnte.
Fachidiotenüberschuss
Die Klagen über den vermeintlichen „Fachkräftemangel“
reißen nicht ab. Tatsächlich handelt es sich nicht um einen Mangel an Fachkräften, sondern um einen Mangel an Ausbildung. Das auf Pisa und Bulimielernen getrimmte Bildungssystem bringt in der Masse
angepasste Fachidioten mit Vordiplom, neudeutsch Bachelor genannt, hervor, während die ganzheitliche Vermittlung naturwissenschaftlicher Zusammenhänge und handwerklicher Fertigkeiten auf der Strecke
bleibt. Gleichzeitig wird das DDR-Bildungssystem, welches eben diesen Ansatz verfolgte, verteufelt, indem es auf Staatsbürgerkunde und Fahnenappelle reduziert wird. Das ist aus ostdeutscher Sicht
grotesk und anmaßend.
Verhöhnung der Mundarten
Ein Thema, das mich persönlich besonders
ärgert und meines Erachtens auch viel zu wenig beachtet, geschweige denn sozialwissenschaftlich untersucht wird, ist die allgegenwärtige Belächelung und Verhöhnung der im Beitrittsgebiet gesprochenen
Dialekte, insbesondere der in Sachsen und Ostthüringen gesprochenen obersächsischen Mundarten.
In der öffentlichen Meinung wird ein Bild gepflegt, wonach der typische
Ossi Sächsisch spricht und dabei leicht dümmlich daherkommt. Wird geistiger Dünnpfiff auf Hochdeutsch vorgetragen, kommt das immer noch besser an als qualitativ Hochwertiges auf
Sächsisch.
Dies führt dazu, dass Sachsen ihre Sprache in der
Öffentlichkeit verleugnen. Dies geschieht entweder dadurch, dass sie auf Krampf versuchen, Hochdeutsch zu reden oder indem sie ganz die Klappe halten. Denn sobald man den Mund aufmacht und anhand
seines Dialektes identifiziert wird, wird man auf eben diesen reduziert. Ostdeutsche und speziell Sachsen sind damit einer speziellen Form der Diskriminierung ausgesetzt. Hierin liegt, wie bei jeder
anderen Form von Diskriminierung, sozialer Brennstoff.
Aus dem Gefühl, nicht als vollwertiger, richtiger Deutscher akzeptiert
zu sein, könnte durchaus die Tendenz entspringen, sich die fehlende Anerkennung anderweitig zu beschaffen. Zum Beispiel, indem man nationalkonservativ oder gar völkisch
wählt.
Bislang ist mir noch keine Studie begegnet,
die den möglichen Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Zurückweisung aufgrund des Dialektes und dem Wahlverhalten der betreffenden Person untersucht hätte. Es ist an der Zeit, dies anzugehen. Hinzu
kommt in diesem Zusammenhang, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung kein Problem ist, süddeutsche Dialekte zu sprechen. Wenn Laura
Dahlmeier unverständliche Sätze auf Bayrisch bildet, ist das irgendwie niedlich und authentisch. Redet Michael Ballack Sächsisch, liefert er die perfekte
Comedy-Vorlage.
Gnadenakt „Teil der gesamtdeutschen Geschichte“
Den letzten und vielleicht wichtigsten Punkt betrifft
die Unkenntnis der meisten Westdeutschen über Sportler, Künstler, Filme, Bücher, Lieder, Ereignisse und Daten, welche die Menschen im Osten geprägt und begleitet haben. Umgekehrt, und das macht dann
wütend, wird vom Ossi erwartet, dass er sich mit den Entsprechungen im Westen gefälligst auszukennen habe. Hierzu ein paar kleine Beispiele:
Was fällt dem Leser zum Zehnkampf der Männer
bei den Olympischen Sommerspielen 1988 ein? Dass sich alles um Jürgen Hingsen drehte, dieser aber bereits bei der ersten Teildisziplin ausschied? Oder dass Christian Schenk Olympiasieger wurde und
den Grundstein hierfür mit einem anachronistischen Hochsprung legte?
Woran denkt der Leser, wenn es um die Hymne
der Wendezeit geht? An die Scorpions, die es nicht einmal fertig brachten, auf ihrer Tour 1990/91 im Osten zu gastieren? Oder an Karussell, die das Gefühl eines ganzen Landes musikalisch erfassten?
Jetzt mag man einwenden, dass doch jüngst
Sigmund Jähn verstarb und die Tagesschau dabei stolz verkündete, der erste Deutsche im All sei mittlerweile ein „Kapitel der gesamtdeutschen Geschichte“. Genau das ist das Problem!
Ostdeutsche Geschichte bedarf eines gesonderten Aufnahmeaktes, um zur
Geschichte des Siegers, euphemistisch „gesamtdeutsche Geschichte“ genannt, dazugehören zu dürfen. Westdeutsche Geschichte ist stets und ganz selbstverständlich „gesamtdeutsch“, ostdeutsche jedoch nur
dann, wenn es in den Kram passt.
Perspektivenwechsel
Woran also klemmt es, wenn es um die vielbeschworene
„Vollendung der Einheit“ geht? Doch wohl nicht daran, dass der Osten hinterherhängt, sondern eher daran, dass der Westen aufgefordert ist, sich nicht nur mit sich und seiner eigenen Großartigkeit zu
befassen, sondern endlich dem Osten zuzuhören und so langsam mal zu begreifen, dass man vom Osten viel, auch über sich selbst, lernen kann.
Doch letztlich ist das Gerede um die „Vollendung der
Einheit“ nur eine Phantomdiskussion, wenn es, wie erörtert, keine „Wiedervereinigung“, sondern einen Beitritt mit dem Versuch der Assimilitation seiner Bevölkerung gab. Trotz dieser harsch
erscheinenden Einschätzung will ich natürlich nicht die DDR zurück und mir ist das Zusammenleben der Menschen in diesem Land natürlich nicht egal. Worum es mir geht, ist ein Perspektivenwechsel. Ich
möchte, dass sich der Blick auf das Schöne, Vielfältige, Lebendige und Verbindende richtet: Auf die wahren Helden unseres Gemeinwesens in Ost und West, die ehrenamtlich Dienst bei der Feuerwehr
leisten, die die Sport- und Kulturvereine am Leben halten, die sich an der Basis mit Taten und nicht mit schwulstigen Worthülsen für ein friedliches Zusammenleben und gegen Menschenfeindlichkeit in
all seinen hässlichen Formen einsetzen.
Auf das beste Brot der Welt, das es in all seiner
Vielfalt nur im Osten und Westen dieses Landes gibt.
Auf den deutschen Wein, der aus einzigartigen und in
ihren Charakteren so verschiedenen, in ihrer Schönheit jedoch gleichen Anbaugebieten stammt. In Ost und West.
Auf die Vielfalt, Herzlichkeit und Schrulligkeit unserer
Dialekte. In Ost und West.
Auf die Vielfalt der Architektur und Kulturdenkmäler.
Vom reetgedeckten Haus an der Nordsee bis zur Almhütte in den Alpen, vom Aachener Dom bis zum sorbischen Dorf ganz im Osten.
Auf die Schönheit unserer Natur und auf den Frieden, den
wir in unseren Wäldern finden. In Ost und West.
Auf die Gnade, in einem Land leben zu dürfen, in dem ein
Menschenleben nicht reicht, um all die schönen Orte und Landschaften zu erkunden, die es zu erkunden gilt. In Ost und West.
Auf all die großartigen Musiker, Tänzer, Schauspieler
und auf all die weiteren kreativen Künstler, die unsere Herzen auf den großen und kleinen Bühnen berühren, in Ost und West.
Auf die Menschen, deren Masken fallen,
sobald man auf sie zugeht, mit ihnen spricht und ihnen wirklich zuhört. In Ost und West.
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Samstag, 09. November 2019, 15:50 Uhr
~14 Minuten Lesezeit
Echter Sozialismus statt Einheitsbrei!
Die größte Demonstration der DDR-Geschichte forderte nicht die Einheit, sondern
einen besseren Sozialismus.
Während jetzt einmal mehr die Sektkorken knallen beim Gedenken an den 9. November 1989, bleibt ein
anderer Tag weiterhin vergessen und verdrängt: Der 4. November 1989, als auf dem Alexanderplatz in Berlin eine eindrucksvolle Massendemonstration stattfand. Dabei war es der Höhepunkt des Bemühens,
im Osten Deutschlands etwas zu errichten, was noch immer eine gute Idee ist: demokratischer Sozialismus
„Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt werden.“
Dass diese Einschätzung im Westen ebenfalls
nicht nennenswert infrage gestellt wurde, belegte im selben Monat eine Entscheidung der Axel-Springer-Presse: Jahrzehntelang hatte man dort DDR in Gänsefüßchen gesetzt, um deren
Existenzrecht zu bestreiten. Damit sollte nun Schluss sein.
Ein Dreivierteljahr später war die Situation grundlegend
verwandelt. Im Sommer hatten Zehntausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger ihr Land — vor allem über die sich öffnende ungarische Grenze — in Richtung Westen verlassen. Oppositionsgruppen wie das „Neue
Forum“ gewannen enorm an Zulauf, in Leipzig und anderen Städten forderten immer mehr Menschen auf „Montagsdemonstrationen“ Reformen ein. Am 7. Oktober versuchte die SED-Führung, den 40. Jahrestag der
DDR zu begehen als sei alles beim Besten. Polizei und Staatssicherheit schlugen noch einmal zu — im wörtlichen wie übertragenen Sinne — als sich auch dagegen Protest erhob. Am 18. Oktober wurde Erich
Honecker vom SED-Politbüro in den erzwungenen Ruhestand geschickt und durch Egon Krenz als SED-Generalsekretär abgelöst. Die DDR-weiten Demonstrationen schwollen weiter an. Am 9. November öffnete
sich die Berliner Mauer …
Fragwürdiger Mauerfall-Kult
Offiziell übliche Sichtweisen werten dieses Geschehen
heute meist so: Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger hatten von ihrem Staat schon lange die Nase voll und gingen dafür auf die Straße, um endlich auch so leben zu können wie im Westen; die „friedliche
Revolution“ erzwang zu diesem Zwecke die Grenzöffnung, dann kamen die Wiedervereinigung und mit ihr die langersehnte Freiheit. Im Grunde, so der falsche Tenor, erhielt die DDR-„Wende“ ihre Krönung
durch den von Beginn an intendierten Mauerfall.
Doch in Wirklichkeit läutete der 9. November das Ende der Versuche ein, innerhalb der DDR eine politische „Wende“ herbeizuführen. Was
es an revolutionärer Energie gegeben hatte, verpuffte nun, diffundierte durch die aufgerissene Grenze in den kapitalistischen Nachbarstaat.
Statt das in vieler Hinsicht marode DDR-System weiter
umzukrempeln, forderte bald darauf eine Mehrheit, möglichst reibungslos in einem anderen — keinesfalls veränderungswilligen — System aufgehen zu dürfen. Aus dem antiautoritären Ruf „Wir sind das
Volk!“ der Montagsdemonstranten wurde die Vereinnahmungsbitte „Wir sind ein Volk!“.
Das Tempo dieses Umschwungs bewies: Das Interesse der
Massen an einer DDR-Erneuerung kann nicht so tiefgründig gewesen sein, wie es vor dem Mauerfall den Anschein hatte. Die politischen Aktivisten hatten in ihrem Engagement vorübergehend viele andere
mit sich gerissen — die ihr Mäntelchen schnell wieder nach dem — nun aus Richtung Westen blasenden — Wind hängen lassen sollten. Eine ganze Reihe der Aktivisten hielten es mit Letzterem allerdings
genauso.
Für
demokratischen Sozialismus
Die Vision, welche ursprünglich die DDR-„Wende“
motivierte, hatte jedoch mit einem alsbald vereinigten Deutschland gar nichts zu tun. Da ging es allermeist um etwas völlig anderes: um „wirklichen“, „richtigen“, „demokratischen Sozialismus“, um die
Übernahme von Perestroika und Glasnost aus der von Michail Gorbatschow geführten Sowjetunion.
Dazu wurde unter anderem die Aufhebung der
SED-Alleinherrschaft gefordert, demokratische Wahlen, die Zulassung von Bürgerrechtsbewegungen, Versammlungs- und Redefreiheit, die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit und das Ende
geheimdienstlicher Überwachung, die ungeschminkte Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, inklusive des Stalinismus, das Offenlegen der ökonomischen Misere, das In-Angriff-Nehmen der ökologischen
Probleme, die Beendigung von Pressezensur und Verdummung durch weitgehend gleichgeschaltete Medien, die Einführung nichtautoritärer Schulmodelle oder der Ausbau von Fahrradwegen. Mit anderen Worten:
eine ebenso brisante wie bunte Mischung kreativer Vorschläge zur Reformierung und Verbesserung der Deutschen Demokratischen Republik — nicht zu ihrer
Abschaffung.
Es gibt zahlreiche Dokumente, die diese
ursprüngliche Stoßrichtung belegen. Dazu gehört eine von mehr als 3.000 Rockmusikern, Liedermachern und Unterhaltungskünstlern wie Gerhard Gundermann, Tamara Danz oder Lutz Kerschowski
unterschriebene, am 18. Oktober 1989 veröffentlichte
Resolution.
Dort hieß es:
„Wir (…) sind besorgt über den augenblicklichen Zustand unseres Landes, über den massenhaften Exodus vieler Altersgenossen, über die Sinnkrise dieser gesellschaftlichen
Alternative und über die unerträgliche Ignoranz der Partei- und Staatsführung, die vorhandene Widersprüche bagatellisiert und an einem starren Kurs festhält. Es geht nicht um ‚Reformen, die den
Sozialismus abschaffen‘, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen.“
Noch am 26. November verlas Stefan Heym den
unter anderen von Christa Wolf formulierten Aufruf „Für unser Land“:
„Entweder
können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit
sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet
sind.
Oder
wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik
ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland
vereinnahmt wird.
Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu
entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.
Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift
anzuschließen.“
Knapp 1.170.000 DDR-Bürgerinnen und
DDR-Bürger setzten ihre Namen darunter. Doch auch sie konnten nichts mehr daran ändern, dass die BRD-Führung unter Helmut Kohl nun die Führung eines Prozesses übernahm, den Daniela Dahn 2019 als „feindliche Übernahme auf Wunsch der
Übernommenen“ charakterisierte. Oder auch als „Aufbruch nach Kohlrabien“.
Die damit einsetzende Diffamierung von all dem, was es
in der DDR an Positivem und Eigenständigem gegeben hatte, sorgte zugleich dafür, dass kaum noch jemand Genaueres weiß oder wissen will von jenem Ereignis, das den Höhepunkt der Bemühungen um einen
demokratischen Sozialismus im Osten Deutschlands darstellte.
Einzigartige Massendemonstration
Die Zahl der Menschen, die am 4. November 1989 einem
Aufruf der Berliner Theaterschaffenden folgten, wird meist auf eine Million geschätzt. In jedem Fall war es die größte spontane, nicht staatlich gelenkte Kundgebung, die es in der DDR je
gab.
Um 10 Uhr startete der Zug in
Berlin-Mitte, zog von der Prenzlauer Allee durch die Karl-Liebknecht-Straße zum Palast der Republik, weiter zum Marx-Engels-Platz, schließlich durch die Rathausstraße zum
Alexanderplatz. Das gesamte Stadtzentrum wurde dabei durchmessen, der Sitz der wichtigsten Regierungsstellen — Staatsrat, Außenministerium, Zentralkomitee der SED, Volkskammer, Rotes Rathaus … —
einbezogen, bevor die mehr als dreistündige Abschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz begann. Das DDR-Fernsehen übertrug live und vollständig.
Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch
die Schauspielerin Marion van de
Kamp:
„Liebe Kollegen und Freunde, Mitdenker und Hierbleiber!
Wir, die Mitarbeiter der Berliner Theater, heißen Sie herzlich willkommen. Die Straße ist die Tribüne des Volkes — überall dort, wo es von den anderen Tribünen ausgeschlossen wird. Hier findet keine
Manifestation statt, sondern eine sozialistische Protestdemonstration.“
Auf einem winzigen Podium traten sodann prominente
Schauspieler, Schriftsteller, Liedermacher, Wissenschaftler, ein Anwalt, zwei Theologen, der ehemalige Chef der Auslandsspionage, Angehörige von SED-Politbüro und -basis, des Neuen Forums, der
Initiative für Frieden und Menschenrechte und andere auf — inmitten eines Meeres aus Menschen, die ihre eigenen Ansichten und Forderungen durch emotionsgeladene Zwischenrufe hinzufügten und durch
selbst hergestellte Transparente: „Gegen Monopolsozialismus — Für demokratischen Sozialismus!“, „Privilegien weg — Wir sind das Volk“, „Keine Gewalt — Wir bleiben hier!“, „Demokratie — kein Chaos!“,
„Gemeinsames Spiel für gesunde und behinderte Kinder — Schranken weg!“, „Freie Presse für Freie Menschen“, aber auch schon die Warnung vor erneuter Anpassung: „Lasst euch nicht
verWENDEN!“.
Keine Frage, das war ein basisdemokratisches
Großereignis ersten Ranges, ein Meilenstein nicht nur für die ost- sondern auch für die gesamtdeutsche Historie. Oder wie es der Schriftsteller Stefan Heym auf der Bühne am Alexanderplatz
formulierte:
„Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche
Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch.
(…) Der Sozialismus — nicht der Stalinsche, der richtige —, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar
ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des
Volkes.“
Auszüge aus weiteren Redebeiträgen unterstreichen, um
was es ging.
„Die vorhandenen Strukturen, die immer wieder übernommenen prinzipiellen Strukturen lassen Erneuerung nicht zu. Deshalb müssen sie zerstört werden. Neue Strukturen müssen wir
entwickeln, für einen demokratischen Sozialismus. Und das heißt für mich unter anderem auch Aufteilung der Macht
zwischen der Mehrheit und den Minderheiten.“
Marianne Birthler, Jugendreferentin im
Stadtschulamt, Initiative Frieden und Menschenrechte:
„Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben. Auf diesem Platz ist hunderttausendfache Hoffnung versammelt. Hoffnung, Phantasie, Frechheit und Humor. Diese Hoffnung, die seit ein paar
Wochen endlich in der DDR wächst, sollte, bevor sie so groß wurde wie heute, am Abend des 7. Oktober und in den Tagen und Nächten danach niedergeknüppelt werden. (…) Bis heute ist nicht beantwortet:
Wer hat die Befehle gegeben, wer hatte die politische Verantwortung.“
„Freiheit ist Befreiung, und wir alle müssen uns frei machen von Angst, von der Angst, es könnte alles aufgezeichnet und später gegen mich verwendet werden, — von feiger Vorsicht,
nur nicht den Kopf aus dem Salat stecken, sonst gibt’s einen drauf, — von Kleinmütigkeit, es hat ja doch keinen Sinn, nichts wird sich ändern, alles bleibt beim Alten. Nein, wir müssen unser
Verfassungsrecht wahrnehmen, nicht nur hier auf der Demo, sondern vor dem Chef, vor den Kollegen, vor dem Lehrer, vor der Behörde, überall. Und wir müssen jedem beistehen, der dies Recht ausübt,
nicht abwarten, ob er sich den Hals bricht.“
„Wir haben inzwischen viele Anglizismen aufgenommen, wogegen ich nichts habe. Aber von der russischen Sprache haben wir nur das Wort Datscha übernommen. Ich finde, es ist Zeit,
zwei weitere Worte zu übernehmen: nämlich Perestroika und Glasnost. Und wenn wir dies auch inhaltlich vollziehen, wird es uns gelingen, die Begriffe DDR, Sozialismus, Humanismus, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen.“
„Lassen wir uns nicht von unserer eigenen Begeisterung täuschen! Wir haben es noch nicht geschafft. Die Kuh ist noch nicht vom Mist. Und es gibt noch genügend Kräfte, die keine
Veränderungen wünschen, die eine neue Gesellschaft fürchten und auch zu fürchten haben. (…) Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft, auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist! Einen
Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht. Eine Gesellschaft, die dem Menschen angemessen ist und ihn nicht der Struktur unterordnet.“
„Mit dem Wort ‚Wende‘“ habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: ‚Klar zur Wende!‘, weil der Wind sich gedreht hat und ihm ins Gesicht weht. Und
die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Aber stimmt dieses Bild noch? (…) Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen. Revolutionen gehen von unten aus. ‚Unten‘ und
‚oben‘“ wechseln ihre Plätze in dem Wertesystem und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Große soziale Bewegungen kommen in Gang.
(…)
Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht
weg!.“
Den Schlusspunkt der Veranstaltung zu
setzen, blieb der 81-jährigen Schauspielerin Steffie
Spira, ebenfalls SED-Mitglied, vorbehalten:
„1933 ging ich allein in ein fremdes Land. Ich nahm nichts mit, aber im Kopf hatte ich einige Zeilen eines Gedichts von Bertolt Brecht: Lob der Dialektik.
So wie es ist, bleibt es nicht.
Wer lebt, sage nie Niemals.
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein.
Und aus Niemals wird: Heute noch!“
Nachbetrachtung 2004
Ein weiterer Redner, der Wittenberger
Theologe Friedrich Schorlemmer,
rekapitulierte am 4. November 2004 in einem Interview die Bedeutung dieses Tages:
„Als Sie am 4. November auf dem Alexanderplatz zu Toleranz und Friedfertigkeit aufriefen — hatten Sie da eine Ahnung, was fünf Tage später
geschehen würde?
Schorlemmer: Keine besondere. Und ich hatte zu diesem Zeitpunkt auch nicht die geringste Sehnsucht nach dem, was man heute fälschlicherweise den Mauerfall
nennt.
Fälschlicherweise?
Schorlemmer: (…) In Wahrheit nahm sich das Volk das Recht, die Mauer zu überwinden. In Wahrheit war es kein ‚Mauerfall‘, sondern ein
Mauerdurchbruch.
Würden Sie heute die gleiche Rede halten wie am 4.
November 1989?
Schorlemmer: Ja. Ich bin sehr froh, dabei gewesen zu sein. Für mich bleibt der 4. ein wichtigeres Datum als der 9. November.
Warum?
Schorlemmer: Weil damals das ‚D‘ noch für Demokratie stand und nicht für ‚Deutschland‘ oder ‚D-Mark‘. Der 4. November war der Tag, an dem — und das ist selten in der deutschen
Geschichte — ein demokratischer Aufbruch passierte. Vertreter dieses kleinen Völkchens beendeten mit Klarheit, Konsequenz und menschlicher Fairness den Machtanspruch der SED und damit eine Diktatur.
(…)
Die deutsche Einheit war kein Thema?
Schorlemmer: Nur im Kontext einer europäischen Einigung à la Gorbatschow. Es ging uns zunächst um eine demokratisierte DDR.“
Dementsprechend gehörte der 4. November 1989 rot
angestrichen und deutlich hervorgehoben in der jüngsten deutschen Geschichtsschreibung und -darstellung.
Doch es existiert trotz der erhalten
gebliebenen TV-Aufzeichnungen nicht einmal ein käuflich erwerbbarer Video-Mitschnitt davon. Zwar gibt es immerhin eine CD mit auf dem
Alexanderplatz gehaltenen Reden — aber ein bloßes, zumal gekürztes Audio-Dokument fängt weder Atmosphäre noch
Dimension dieses Ereignisses ein, lässt dessen Bedeutung bestenfalls erahnen (1).
Mehr als ein Zeitdokument
Eine audiovisuelle Erinnerungsstütze an
diesen Tag hätte freilich nicht nur zeitgeschichtliche, sondern auch aktuelle Bedeutung: Zu einem erheblichen Teil muss die
Kritik, die damals SED-Führung und DDR-Gesellschaft traf, inzwischen in ähnlicher Weise an Bundesregierung und BRD-Gesellschaft gerichtet werden.
Das zeigt unter anderem ein weiterer Auszug aus der Rede
Stefan Heyms:
„Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Lasst uns auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar
weniger oder eines Apparates oder einer Partei.“
Der Ergänzung „oder einer Clique von
Superreichen und Konzernchefs“ hätte er definitiv zugestimmt, nur war das damals noch keine absehbare Gefahr in der sich scheinbar erneuernden DDR.
Weiter Stephan Heym:
„Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muss unterworfen sein der Kontrolle der Bürger.“
Dass heute auch hierzulande von Bürgerkontrolle — oder
von „Glasnost“, Transparenz der Politik — keine Rede sein kann, ist mittlerweile so offenkundig, dass ich keine Belege dafür anführen muss. Aber auch die damals auf dem Alexanderplatz erhobene
Forderung nach dem Ende der Bespitzelung durch Geheimdienste hat sich ja, wie mittlerweile nicht mehr zu verleugnen, mit dem Ende der DDR nicht erledigt. Und Kritik an systematisch desinformierenden
Massenmedien ist im Deutschland des Jahres 2019 ebenfalls längst wieder bitter nötig.
Die Geschehnisse des 4. November
1989 laden daher ein zum Erinnern — und zum Vergleichen: Wie aufrecht ist unser Gang heute? Was haben sich die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger davon erhalten, was sich da im Herbst ‘89 an
Mut, Kreativität, Aufbruchsstimmung zeigte? Diese Frage ist umso drängender, als die „rechts“lastige AfD-Führung bei den letzten Landtagswahlen erfolgreich Parolen missbrauchte, die seinerzeit dazu
gedacht waren, im östlichen Teil Deutschlands einen demokratischen Sozialismus entstehen zu lassen. Nur, wie gesagt: Das weiß inzwischen kaum noch jemand …
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Samstag, 09. November 2019, 15:57 Uhr
~26 Minuten Lesezeit
Die verhinderte Demokratie
Nach der Wiedervereinigung eroberten die Sieger die Deutungshoheit und vereitelten
so die historische Chance eines wirklichen Neubeginns.
Eine Vereinigung — das wäre eigentlich ein Vorgang der Kompromissfindung, bei dem beide Seiten ihre
Vorstellungen und Erfahrungen einfließen lassen. Aus These und Antithese könnte eine Synthese entstehen, die das Beste aus beiden Welten auf einer höheren Ebene vereinigt. Während des Wendeprozesses
1989/90 war vor allem Ostdeutschland ein Laboratorium kreativer Ideen, das Hoffnung auf die Schaffung einer wirklichen sozialen Demokratie weckte. Aber die Ostdeutschen wurden bewusst mit den
Lockungen der Warenwelt eingekauft; die westdeutschen Lämmer schwiegen, eingelullt vom Versprechen des „Weiter so“. Der Endsieg des profitgetriebenen Kapitalismus erstickte alle Ansätze zu wirklich
Neuem im Keim. Weder gab es eine gesamtdeutsche Verfassung noch ein Zusammenwachsen der beiden unterschiedlichen Mentalitäten. All das geschah auch, weil das Hauptwerkzeug eines sanften
Totalitarismus, die West-Medien, in den Hirnen und Herzen der Deutschen ganze Arbeit geleistet hatte.
Das Schweigen der Lämmer ist kein
unabwendbares Schicksal. 1989 hat das Volk sich selbst zum Sprechen ermächtigt und seine Stimme gegen die Zentren der Macht politisch wirksam werden lassen. Es hat den alten Hirten die Gefolgschaft
gekündigt — und sich neue gesucht, die seine „Vertreibung ins Paradies“, so das treffende Bild von Daniela Dahn, organisierten: das Paradies der kapitalistischen Warenwelt, der grenzenlosen Reise-
und Redefreiheit; das kapitalistische Paradies der individuellen Bedürfnisbefriedigung, der bunten Medienvielfalt und der unerschöpflichen Zerstreuungs- und Unterhaltungsindustrie. Keine Frage: Nach
den Kriterien des westlichen Vorbilds ist der Lebensstandard für eine Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland gestiegen — und mehr noch das Ausmaß sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher
Spaltungen.
Für den Sieger war dies ein überwältigender Sieg. Und da
Geschichte bekanntlich von den Siegern geschrieben wird, kann es keinen Zweifel geben, wer der Sieger ist. Der Sieger des historischen Augenblicks ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung und mit
ihr die Lebensformen und Annehmlichkeiten des Konsums, die sie ermöglicht.
Bleibt noch die Frage, wer oder was eigentlich die
Verlierer der Ereignisse von 1989 sind. Über den Hauptverlierer gibt es wohl ebenfalls keinen Zweifel: Es ist der real existierende Sozialismus. Er hatte schon früh gezeigt, dass er bereit ist, seine
emanzipatorischen Versprechen zu verraten und zu missbrauchen. Auch hat er in der jahrzehntelangen Systemkonkurrenz mit dem US-geführten Kapitalismus und ihren brutalen ökonomischen und militärischen
Spielregeln nicht vermocht, eine Lebensrealität anzubieten, die die Bevölkerung über diesen Verrat hätte hinwegtäuschen oder sie dafür hätte entschädigen können.
1989 hat das Volk sein Veränderungsbedürfnis
klar artikuliert und sich für einen besseren, demokratisch reformierten Sozialismus ausgesprochen. „Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus“, schreibt Daniela Dahn in
ihrer soeben erschienenen Abrechnung mit der Einheit, die den Titel trägt: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute —
eine Pflichtlektüre für alle, die die Hintergründe der sogenannten Wiedervereinigung besser verstehen wollen und zugleich mehr erfahren wollen über die Persönlichkeit des Wiedervereinigers, also die
Bundesrepublik.
Nach einem zunächst verheißungsvollen Aufbruch oppositioneller Gruppen
in der DDR, die einen Demokratisierungsdruck aufzubauen suchten, der auch auf den Westen übergreifen sollte, wurde jedoch die „friedliche Revolution“, die keine Revolution war, regelrecht aufgekauft
— der Kapitalismus hat bekanntlich einen großen Magen.
Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Die historische
Chance auf eine gesamtdeutsche Verfassung, die, wie es in Paragraf 146 des Grundgesetzes heißt, „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, also die Chance einer
wirklichen Demokratisierung in beiden Teilen wurde in rigoroser Siegermentalität blockiert. Und damit auch die Chance, sozialen Grundrechten Verfassungsrang zu geben.
In diesen Siegesstunden bewies der Kapitalismus noch
einmal, dass ihm kein ideologisches System an illusionserzeugender Kraft gleichkommt. Keine andere autoritäre Herrschaftsform verfügt über so ausgefeilte Mittel, Menschen zu ihrer freiwilligen
Knechtschaft zu verführen. Dazu gehören insbesondere Mittel zur Spaltung der Gesellschaft und zur Zersetzung von Dissens. All diese Mittel konnten 1989 höchst wirksam zur Anwendung gebracht werden,
dazu noch mit singulären Renditen für die Kapitalbesitzer. Die Stimmen einer demokratischen Revolution verhallten und der kapitalistische Weg war frei zu einer, in Daniela Dahns prägnanter
Formulierung, „feindlichen Übernahme der DDR auf Wunsch der Übernommenen“. Auch das war Demokratie, nur eben „kapitalistische Demokratie“, über die noch zu sprechen sein
wird.
Sieger und Verlierer lassen sich also leicht
identifizieren, wenn man nur bereit ist, die Perspektive auf die historische bipolare Systemkonkurrenz von real existierendem US-Kapitalismus und real existierendem Kommunismus zu verengen. Doch
genau eine solche Perspektivenverengung blockiert ein tiefer gehendes Verständnis, denn tatsächlich geht es um sehr viel mehr als um eine solche Alternative.
Wir sollten daher bei der Suche nach den Verlierern
nicht an der Oberfläche der offiziellen Rahmengeschichte bleiben. Denn die Sieger stehen hier berechtigterweise in dem Ruf, in globalem Maßstab Verlierer zu produzieren. Auf materieller Ebene ist der
Kapitalismus schon seiner Funktionslogik nach darauf angelegt, Verlierer geradezu im Überfluss zu produzieren. Wie dies ganz konkret funktioniert, hat die ostdeutsche Bevölkerung nach 1990 in einem
von den westdeutschen Eliten veranstalteten Crashkurs lernen können. Zu den verordneten Lerneinheiten gehörte die systematische Zerstörung der ostdeutschen Volkswirtschaft, die Privatisierung ihres
Volkseigentums, bei der 80 Prozent des von der Treuhandanstalt verwalteten ehemals ostdeutschen Produktionsvermögens an Westdeutsche und nur sechs Prozent an DDR-Bürger fielen sowie der Verlust von
mindestens 2,5 Millionen Jobs.
Aus Sicht der Sieger haben diese gesellschaftlichen
Verwüstungen übrigens rein gar nichts mit der Funktionslogik des Kapitalismus zu tun, sondern sind — wie der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, jüngst feststellte — schlicht eine
Konsequenz daraus, „dass die Ostdeutschen das Pech hatten, 40 Jahre auf der falschen Seite der Geschichte gestanden zu haben.“
Ein erfolgreiches Verbrechen zeichnet sich bekanntlich gerade dadurch
aus, dass es dem Täter gelingt, den Opfern die Überzeugung zu vermitteln, dass sie ihr Schicksal verdient hätten.
Zu den traumatischen Lehreinheiten gehört auch die
Erfahrung, dass Korruption nicht einfach zu den Auswüchsen des Kapitalismus zu zählen ist, sondern dass sie Teil seiner natürlichen Funktionsweise ist. — Es waren wahrlich paradiesische Zeiten für
westdeutsches Kapital, in denen sich die Funktionslogik des Kapitalismus ungehemmt offenbaren konnte.
Dennoch müssen wir bei der Suche nach den Verlierern von
1989 noch tiefer unter die Oberfläche dringen, denn es geht um mehr: Es geht um den Verlust an mühsam errungener zivilisatorischer Substanz. Der folgenschwerste Verlust betrifft die zivilisatorische
Leitidee von Demokratie — einen der bedeutendsten zivilisatorischen Schutzbalken gegen das rohe Recht des Stärkeren.
Nachdem die Bemühungen um eine wirkliche
Demokratisierung innerhalb der DDR an den machtpolitischen Realitäten zerschellt waren, erhielten die Neubürger einen weiteren
Crashkurs im Fach „kapitalistische Demokratie“. Dabei konnten nun diejenigen, die sich das Wort „Demokratie“ nicht durch eine pervertierte Verwendung enteignen lassen wollten, selbst erfahren, wie
weit das demokratische Leitideal und die Realität der „kapitalistischen Demokratie“ auseinander liegen. Diese Diskrepanz ist eigentlich nicht überraschend, denn es gehört gerade zum Wesensmerkmal
einer „kapitalistischen Demokratie“, dass sie keine ist. Der Widerspruch ist so offenkundig, dass er sich nur mit ausgefeilten Techniken der Indoktrination unsichtbar und undenkbar machen
lässt.
In ihrem Wesenskern und in ihrer Funktionslogik sind
Demokratie und real existierender Kapitalismus in fundamentaler Weise unverträglich miteinander. Die kapitalistische Eigentumsordnung verpflichtet alle, die über kein eigenes Kapital verfügen, für
fremdes Eigentum zu arbeiten, und überführt damit Arbeit in Lohnarbeit. Arbeit im Kapitalismus bedeutet also Unterwerfung unter die Verwertungsbedingungen des Akkumulationsprozesses und damit unter
die Machtverhältnisse, die eine Minderheit von Besitzenden über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt. Der Kapitalismus ist also darauf angewiesen, die Minderheit der Besitzenden strikt vor den
Veränderungswünschen der Mehrheit zu schützen. Daher kann er auch aus sich heraus sich niemals eine demokratische Legitimation verschaffen. Das ist eine Binsenwahrheit der politischen Wissenschaften.
Schon Aristoteles lehnte die Demokratie ab, weil sie die Möglichkeit beinhaltet, dass „die Armen, weil sie die Mehrheit bildeten, das Vermögen der Reichen unter sich teilten“, was Aristoteles als
Unrecht ansah.
Dass Kapitalismus und Demokratie in fundamentaler Weise unverträglich
miteinander sind, ist also seit ihren historischen Anfängen bekannt, sodass es danach nur noch darum ging, wie sich geeignete Mittel finden lassen, mit denen sich dieses Spannungsverhältnis so
lindern oder verdecken lässt, dass eine Herrschaft der Besitzenden nicht gefährdet ist.
Seit je haben also die Besitzenden großen Aufwand
betrieben, solche Mittel zu schaffen. — Ohne eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch geeignete Formen der Indoktrination würde in einer „kapitalistischen Demokratie“ rasch
offenkundig, dass es sich in Wahrheit gar nicht um eine Demokratie handelt. Historisch gingen daher die Entwicklung „kapitalistischer Demokratien“ und die Entwicklung immer wirksamerer Techniken der
Indoktrination Hand in Hand.
Seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts
wurde und wird in den USA mit hohem finanziellem Aufwand und unter massiver Beteiligung der Sozialwissenschaften und der Psychologie ein breites Arsenal von Techniken der Meinungs- und
Affektmanipulation entwickelt. Die riesigen Fortschritte, die in hundert Jahren intensiver systematischer Erforschung von Manipulationstechniken erreicht wurden, lassen sich besser ermessen, wenn man
sich die Fortschritte vor Augen führt, die in diesem Zeitraum in der Entwicklung der Unterhaltungstechnologie erreicht wurden. Der Entwicklungsabstand vom alten Stummfilmkino über den 3D-Digitalfilm
bis zu einem Virtual Reality-Setting lässt vielleicht erahnen, wie groß der Entwicklungsabstand von traditioneller Propaganda
zu modernen Indoktrinationstechniken ist.
Zu den Verfeinerungen von Propaganda gehört
nicht zuletzt, dass sie sich heute nicht mehr als Propaganda bezeichnet — sie trägt heute Namen wie Perception Management oder
Soft Power — und dass sie Formen annimmt, die für die Bevölkerung immer weniger sichtbar und erkennbar geworden sind. Wie
wirksam mittlerweile moderne Propagandatechniken geworden sind, lässt sich daran erkennen, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung dem Trugbild erlegen ist, in einer Gesellschaft zu leben, die
frei von Propaganda sei.
Zu diesen Indoktrinationsmethoden gehört es auch, dem
Wort „Demokratie“ in Orwellscher Weise neue Bedeutung zu verleihen, die geradezu das Gegenteil von dem bedeutet, was mit Demokratie ursprünglich gemeint ist. In der von George Orwell in seinem Roman
„1984“ beschriebenen Gesellschaft werden zentrale politische Begriff ihres Sinnes entleert und zur Stabilisierung von Machtverhältnissen mit einem neuen Sinn belegt: „Krieg ist Frieden; Freiheit ist
Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke.“
Wer die Sprache beherrscht, beherrscht die Gehirne — und damit auch
uns.
Was bei Orwell für den Leser noch leicht durchschaubar
ist, wurde mittlerweile so perfektioniert, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Denken Sie etwa an all die Begriffe aus dem großen neoliberalen Falschwörterbuch, wie „Reformen“ oder
„Bürokratieabbau“, die für die Bevölkerung positiv und sinnvoll klingen sollen, tatsächlich jedoch bedeuten, Konzerne und Reiche vor einer demokratischen Verantwortung und Kontrolle zu schützen und
eine Umverteilung von unten nach oben und von der öffentlichen in die private Hand voranzutreiben.
Auch das Wort „Freiheit“ wurde im
Neoliberalismus umdefiniert. Heute bedeutet es vor allem die Freiheit der ökonomisch Mächtigen. Für den Rest der Bevölkerung besteht Freiheit darin, sich als Konsument und als flexibel
fremdverwertbares Humankapital den Bedingungen des „freien Marktes“ — ein weiteres Beispiel aus dem Falschwörterbuch — zu unterwerfen. Freiheit im Neoliberalismus bedeutet also, sich dem Markt
unterwerfen zu müssen, um die eigene Fremdverwertbarkeit zu optimieren. Heute ist das Orwellsche Freiheit ist Unterwerfung —
nicht nur für diejenigen, die in dem großen Niedriglohnsektor arbeiten — längst alltägliche Realität geworden.
In gleicher Weise wurde auch die Bedeutung des Wortes
„Demokratie“ geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde in Orwellscher Weise „Demokratie“ in systematischer und ganz expliziter Weise so umdefiniert, dass
sie nun nicht mehr Volksherrschaft, sondern Elitenherrschaft bedeutet. Man spricht seitdem von „Elitendemokratie“. In einer Elitendemokratie ist das demokratische Element im Wesentlichen darauf
reduziert, dass das Volk in periodischen Abständen Vertreter aus einem vorgegebenen Elitenspektrum wählen darf. Dadurch sollte der Einfluss des Volkes im Wesentlichen auf seine Rolle als Zuschauer
begrenzt werden. Im Kapitalismus könne, so Walter Lippmann, einer der einflussreichsten politischen US-Intellektuellen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, Demokratie nur
„Zuschauerdemokratie“ bedeuten. Von einer wirklichen politischen Partizipation müsse das Volk ausgeschlossen sein.
Diese Auffassung fand begeisterte Zustimmung in den
relevanten Kreisen und wurde, in unterschiedlichen Varianten, in allen kapitalistischen Demokratien umgesetzt. Daher hat Wolfgang Schäuble deskriptiv recht, als er 2015 bemerkte: „Es darf nicht
zugelassen werden, dass Wahlen etwas an der Wirtschaftspolitik ändern.“ Das gilt freilich nicht nur für die Wirtschaftspolitik. Groß angelegte empirische Studien renommierter US-Politologen haben
gezeigt, dass der Einfluss der unteren 70 Prozent auf der Einkommensskala mit einem Gewicht von Null in politische Entscheidungen eingeht. Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung ist damit
politisch schlicht irrelevant.
Politische Präferenzen, die vom überwiegenden Teil der
Bevölkerung geteilt werden, jedoch zu sehr von denen des herrschenden Elitenspektrums abweichen — etwa eine stärkere Besteuerung großer Einkommen oder ein Privatisierungsverbot für sozialstaatliche
Einrichtungen — können durchaus artikuliert werden, bleiben jedoch bei der Wahl politisch wirkungslos. Auch ist, wie der große Demokratietheoretiker Sheldon Wolin treffend feststellte, in unseren
kapitalistischen Demokratien jede Form von Dissens erlaubt und als Revolutionsprophylaxe sogar erwünscht, solange der Dissens politisch unwirksam bleibt. So viel also zur politischen Realität in
kapitalistischen Demokratien.
Wenn wir den Orwellschen Umdeutungen politischer
Begriffe entgehen wollen, müssen wir uns zunächst daran erinnern, was diese Begriffe eigentlich bedeuten. Im Fall des Demokratiebegriffs ist nach jahrzehntelanger Indoktrination die eigentliche
Bedeutung von „Demokratie“ schon fast aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Versuchen wir also, uns zu erinnern.
Die in einem mühevollen Prozess der
zivilisatorischen Einhegung von Gewalt gewonnene Leitidee der Demokratie bedeutet eine Vergesellschaftung von Herrschaft. In der Aufklärung wurde dies präzisiert als eine ungeteilte gesetzgeberische Souveränität des Volkes zusammen mit einer strikten Gewaltenteilung. Der Wesenskern von Demokratie ist die
Volkssouveränität. Diese bedeutet das Recht des Volkes, sich jederzeit eine Verfassung nach seinen eigenen Vorstellungen geben zu können. Zudem bedeutet es eine Unterwerfung aller Staatsapparate
unter das demokratische Gesetz. Konkret heißt das: Alle Machtstrukturen, die nicht demokratisch — also von unten — legitimiert sind, sind illegitim und müssen beseitigt
werden.
In der Volkssouveränität drückt sich also das Recht auf
eine politische Selbstbestimmung aus. Diese Selbstbestimmung soll gerade sicherstellen, dass jeder Bürger einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen haben kann, die das eigene
gesellschaftliche Leben betreffen. Zentrale Bereiche einer Gesellschaft dürfen nicht von einer demokratischen Legitimation und Kontrolle ausgeklammert werden. Da die Wirtschaft zweifellos hierzu
gehört, sind — wie schon vor fast hundert Jahren der einflussreiche politische Philosoph John Dewey bemerkte — die Kriterien einer Demokratie so lange nicht erfüllt, wie die Wirtschaft autoritär
organisiert und einer demokratischen Kontrolle entzogen ist. Das beantwortet noch einmal die Frage, ob es eine kapitalistische Demokratie geben kann.
Schauen wir uns nun unsere Verfassungswirklichkeit an.
Im Grundgesetz findet sich in der floskelhaften Bestimmung des Paragrafen 20, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, die Idee der Volkssouveränität zwar wieder, doch wird sie sogleich durch den
extrem repräsentativen Charakter des Grundgesetzes wieder unterlaufen. Das Grundgesetz ist durch tiefes Misstrauen gegenüber dem Volk gekennzeichnet. Dieser konstitutionelle Schutz vor dem Volk
genügt indes den anti-demokratischen Bedürfnissen der Machteliten nicht. Schon seit den Anfängen sind sie daher bemüht, die in der Verfassung enthaltenen demokratischen Elemente zu schwächen, zu
unterlaufen oder zu beseitigen. Dabei bediente und bedient man sich einer systematische Angsterzeugung durch wechselnde Feindbildern und Bedrohungskulissen, um die Duldung der Öffentlichkeit für
immer weiterreichende autoritäre Maßnahmen und für einen Abbau von Grundrechten zu erreichen.
Erst war es die vorgebliche Gefahr durch Kommunisten — denken wir an den
Radikalenerlass und die Berufsverbote der 1970er-Jahre —, dann in den 1980er-Jahren die vorgebliche Gefahr durch terroristische Kräfte aus dem Umfeld außerparlamentarischer Bewegungen, dann die
vorgebliche Bedrohung durch, so Wolfgang Schäuble 1991, die „Asylantenflut“ — eine Bedrohungskulisse, die mit einer bis dahin beispiellosen Hetzkampagne aus den bürgerlichen Parteien einherging, der
dann zahlreiche rassistische Ausschreitungen folgten.
Seit 2001 schließlich ist die Verfassungsrealität durch
eine geradezu hemmungslose Selbstversorgung der Exekutive mit Sicherheitsgesetzen gekennzeichnet.
All diese Bedrohungskulissen werden aufgebaut, um
Polizei und Geheimdienste autoritär zu ermächtigen und von demokratischer Kontrolle zu entbinden. Stück für Stück wird auf diese Weise eine Transformation zu einem Überwachungs- und Sicherheitsstaat
betrieben. Der Bürger als solcher wird als Sicherheitsrisiko für die doch eigentlich von ihm auszugehende Staatsgewalt angesehen. Mit einer Flut von präventiven Sicherheitsgesetzen emanzipiert sich
die Exekutive endgültig vom Souverän. Die zunehmend mit autoritären Elementen durchsetzte Verfassung wird genau mit diesen autoritären Elementen vor dem Volk geschützt, und der rechtliche
Ausnahmezustand wird zu einem Dauerzustand. Diese Entwicklungen zeigen, dass es keine mächtigeren Verfassungsfeinde gibt, als in den Apparaten der Exekutive — wie es ja auch in konkreten Fällen das
Bundesverfassungsgericht immer wieder festgestellt hat. Prominente Beispiele sind der Große Lauschangriff von 1998 und das Luftsicherheitsgesetz von 2005.
Heute sieht die Verfassungsrealität so aus, dass weder
von Volkssouveränität noch von strikter Gewaltenteilung noch von angemessenen Partizipationschancen die Rede sein kann. Das Parlament als Repräsentant des Souveräns ist heute zu einem ein Hilfsorgan
der Exekutive degeneriert — sozusagen ihr Demokratie-Inszenierungs-Organ; auch die Sicherheitsapparate des Staates haben sich einer demokratischen Kontrolle weitgehend entzogen. Militär und Medien
ohnehin. Zentrale Bereiche der Gesellschaft sind also längst autoritär organisiert. Auch das mit der Leitidee von Demokratie eng verbundene Völkerrecht ist heute an seinen Wurzeln zerfressen
worden.
Demokratie entstand nämlich aus den
zivilisatorischen Bemühungen, den Frieden innerhalb der Gesellschaft und den Frieden zwischen den Völkern zu sichern. Auch dies findet seinen Widerhall im Wortlaut des Grundgesetzes, insbesondere in dem in Paragraf 26
festgelegten strafbewehrten Verbot eines Angriffskrieges. Seit dem völkerrechtswidrigen NATO-Überfall auf Jugoslawien, ein Angriffskrieg, an dem die Bundeswehr beteiligt war, ist der Krieg wieder als
Mittel der Politik legitimiert worden — wenig überraschend, denn der Kapitalismus ist auf Kriege angewiesen und trägt bekanntlich „den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“.
Kurz: Die Verfassungsrealität sieht so aus, dass das
Volk — so die große Verfassungstheoretikerin Ingeborg Maus — „realiter von den bloß Ermächtigten übermächtigt“ wird.
Der Souverän hat ausgedient. Nun muss er nur noch so gelenkt werden,
dass er bei Wahlen so will, wie er wollen soll, und er muss so überwacht werden, dass er die Stabilität herrschender Machtverhältnisse nicht gefährdet.
Wenn man angesichts dieser schleichenden
Entdemokratisierung den Blick auf unsere gesellschaftliche Verantwortung richtet, kann und muss man auch sagen, dass sich das
Volk durch seine Duldung dieser Entwicklungen und durch sein Schweigen selbst entmächtigt hat.
Der Umbau der demokratisch angelegten
Verfassung zu einem zunehmend autoritären Überwachungs- und Sicherheitsstaat ist keine zufällige Folge irgendwelcher
historischen Konstellationen. Er ist eine geradezu zwangsläufige Folge der Tatsache, dass Demokratie und real existierender Kapitalismus grundlegend unverträglich miteinander sind. Daran ändert auch
die kurzzeitige Symbiose nichts, die Demokratie und Kapitalismus in der Nachkriegszeit eingegangen sind.
Nun könnte man versucht sein, diese massiven
demokratischen Defizite gerade zu Tugenden zu erklären, indem man argumentiert, dass eine Demokratie den Komplexitätsanforderungen moderner Gesellschaften nicht mehr gewachsen sei und das Gemeinwohl
bei den rationalen und vernünftigen Eliten besser aufgehoben sei. Das ist ein beliebter und überaus geschickter Schachzug der Machteliten. Die sich darin zeigende anti-demokratische Haltung der
selbstdeklarierten Eliten führt uns wieder zurück zum Schweigen der Lämmer und zu der Metapher von Herde und Hirte. So
verführerisch plausibel diese Metapher, die die politische Philosophie des Abendlandes durchzieht, auf den ersten Blick erscheinen mag, so spiegelt sie tatsächlich nur das ideologische Bemühen wider,
Herrschaft über Menschen zu rechtfertigen.
Denn natürlich ist der Hirte nicht dem Wohl der Schafherde verpflichtet,
sondern dem Wohl des Herdenbesitzers.
Der jedoch kommt in dieser Metapher
bezeichnenderweise gar nicht vor.
Die Hirtenmetapher dient, wie die Geschichte zeigt, vor allem der Rechtfertigung von Herrschaft. Erst mit dieser Metapher wird das Volk gedanklich zu einer Herde gemacht. Diese Metapher schafft die
ideologische Idee eines unmündigen und launischen Volkes und verschleiert zugleich den Eigennutz derjenigen, die sich als Führer anbieten. Sie schafft erst die ideologische Unterscheidung von
irrationalem „Volk“ und rationaler „Führungselite“, die das Fundament der gegenwärtig herrschenden Vorstellungen von kapitalistischer Elitendemokratie bildet.
In kapitalistischen Demokratien ist Politik, wie John
Dewey lakonisch bemerkte, nicht mehr als der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt. In der neoliberalen Extremform des Kapitalismus ist dieser Spielraum nur noch ein Schrumpfraum, in dem die
Bevölkerung als eigenständiger politischer Akteur gar nicht mehr vorkommt. Kapitalistische Demokratie bedeutet also, dass das Staatsvolk de facto von einer gesellschaftlichen Mitgestaltung
ausgeschlossen ist. Nur auf der Basis einer Aushöhlung demokratischer Strukturen konnte seit den 1990er-Jahren der Neoliberalismus, also der globalisierte Finanzkapitalismus, seinen Siegeszug
durchführen.
Die neoliberale Politik einer radikalen Umverteilung von
unten nach oben und von der öffentlichen in die private Hand hat dazu geführt, dass immer breitere Bevölkerungsschichten verarmen und zugleich die Reichen mehr und mehr von Beiträgen zur Gemeinschaft
„entlastet“ werden. Die katastrophalen Folgen der neoliberalen Zerstörung von Gemeinschaft werden, trotz massivster Indoktrinationsbemühungen, für immer breitere Teile der Bevölkerung spürbar und
erkennbar — und erzeugen ein wachsendes Empörungspotenzial und Veränderungsbedürfnis. Diese Veränderungsbedürfnisse der Bevölkerung haben jedoch durch die neoliberale Entleerung des politischen
Raumes keine Adressaten in der Politik mehr und gehen somit ins Leere.
Die Folgen sind ein drastisches Ansteigen von Gefühlen
der politischen Ohnmacht, von Apathie, Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung. Diese Affekte müssen nun irgendwie bewältigt werden. Die traditionellen sozialstaatlichen Institutionen, die
Gemeinschaft fördern und dadurch Identität stiften, die gesellschaftliche Sicherheit vermitteln und angstreduzierend wirken, sind im Zuge der neoliberalen Politik massiv beschädigt oder zerstört
worden. Ein wachsender Teil der Bevölkerung erleidet also schwere Verlusterfahrungen: einen Verlust an Anerkennung, einen Verlust an gesellschaftlicher Wirksamkeit, einen Verlust an kollektiver
Identität, einen Verlust an materieller Sicherheit, einen Verlust an gemeinschaftlichen Normen und Werten und einen Verlust an Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen.
Wenn über ein Fünftel der Gesellschaft in unsicheren und
nicht mehr existenzsichernden Arbeitsverhältnissen arbeitet, wenn ein wachsender Teil der Gesellschaft keine politische Stimme hat, keine Organisationsform, keine mediale Repräsentanz, keine
Lobbyisten für eine Vertretung ihrer Interessen, in weiten Teilen hochgradig überwacht und diszipliniert ist, kann die Bevölkerung die Bezeichnung „Demokratie“ nur noch als Hohn
erleben.
Es ist daher wenig überraschend, dass sich die
systematisch erzeugten Ohnmachtserfahrungen andere Wege einer Bewältigung suchen. Denn die gegenwärtige radikal anti-egalitäre und anti-pluralistische Politik von oben erzeugt zwangsläufig affektive
Gegenreaktionen von unten. Diese Gegenreaktionen — die als Populismus bezeichnet werden — teilen oftmals die anti-egalitären und anti-pluralistischen Haltungen des Neoliberalismus, nur eben zugunsten
anderer sozialer Gruppen. Populismus lässt sich also verstehen als eine anti-pluralistische Reaktion von unten auf eine anti-pluralistische Politik von oben. Im Rechtspopulismus verbindet sich dies
darüber hinaus mit einer anti-egalitären Haltung zugunsten eines ethnisch aufgeladenen Volksbegriffs.
Die neoliberale Ideologie führt zu einer sozialen
Fragmentierung der Gesellschaft und zu einer Zerstörung sozialer Identitäten. Sie führte in allen Bereichen zu radikalen Spaltungen der Gesellschaft. Diese reichen bis in die Psyche des Individuums,
das, um im kapitalistischen Verwertungsprozess „erfolgreich“ zu sein, seine Fremdverwertbarkeit optimieren und sich „Flexibilisierungsanforderungen“ unterwerfen muss, die es nur durch psychische
Spaltungen erfüllen kann. Auf diese Weise macht die neoliberale Ideologie das Individuum selbst für sein gesellschaftliches Scheitern verantwortlich.
Die dadurch erzeugten Spaltungen und Verluste an
kollektiver Identität müssen nun psychisch bewältigt werden. Der Rechtspopulismus bietet zur Bewältigung eine Form der Re-Kollektivierung des Scheiterns an. Er entlastet gleichsam die Individuen vom
Gefühl eines individuellen Versagens, indem er eine systematische Benachteiligung der eigenen Gruppe gegenüber einer anderen, oft ethnisch bestimmten Gruppe für das soziale Scheitern verantwortlich
macht — eine gesellschaftlich fehlgeleitete und gefährliche, doch psychologisch erklärbare Gegenreaktion auf die Zerstörung von Gemeinschaft durch den Neoliberalismus.
Das Aufblühen des Rechtspopulismus ist also — wie vielfach in der
Fachliteratur aufgezeigt wurde — eine direkte und wenig überraschende Folge der vorhergegangenen Jahrzehnte neoliberaler Politik und Ideologie der Alternativlosigkeit und der damit verbundenen
Entleerung des politischen Raumes und der Zerstörung kollektiver Identitäten. Es ist also heuchlerisch, wenn nun die Parteien der neoliberalen Phantom-„Mitte“ zum Kampf gegen den Rechtspopulismus
aufrufen, für dessen Aufblühen sie selbst verantwortlich sind.
Denn damit bieten sich die Täter den Opfern als Retter
an. Tatsächlich jedoch nutzt die neoliberale Phantom-„Mitte“ den Rechtspopulismus für eine weitere systematische Angsterzeugung, um sich durch eine solche Bedrohungskulisse bei Wahlen zu
stabilisieren. Da ihr dies immer schwerer fällt, bedient sich die Politik zunehmend autoritärer Maßnahmen, für die sie sich bereits präventiv rechtliche Legitimationen
verschafft.
Kurz: Die Dinge stehen nicht gut für die Demokratie.
Damit wird die Frage immer drängender: Was tun?
Die bequemste und daher beliebteste Option ist, ein paar
Dinge, die uns stören, zu ändern und ansonsten im Großen und Ganzen so weiterzumachen wie bisher. Konkret bedeutet dies, auf eine Demokratisierung der Gesellschaft zu verzichten und immer wieder die
Parteien zu wählen, die für die gegenwärtige Situation verantwortlich sind. Wer sich für eine solche Option entscheiden möchte, könnte zu seiner Rechtfertigung vielleicht darauf verweisen, dass die
Dinge ja eigentlich gar nicht so schlecht stehen.
Denn zweifellos leben wir an bevorzugten Orten und in
Zeiten, deren zivilisatorische Qualitäten weit herausragen in einer langen und gewaltreichen Zivilisationsgeschichte. Wir leben an einem Ort, an dem es seit mehr als 70 Jahren weder Krieg noch
Hungersnot gibt und der den meisten einen Lebensstandard ermöglicht, der sehr viel höher ist als der ihrer Eltern und Großeltern. Das kapitalistische Wirtschaftssystem hat breite
Bevölkerungsschichten von Hunger und Elend befreit. Eigentlich gibt es also Grund genug, mit der Entwicklung unserer Gesellschaft und mit dem, was wir erreicht haben, zufrieden zu sein, denn wir
können uns zu den Gewinnern und Nutznießern der gegenwärtigen Weltordnung zählen.
Nun waren zu allen Zeiten die Nutznießer der
gesellschaftlichen Ordnung mit ihrer Situation überwiegend zufrieden — auch zu Zeiten des Kolonialismus und der Sklaverei. Heute jedoch müsste sich unser Bild von der Welt grundlegend ändern, wenn
wir den Blick weiteten und aus der Perspektive eines anderen geografischen oder sozialen Ortes, oft nur ein paar Straßenzüge oder aber einen Kontinent entfernt, oder aus einer anderen Zeit, nur
wenige Jahre oder eine Generation entfernt, auf die Gesellschaft blickten. Wir müssten dann zugestehen, dass die mehr als 40 Millionen Menschen, die gegenwärtig Opfer moderner Formen der Sklaverei
sind — etwa in Textilfabriken in Südostasien, auf Baumwoll- oder Kakaoplantagen, 300.000 Kinder allein auf Kakaofarmen der Elfenbeinküste; Zehntausende Kinder im Kongo, die mit bloßen Händen in engen
Erdlöchern, bis zu 50 Metern tief, Coltan für unsere Handys schürfen —, dass sich all diese Menschen in einer weniger glücklichen Lage befinden und dass ihre Lage und die unsere irgendwie
zusammenhängen.
Gleiches gilt für die im Jemen von deutschen Waffen
getöteten Zivilisten oder für die afrikanischen Fischer, denen — zu unserem Nutzen — die EU-Politik ihre Lebens- und Arbeitsgrundlage entzieht. Diese Liste der Verlierer und Opfer unserer Lebensform
ist so lang, dass irgendwann auch bei dem hartnäckigsten Verteidiger der gegenwärtigen Weltgewaltordnung die Erkenntnis aufkeimen sollte, dass sich die menschenunwürdigen Lebensbedingungen der
anderen nicht einfach dadurch rechtfertigen lassen, dass diese nun einmal auf der falschen Seite der Geschichte stünden.
Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Warum sind
wir so blind für die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Weltgewaltordnung?
Das Erfolgsrezept des Kapitalismus ist seit je, dass er uns zu einem
Teufelspakt verführen will. Er verspricht uns immerwährenden Fortschritt und eine kontinuierliche Verbesserung unseres Lebensstandards und sorgt zugleich dafür, dass wir unfähig sind, den dafür zu
entrichtenden Preis überhaupt erkennen zu können.
Die Funktionslogik des Kapitalismus beruht auf einer zur
Kapitalverwertung gehörenden radikalen Externalisierungslogik — zu der auch die gesamte staatliche Bereitstellung von Rahmenbedingungen wie Infrastruktur, Schulen, Gesundheits- und Sozialwesen gehört
— und damit auf Substanzverzehr und Schädigung von Gemeingütern. Die Plünderung von Ressourcen und die Zerstörung unserer sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen ist also kein vermeidbares
Nebenprodukt des Kapitalismus, sondern gerade Kern seiner Funktionslogik.
Die für uns bequemste Handlungsoption — nur ein paar
Dinge, die uns stören, zu ändern und ansonsten im Großen und Ganzen so weiterzumachen wie bisher — muss geradezu zwangsläufig ins Verderben führen. Auch die Hoffnung, die Probleme, vor denen wir
stehen, gleichsam im Dialog mit den Zentren der Macht zu bewältigen, muss als illusionär angesehen werden. Das zeigt bereits die Geschichte, denn alle großen emanzipatorischen Fortschritte wurden
nicht im Dialog mit den ökonomisch Mächtigen erreicht — sie wurden den Mächtigen durch lange, mühevolle und oft verlustreiche soziale Kämpfe abgetrotzt. Warum auch sollten die Mächtigen in einer
Situation überwältigender Macht in einem ernsthaften Umfang Macht an die Machtunterworfenen abtreten? Ein Dialog ist nur erfolgversprechend, wenn die Machtunterschiede nicht zu groß sind.
Emanzipatorischer Fortschritt in Richtung einer Gesellschaft von Freien und Gleichen muss also stets erkämpft werden.
Diese Grundeinsicht in die Natur von Machtbeziehungen
wurde schon in der Antike klar formuliert. Vor zweieinhalbtausend Jahren hat sie der griechische Dichter Aesop in die Form einer Fabel gefasst, also einer kurzen und schlichten Erzählung, die uns in
belehrender Absicht den Witz einer Sache vermitteln soll. In dieser Fabel taucht auch das uns schon vertraute Lamm wieder auf: Es ist die Fabel vom Wolf und dem Lamm. Sie offenbart in wenigen Sätzen
eine tiefe Grundwahrheit gesellschaftlicher Beziehungen. Daher wurde sie, vor allem in der Aufklärung, immer wieder aufgegriffen. Hier ist sie:
Zu demselben Fluss waren Wolf und Lamm gekommen; der
Wolf stand weiter oben und viel weiter unten das Lamm. Dann von gewaltigem Hunger angetrieben, suchte das Raubtier einen Grund für Streit. „Warum trübst du mir das Wasser, sodass ich nicht trinken
kann?“ Das Lamm antwortete: „Wie kann ich dir das Wasser trüben? Du trinkst doch weiter oben.“ Da der Wolf dies nicht bestreiten konnte, antwortete er: „Vor sechs Monaten hast du mich beschimpft.“
Das Lamm entgegnete: „Da war ich noch gar nicht geboren.“ Da antwortete der Wolf: „Welche Entschuldigungen du auch hast, soll ich dich deshalb nicht auffressen?“ Und er packte das Lamm und
zerfleischte es.
Die Fabel zeige, so der Dichter, dass bei denen, die
fest vorhaben, andere zu unterdrücken und zu schädigen, Argumente nicht zählen und letztlich das Recht des Stärkeren gelte.
In unserem Kontext möchte ich die Fabel noch einmal in
moderner, weniger allegorischer Form erzählen, wobei Wolf und Lamm wohl keiner Übersetzung bedürfen: Beide begegnen sich an einem Fluss, also an etwas, das zum Gemeineigentum gehört. Der Wolf, der
den Fluss als sein Eigentum betrachtet, behauptet, das Lamm stünde auf der falschen Seite der Geschichte und damit seinem Appetit entgegen. Das Lamm weist diesen Vorwurf stichhaltig zurück. Daher
lässt sich der Angreifer einen zweiten Vorwand einfallen und bezichtigt das Lamm der üblen Nachrede über den Aggressor. Auch dies kann das Lamm zurückweisen. Nun macht der Wolf, ohne sich um einen
weiteren Vorwand zu bemühen, klar, dass es nun einmal schlicht in seiner Natur liege, andere zu schädigen und zu fressen. -
Als Moral von der Geschichte folgt, dass selbst ein
rücksichtsloser Aggressor nach Vorwänden sucht, um seine Aggressionen zu rechtfertigen — heute ist dafür ja der Kampf für „Demokratie und Menschenrechte“ sehr beliebt —, dass er letztlich jedoch
schlicht das Recht des Stärkeren für sich in Anspruch nimmt. Womit schon vor zweieinhalb Jahrtausenden das Prinzip der Realpolitik, die heute die Weltgewaltordnung bestimmt, allegorisch prägnant
formuliert wurde. Und damit natürlich auch die zivilisatorische Aufgabe, die wir zu bewältigen haben, wenn wir nicht in einer Weltgewaltordnung leben wollen.
Wenn wir also illegitime Macht einhegen wollen, so kann
dies nicht in einem Dialog mit den Mächtigen gelingen. Wir benötigen dazu andere zivilisatorische Mittel, die wir uns erst kollektiv in entschlossenen sozialen Kämpfen schaffen
müssen.
Damit bleiben uns nur zwei
Möglichkeiten:
Entweder wir nehmen den Kampf auf — denn die Nutznießer
einer Machtordnung haben keinen Grund, diese zu ändern — und kämpfen solidarisch in einer demokratischen Selbstermächtigung für eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft. Hierfür — und für
eine Delegitimierung nicht-demokratischer Machtstrukturen — kann es natürlich keine allgemeinen Rezepte geben, nur Lehren aus der Vergangenheit. Doch für eine demokratische Selbstermächtigung haben
wir viele Wege, viele Möglichkeiten und viele Anlässe, wie gegenwärtig auch die Klimabewegungen zeigen.
Oder wir finden uns mit den gegebenen Machtverhältnissen
ab, machen weiter wie bisher, schweigen und überlassen es den nachfolgenden Generationen, die die Folgen unseres Schweigens zu tragen haben, über die Gründe unseres Nichthandelns und über die Gründe
unseres Schweigens nachzudenken.
Die Entscheidung liegt bei
uns.
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Samstag, 09. November 2019, 15:58 Uhr
~19 Minuten Lesezeit
Die gekaufte Revolution
Aus Ruinen der DDR hätte etwas ganz Neues auferstehen können — stattdessen siegte
das alte BRD-System auf ganzer Linie. Exklusivabdruck aus „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“.
Die Geschichte des Endes der DDR, wie wir es aus Jubiläumsveranstaltungen und TV-Mehrteilern kennen,
ist das Ergebnis lupenreiner Sieger-Geschichtsschreibung. Mythen und Legenden haben sich über die Jahrzehnte verfestigt. Etwa jene, die DDR-Bevölkerung habe sich „schon immer“ leidenschaftlich nach
einem bedingungslosen Anschluss an die Bundesrepublik gesehnt. In Wahrheit wäre in den Wochen und Monaten der Wende sehr viel möglich gewesen — auch ein „Dritter Weg“, ein demokratischer Sozialismus
mit rundumerneuerter Demokratie innerhalb der alten Grenzen der DDR. Die Geschichte der Wiedervereinigung ist die eigentlich traurige Geschichte sich immer weiter verengender Handlungsoptionen,
verratener Träume und erstickter Aufbruchsimpulse. Was mit der Sehnsucht nach einem besseren Sozialismus begonnen hatte, mündete in devoten „Helmut“-Rufen und dem Ausverkauf der eroberten
Teilrepublik an den kapitalistischen Westen.
Die Umstände der Einheit sind Schnee von
gestern. Mit Folgen bis heute. Um die damaligen Abläufe haben sich vereinfachende Legenden gebildet, die das Verständnis nach wie vor belasten. Es herrscht ein konservatives Narrativ vor, wonach es
für den gegangenen Weg keine Alternativen gab. Dieses einst von Margaret Thatcher geprägte Tina-Prinzip gehört zu den Glaubensbekenntnissen, die den Anforderungen an eine moderne, lebenswerte Welt am
wenigsten gerecht werden. Schon weil wir weiterhin ständig an Scheidewegen stehen, sollte aus Gründen des nachholenden Dazulernens daran erinnert werden, welche Weichen damals falsch gestellt
wurden.
Verfestigt hat sich ein wohl beabsichtigtes Bild, wonach
gleich nach dem sogenannten Mauerfall die Massen zu schneller Einheit drängten, verbunden mit dem Wunsch nach bedingungsloser Übernahme der westlichen Ordnung. Derart seien die bedachtsam zögernden
Bonner Politiker nur so zur Tempoeinheit getrieben worden. Doch schon zwei Tage nach Maueröffnung gab Kanzler Kohl vor der Bundespressekonferenz die Marschrichtung vor: „Ich habe keinen Zweifel
daran, dass die Deutschen die Einheit ihrer Nation wollen.“ Obwohl Ende November 1989 die meisten DDR-Bürger die Erfahrung hinter sich hatten, wie es ist, mit Begrüßungsgeld durch westliche
Konsumtempel zu schreiten, entschieden sich 86 Prozent für „den Weg eines besseren, reformierten Sozialismus“, nur fünf Prozent wollten einen „kapitalistischen Weg“, neun Prozent einen „anderen Weg“
(1).
Rückblickend ist es eher erstaunlich, dass
die Menschen der Minderheit von Oppositionellen, Theologen und Bürgerrechtlern mit ihren Angeboten einer grundlegenden Erneuerung für eine kurze Zeit die Regie überließen. Als der damalige
Vorsitzende der Ost-CDU Lothar de Maizière zehn Tage nach Öffnung der Mauer der Bild am Sonntag ein Interview gab, konnte er
sich sicher sein, mit seiner Meinung nicht allein zu stehen:
„Ich halte Sozialismus für eine der schönsten Visionen des menschlichen Denkens. (…) Wenn Sie glauben, dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung
des Sozialismus beinhaltet, dann müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind.“
Die Einheit sei nicht „Thema der Stunde“, sondern
beträfe „Überlegungen, die vielleicht unsere Kinder und Enkel anstellen können“. Was weder de Maizière noch sonst jemand im Osten wusste: Drei Tage nach diesen Überlegungen legte das
Direktoriumsmitglied der Bundesbank, Claus Köhler, auf einer internen Sitzung des Zentralbankrates ein Konzept für eine Währungsunion vor. Noch gab es Bedenken. Aber der keine Kosten scheuende Plan
zum Aufkauf der Revolution war geboren.
Auf Seiten der als Revolutionäre Bezeichneten war die
Zuversicht, endlich mitgestalten zu können, noch ungebrochen. Dass es wichtig war, den taumelnden Verhältnissen durch neue Gesetze Stabilität zu geben, war klar. Ich saß zu dieser Zeit in zwei
Arbeitsgruppen, eine vom Schriftstellerverband, die ein neues Pressegesetz mit innerredaktioneller Mitbestimmung entwarf. Und eine von der ersten unabhängigen Untersuchungskommission der DDR, die
sich nach den gewaltsamen Vorkommnissen im Oktober um ein bürgernahes Polizeigesetz kümmerte, wie es auch heute noch ein Fortschritt wäre.
Im Osten hoffte man noch, so könne Demokratie
funktionieren. Wir gingen unverzüglich dazu über, den Augiasstall selbst auszumisten. Und ahnten nicht, dass finanzstarke Kräfte am Werk waren, die den Stall so schnell wie möglich mit allem Unrat
kaufen wollten. Weil der Mist den Preis senkt und überdies bestens geeignet ist, ihn uns ein Leben lang vor die Nase zu halten. In seiner „Rede an die Deutschen in der DDR“ warnte der langjährige
Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus:
„Während sonst Leute, die Geld haben, die Orte von Revolutionen fliehen, kann man hier, etwa im Palasthotel, wo ich wohne, die westlichen Gesichter studieren — die Aufkäufer sind
da!“
Der Runde Tisch hatte Neuwahlen zur Volkskammer
beschlossen und zugleich verlangt, dass sich die Westpolitiker aus dem Wahlkampf heraushalten mögen. Ich konnte im „Demokratischen Aufbruch“ beobachten, wie sich die Westler, wohlmeinend oder nicht,
keinen Tag an diese Forderung hielten. Unsere improvisierten Büros wurden mit Spenden und Computern versorgt, die Westmedien boten rund um die Uhr Raum für Interviews und Berichte, Berater wichen uns
nicht mehr von der Seite, und bei größeren Zusammenkünften gastierten und redeten huldvoll Spitzenpolitiker aus Bonn.
Die Dosis an besorgniserregenden Fakten zum
finanziellen, moralischen und ökologischen Zustand der DDR, die die Medien verbreiteten, erhöhte sich von Stunde zu Stunde. Bankrottgerüchte waren aus politischen Gründen oft heftig überzogen, wie
die Deutsche Bank später feststellte. Dazu gehörte auch der sagenumwobene Schürer-Bericht, der die DDR-Auslandsschulden aufgelistet, aber die Guthaben, die weit über die Hälfte davon abdeckten, aus
taktischen Gründen weggelassen hatte. So war es für alle schwer, sich ein fundiertes Bild zu machen. Die Rolle von Fake News und Medien als Stimmungsmacher in diesen Wochen ist noch nicht
untersucht.
Bei einem Besuch am 20. November in Berlin
knüpfte Kanzleramtsminister Seiters Bedingungen an eine mögliche Finanzhilfe der Bundesrepublik, die darauf hinauslief: erst Abschaffung des Sozialismus, dann Geld. Drei Tage später schrieb Klaus
Hartung in der taz:
„Solch eine Politik zerstört jenen zeitlichen Spielraum, den die Massen von Leipzig und die vielen oppositionellen Gruppen in allen Lagern unbedingt brauchen, um überhaupt das
praktizieren zu können, was Selbstbestimmung heißt.“
Unheilbares Deutschland
Viele Wissenschaftler, Theologen, Juristen und Künstler
aus dem Westen hatten seit Ende 1989 gewarnt. „Für Euer Land, für unser Land“, hieß am 2. Dezember eine Erklärung von drei Dutzend Autoritäten, deren Stimme inzwischen spürbar fehlt. Inge
Aicher-Scholl, Heinrich Albertz, Annemarie Böll, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich, Ossip K. Flechtheim, Luise Rinser, Dorothee Sölle und andere
schrieben:
„Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise. In dieser Situation werden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt. Bundeskanzler Kohl hat mit seinem
,Zehn-Punkte-Plan‘ die ,Wiedervereinigung‘ zu westdeutschen Bedingungen zum Programm erhoben. (…) Damit würde nicht nur Euer Versuch, einen Weg sozialistischer Demokratie aus der Krise Eurer
Gesellschaft zu finden, verschüttet. Auch das reformerische Bemühen der sozialen Bewegungen in unserm Lande würde einen schweren Rückschlag erleiden.“
Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe
Robert Jungk, flehte geradezu:
„Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen
unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.“
Inzwischen sind diese Krisen unsere ständigen Begleiter. Vom Keller bis
unters Dach. Was anfangs den Euphemismus „Revolution“ verdiente, war der ansatzweise Wandel zu einer Demokratie, die den Bürgern mehr Möglichkeiten des Mitdenkens und Mitentwerfens bot als jede
andere bisher praktizierte Regierungsform.
„Das könnte ein Modell für die Welt werden“,
schwärmte Jungk. 30 Jahre nach dem Niedergang des Realsozialismus steht die Welt ohne jedes durchsetzungsfähige Modell da. Aber welches Land hört schon auf seine Intellektuellen. Von ihnen
veröffentlichte im Dezember 89 die Frankfurter Rundschau die „Erklärung der Hundert: Wider Vereinigung“. Es werde unverhohlen
ein Export der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik nach Osten angepeilt. Diese Großmannspolitik werde „die Wiedervereinigung in einem Scherbenhaufen enden lassen und
den Aufbau des Europäischen Hauses gefährden“. Ein Scherbenhaufen als Humus für die AfD.
Auch die Vorhersage, dass Europa durch deutsche
Großmannspolitik bedroht werde, war weitsichtig und zeigt zugleich: Man konnte das alles absehen. Die eingetretenen Entwicklungen hatten nichts mit einer vom Himmel gefallenen Globalisierung zu tun.
Der neoliberale Raubmensch-Kapitalismus war nur insofern ein Naturereignis, als nicht zu bestreiten ist, dass auch Aasgeier natürliche Wesen sind.
Kohls Ausschüttung des eiligen Geistes hatte auch die Leipziger
Montagsdemonstranten in rivalisierende Gruppen polarisiert.
Gegen Tausende Träger schwarz-rot-goldener Fahnen — wo
immer die herkamen — rückte ein großer Trupp Studenten an mit Losungen wie: „Reinigen statt einigen“, „Kommt die DM zu früh, kommt die Vernunft zu spät“. Die meist etwas Älteren mit den Fahnen
skandierten daraufhin: „Rote aus der Demo raus!“ Die Jungen wehrten sich mit: „Nazis raus!“ Es kam zu Tumulten. Plötzlich regnete es vom Himmel 100-DM-Scheine. Mit dem umseitigen Aufdruck: Schon
eingekauft? Für einen Moment verschlug es beiden Seiten die Sprache. Wird die Demo als Erstes gekauft? Wer bei ARD und ZDF in der ersten Reihe saß, bekam künftig fast nur noch die nationale Flagge zu
sehen und Demonstranten, die eine schnelle Einheit forderten, als das nachweislich noch nicht Mehrheitsmeinung war.
Am heftigsten wurde die DDR in dieser Zeit dadurch
destabilisiert, dass täglich etwa 2.000 Menschen durch die offene Mauer das Land verließen. Der sowjetische Botschafter Kwizinskij sprach am 5. Dezember im Bundeskanzleramt vor. Die sowjetische
Führung sei besorgt, dass die westlichen Massenmedien die Menschen in der DDR zur illegalen Ausreise aufstacheln.
Die Bundesregierung kam in dieser den Lebensnerv
treffenden Frage dem Modrow-Kabinett keinen Millimeter entgegen. Euphorische Empfänge in den Aufnahmestellen, Begrüßungsgeld und bevorzugte Hilfe bei der Suche nach Wohnung und Arbeit waren
garantiert und wurden öffentlichkeitswirksam propagiert. „Wir sind uns darüber im Klaren“, notierte Kohl-Berater Horst Teltschik in sein Tagebuch, dass erst „nach der Wahl Übersiedler so behandelt
werden müssen wie Bundesbürger, die ihren Wohnort wechseln“ (2). Kohl frohlockte im In- und Ausland, dass die DDR „die Lage nicht im Griff“ habe. Und auf dem Ku’damm demonstrierten 20.000
Westberliner unter dem Motto: Unheilbares Deutschland.
Wahlbeeinflussung und endgültiger Bruch mit dem Sozialismus
Bei seinem ersten großen Wahlkampfauftritt in Erfurt
verkündete der führende Historiker unter tosendem Beifall ein achtes Weltwunder. Nach den Hängenden Gärten zu Babylon nun die Blühenden Landschaften in Kohlrabien. Auf der Montagsdemo in Leipzig
wurde indessen ein Bürgerrechtler, der vor drohender Arbeitslosigkeit warnte, von Aufhören-Rufen unterbrochen. Eine Sprecherin, die Wuchermieten prophezeite, falls westdeutsche Eigentümer
zurückkehren, wurde ausgebuht. Verteilt wurden massenhaft Flugblätter der bundesdeutschen Parteien. Diese haben für den vom Runden Tisch unerwünschten Wahlkampf in der DDR 7,5 Millionen DM
ausgegeben, wie erst später bekannt wurde. Der Löwenanteil ging von der CDU an die neue Ostschwester und von der CSU an die rechtskonservative DSU.
Hatte sich der „Demokratische Aufbruch“ (DA) in seiner
Anfangsphase noch gegen die Unterstellung verwahrt, „die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen“, so hat er im Laufe des Herbstes einen Rechtsruck vollzogen und es dem
machtbewussten Kohl leicht gemacht, den zwielichtigen Vorsitzenden des DA, Wolfgang Schnur, für die „Allianz für Deutschland“ zu vereinnahmen. Bei dem im kleinsten Kreis von Kohl-Vertrauten in
Westberlin gegründeten Wahlbündnis dieser drei ging es wohlgemerkt um Volkskammerwahlen der DDR – kann man sich mehr Wahlbeeinflussung vorstellen? Doch, kann man. Und daran zu erinnern ist nicht der
Schnee von gestern, sondern betrifft das bis heute im Osten anhaltende Dilemma.
Die Stärke jener Allianz war schwer zu beurteilen,
Umfragen sagten immer noch einen Erdrutschsieg der SPD voraus. Am 6. Februar traf sich Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl (SPD) mit dem Staatsbankpräsidenten der DDR Kaminsky und der
DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft und stimmte öffentlich deren Haltung zu, nach der eine schnelle Währungsunion eine völlig abwegige Idee sei. Luft hatte zudem klargemacht, dass ein so
einschneidender Eingriff nur über einen Volksentscheid beschlossen werden dürfe. Schon um den Wählern die Tragweite eines solchen auf den ersten Blick verlockenden Angebotes bewusst zu
machen.
Ohne Rücksicht auf die DDR-Regierung und den eigenen,
damit desavouierten Bundesbankpräsidenten bot Kanzler Kohl am selben Tag eine baldige Währungsunion mit einem Umtauschverhältnis von 1:1 an. Der wie alle völlig überraschte SPD-Vorsitzende
Hans-Jochen Vogel sprach sich aus guten Gründen dagegen aus. Die sowieso erregten DDR-Bürger waren nun elektrisiert.
Drei Tage später setzte Kohls engster Berater Horst
Teltschik im Bundespresseamt noch einen drauf. Er sagte den nahen wirtschaftlichen Kollaps der DDR voraus, es zeichne sich ab, dass sie in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sei und erhebliche
Stabilitätshilfen benötige. Am selben Tag distanzierte sich der sachkundige Präsident des Bundesverbandes Deutscher Banken und Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Wolfgang Röller, auf einer eiligst
einberufenen Pressekonferenz von dieser Behauptung und sprach von „durchsichtigen Bankrottgerüchten“. Doch dieses Dementi fand in den Medien kaum Beachtung, die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit war
Aufmacher jeder Zeitung.
Teltschik erklärt seinem Tagebuch: „Wir hatten
angesichts der wirtschaftlichen Situation in der DDR sowie der ständig steigenden Übersiedlerzahlen seit Tagen über einen solchen Schritt diskutiert“ (mit wem wohl, wenn nicht mal mit dem
Bundesbankpräsidenten? D. D.). „Unsere Überlegung war: Wenn wir nicht wollen, dass sie zur D-Mark kommen, muss die D-Mark zu den Menschen gehen“ (3).
Diese Formulierung vom 6. Februar ist bemerkenswert.
Heißt es doch bis heute, die Straße habe nach dem Geld geschrien, sodass die Politiker nicht anders konnten, als es rauszurücken. Es ist aber erwiesen, dass die Losung „Kommt die D-Mark nicht nach
hier — gehen wir zu ihr!“ erstmalig am 12. Februar auf der Montagsdemo in Leipzig auftauchte. Also mindestens sechs Tage, nachdem die Idee im Kreis der Kohlvertrauten ersonnen, auf unergründlichen
Wegen in Leipzig die Massen ergriff und zur materiellen Gewalt wurde. Nun war klar, wozwischen die DDR-Bürger in einigen Tagen die Wahl haben würden: die D-Mark 1:1 oder Kollaps. Zumal der Begriff
„Zahlungsunfähigkeit“ ein völliges Novum war und große Irritation auslöste.
In Gesprächen auf der Straße oder in der Sparkasse
fragten sich die Menschen, ob denn die Auszahlung der Löhne und Spareinlagen noch gesichert sei. In den darauffolgenden Tagen kam es zu einer fast flächendeckenden Abkehr von allerdings längst
brüchig gewordenen Überzeugungen. Der einzige programmatische Unterschied der Ost-CDU zur großen Schwesterpartei blieb vorerst die kompromisslose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Ansonsten vollzog
Lothar de Maizière, nur drei Wochen nachdem er dies noch den Kindern und Enkeln überlassen wollte, den endgültigen Bruch mit dem Sozialismus.
Die SPD mit ihrer völlig berechtigten zögerlichen
Haltung zu übereilter Einheit stürzte in der Volkskammerwahl vom 18. März ab — von noch unlängst prognostizierten 54 Prozent auf 21,9 Prozent. Sie hat sich davon jahrelang nicht erholt. Der
Riesenvorsprung der CDU erklärte sich aus deren Erlösungsversprechen. Die Leute glaubten, das Kapital zu wählen und wählten die Kapitulation.
Nebenbemerkung: Treffen mit Karl Otto Pöhl
In einem vierstündigen Gespräch, dessen Niederschrift er
später autorisierte, erklärte mir drei Jahre später der inzwischen bei der Privatbank Saal-Oppenheim arbeitende Karl Otto Pöhl, warum die Währungsunion eine Katastrophe war: „Würde man über Nacht in
der Bundesrepublik den viel stärkeren Dollar einführen, wäre die deutsche Wirtschaft sofort ruiniert. Oder wenn Österreich die D-Mark übernehmen würde — der Schilling stand 1:7 —, wäre es sofort
völlig pleite. Ich habe allein die Idee für phantastisch gehalten.“
Pöhl war immer noch die Verbitterung anzumerken. Ohne
ihm, dem Präsidenten der Bundesbank, beim persönlichen Gespräch am Tag zuvor auch nur eine Andeutung zu machen, hätten Kohl, sein CSU-Finanzminister Waigel und der FDP-Vorsitzende Graf Lambsdorff aus
dem hohlen Bauch und unter Umgehung des Parlaments die unverzügliche Währungsunion angeboten. Er mache sich schwere Vorwürfe, dass er nicht sofort demonstrativ zurückgetreten
sei.
In der Schicksalsstunde der Nation glaubte er loyal sein
zu müssen, habe ihr damit aber nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch geschadet. Denn „es war doch absehbar, dass man nach Angleichung der Preise auch die Löhne angleichen muss und damit jeder
Standortvorteil entfallen würde, dass das Ganze nur zu einem Zig-Milliarden-Beschäftigungsprogramm für die Westwirtschaft würde und im Osten Millionen Arbeitsplätze vernichtet werden.“ Auf meine
Frage, wie man eigentlich den Bankrott einer Wirtschaft messe, meinte Pöhl:
„Die DDR war ja nicht extrem verschuldet, uns haben die Auslandsschulden nie beunruhigt. Und die Innenschulden waren vollkommen belanglos, die spielten überhaupt keine Rolle,
waren eine rein buchhalterische Betrachtungsweise“(4).
Beide Seiten hatten an der Nahtstelle konkurrierender Ideologien über
ihre Verhältnisse gelebt. Gemessen an der Verschuldung pro Kopf, seien die Westdeutschen sogar drei Mal so verschuldet in die Einheit gegangen. Von Zahlungsunfähigkeit zu sprechen, sei eine
Unverschämtheit gewesen. Die DDR sei nicht wegen ihrer Schulden gekippt, sondern weil das System moralisch diskreditiert war und Gorbatschow die Hand weggezogen
habe.
Zweifellos. Und weil der Westen seine vereinnahmende
Hand sofort ausgestreckt hat. Eine Mischung aus angestautem Frust über die diktatorischen Machenschaften der DDR, aus neuen Gerüchten und Desinformationen hatte bewirkt, dass die Leute die Faxen
satthatten. Sie ließen Hammer und Sichel fallen, die Gärten sollten nun andere zum Blühen bringen.
Wandel durch Restauration — das war letztlich
selbstzerstörerisch. Die schon nicht mehr ganz so neuen Länder können ihren Bedarf immer noch längst nicht selbst erwirtschaften, woran sich aufgrund der vollzogenen Deindustrialisierung in den
nächsten Jahrzehnten auch nichts ändern wird. Die Treuhand hat eine Gegend zurückgelassen, die aus eigener Kraft weniger lebensfähig ist als zuvor, wenn auch auf deutlich höherem Niveau. Auf die
Alimentierung durch Sozialleistungen gibt es einen gesetzlichen Anspruch, am Osten sparen geht nicht. Die alt aussehenden Länder sitzen in der Transfer-Falle.
Schon 2004 wollte laut Forsa jeder vierte Westdeutsche
die Mauer wiederhaben, unter den Ostdeutschen waren es nur halb so viele, sie sehen sich mehrheitlich als Gewinner. Der Sieger muss zahlen, und sein Wertesystem bröckelt. Nach 30 Jahren ist die
Erinnerung an Vorgänge, die damals die Gemüter auf beiden Seiten erregten, verblasst. Die Jüngeren haben vermutlich nie davon gehört, wie von so vielem anderen auch nicht. So sei hier nur im
Zeitraffer an die wohl größte Kriminalgeschichte auf dem ungepflasterten Weg zur Einheit erinnert: an die Veruntreuungen der Treuhand.
Da die Gefahr kommender Raubzüge absehbar war — privare
heißt rauben—, beschloss der DDR-Ministerrat der Regierung Modrow die Gründung einer „Anstalt zur Treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“. Die Bewahrung des Volkseigentums war oberstes Gebot,
die Art von sozialistischer Marktwirtschaft, in der es sich bewähren sollte, blieb in der Eile vage. Diese Anstalt sollte der Volkskammer unterstehen, Eingriffe in die Geschäftsführung der Betriebe
waren nicht erlaubt. Doch am 18. März 1990 haben sich die Wähler mit großer Mehrheit für die blühenden Gärten in Kohlrabien entschieden. Die Fachleute aus der DDR, auch die DDR-Bürgerbewegung, waren
damit abserviert. Sofort strömten Tausende westliche Wunderheiler als bestellte oder selbsternannte Berater ins Land. Unter deren heftiger Mitwirkung trat am 1. Juli 1990 der Vertrag über die
Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft.
Nun bekamen die Ostdeutschen die ersehnte DM, aber die zentralen
Verpflichtungen des Vertrages wurden nie erfüllt. Statt die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Unternehmen, wie darin zugesagt, zu stärken, brachen 80 Prozent der DDR-Industrie
zusammen.
Statt den Bürgern „nach Möglichkeit“ ein „verbrieftes
Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen“ einzuräumen, gab es nur ein Anteilsrecht an Schulden und nochmals Schulden. Statt „zu einem hohen Beschäftigungsstand“ führte die überstürzte Währungsunion zum
Abbau von vier Millionen Arbeitsplätzen, während zur selben Zeit in Westdeutschland zwei Millionen neue geschaffen wurden.
Statt zu „außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei
stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum“ brach die Außenwirtschaft bei stetigem Wirtschaftsschwund zusammen. Statt dass die Verträge mit den osteuropäischen Ländern des Rates für Gegenseitige
Wirtschaftshilfe wie vereinbart „Vertrauensschutz“ genossen und sogar ausgebaut werden sollten, sanken die Handelsumsätze ostdeutscher Betriebe mit den sogenannten Bruderländern von jährlich 50
Milliarden auf fünf Milliarden. Nach kurzer Zeit hatten westdeutsche Unternehmen den einstigen DDR-Export in diese Länder in vollem Umfang übernommen, hier klappte der Ausbau sehr lukrativ. Die
osteuropäischen Märkte waren nicht weggebrochen, wie immer behauptet wird, sondern weggenommen.
Gleichzeitig mit diesem Bankrott-Vertrag für den Osten
erließ die Volkskammer unter CDU-Ministerpräsident Lothar de Maizière ein neues Gesetz zur Treuhand. Diese unterstand nun nicht mehr dem Parlament, sondern der Regierung, Eingriffe in die
Geschäftsführung der 8.500 Betriebe waren weitgehend erlaubt, und das Ziel wurde auf den Kopf gestellt: Privatisierung des Volkseigentums. Dabei sollte nach Möglichkeit angestrebt werden, die
enteigneten Bürger mit Anteilsscheinen zu entschädigen. Es war immerhin noch eine DDR-Regierung, die ein Bewusstsein dafür hatte, dass dieses Eigentum denen zustehen sollte, die es erarbeitet hatten.
So kam die gute Absicht, beschmunzelt von den Wunderheilern, in den Einigungsvertrag.
Nach dem Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990
wurde die Treuhand sofort dem Bundesfinanzministerium unterstellt. Ein Leitungsausschuss aus 100 westdeutschen Experten — wo immer diese plötzlich herkamen — begann umgehend, etwa 2.000 Betriebe im
Jahr abzuwickeln. Wie seriös die meist nur nach Aktenlage vorgenommene, betriebswirtschaftliche Prüfung ausfiel, mag erahnen, wer verstehen will, weshalb die leitenden Mitarbeiter der Treuhand von
CSU-Finanzminister Waigel eine Freistellung vom Straftatbestand der „groben Fahrlässigkeit“ bekamen. Grob fahrlässig in staatlichem Auftrag — das war das eigentliche Programm der untreuen Hand.
Ostdeutsche Interessen waren nur dazu gut, sie zu missachten. Der Einigungsvertrag wurde gebrochen, wo immer es ging. Oft genug wurden Betriebe dichtgemacht, die vollkommen intakt waren, aber als
ökonomische oder kulturelle Konkurrenten störten.
Wie etwa die Untreuhänder den Auftrag des
Einigungsvertrages verstanden, die „kulturelle Substanz Ostdeutschlands“ zu erhalten, beschrieb der Gründer des nach der Wende entstandenen Linksverlages, Christoph Links, in seiner Dissertation (5).
Die ostdeutschen Verlage „wurden nicht ausgeschrieben, sondern ohne Konsultation der Betroffenen nach unüberprüfbaren Kriterien ,diskret‘ vergeben. Als zentrales Problem erwies sich dabei der
vorrangige Verkauf an ihre direkten Konkurrenten im Westen des Landes. (…) Viele Verlage wurden für die symbolische eine Mark abgegeben“, unter Auflagen, die weder kontrolliert noch eingehalten
wurden.
„Zu Beginn lag die Zuständigkeit für sämtliche DDR-Verlage bei einem einzigen Mitarbeiter, einem Bauingenieur. Ihm wurden — nach Protesten aus der Kulturwelt — zwei
Teilzeitarbeiter für ein Jahr zur Seite gestellt.“
Deutlicher konnte das Mutterland seine Verachtung der
Kultur der beigetretenen, vaterlandslos gewordenen Gesellen nicht demonstrieren. Das Ergebnis war das erwünschte: Von den einstigen 78 DDR-Verlagen existieren heute noch 12. Von 6.100 Arbeitsplätzen
gingen 5.500 verloren. Da sind die heimatlos gewordenen Autoren nicht mitgezählt.
„Selbst mit den neugegründeten Verlagen zusammen werden in den ostdeutschen Bundesländern heute nur noch 2,2 Prozent der gesamten deutschen Buchproduktion
erzeugt.“
Leipzig, jahrhundertelang die „Nummer eins der deutschen
Buchstädte, rangiert inzwischen auf Platz 16 hinter Göttingen, Saarbrücken und Heidelberg“. Die Erinnerung an DDR-Kultur wurde so Gedanke um Gedanke ausgelöscht.
Innerhalb kürzester Zeit gelangten in derart kolonialer Manier 95
Prozent des Volkseigentums in die Hände westlicher Unternehmer. Dadurch wurden die Ostdeutschen zu der Bevölkerungsgruppe in Europa, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie
lebt.
Ihr Bodenreformland, die Betriebe und Großkombinate
wurden unter Konditionen privatisiert, die sie selbst aus dem Prozess weitgehend ausschlossen. Weder gehörten sie zu dem vernetzten Filz, der jetzt zuschlug, noch hatten sie das nötige Geld, noch die
Kreditwürdigkeit, noch die Vorzugsbedingungen, die Alteigentümern eingeräumt wurden. Egon Bahr kommentierte damals bitter:
„In Ostdeutschland sind feudale, frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen worden, wie sie selbst in Afrika und im Orient vor zwei Generationen überwunden
wurden.“
Es war schon erstaunlich, wie riesig das Kaufinteresse
an als total marode beschriebenen Betrieben war. Natürlich wussten die östlichen Direktoren besser als alle anderen, wie heruntergekommen und veraltet ihre technische Ausrüstung teilweise war, aber
auch, welche Anstrengungen und Devisen bereits erbracht worden waren, um zu modernisieren und auf elektronische Datenverarbeitung umzustellen.
Bald nach der Wende war mir in Bethlehem, im US-Staat
Pennsylvania, ein riesiges, vor sich hin rostendes Stahlwerk aus den 20er Jahren aufgefallen, das bis vor kurzem produziert hatte. Ich machte damals aus naheliegendem Mitgefühl ein Rundfunkfeature
mit entlassenen Arbeitern, deren Familien seit mehreren Generationen mit dem Werk verbunden waren. Dem einzigen größeren Anbieter von Arbeitsplätzen in der Region. Allzu gern hätten sie an den
veralteten Hochöfen weitergearbeitet, schließlich wurde nicht dichtgemacht, weil alles so altmodisch und unproduktiv war, sondern weil die Nachfrage nach Stahl in den USA und weltweit drastisch
zurückgegangen war. Erst da begann ich zu ahnen, dass es wohl nirgends auf der Welt, mit Ausnahme der Bundesrepublik natürlich, eine Wirtschaft gab, die nicht mit zum Teil veralteten Ausrüstungen
produzierte.
Am Anfang der kurzen Rohwedder-Ära wurde der Gesamtwert
des DDR-Volkseigentums noch zwischen 600 Milliarden und 1 Billion DM taxiert. Am Ende der Treuhandtätigkeit war es gelungen, den Wert einer gesamten Volkswirtschaft, mit ihren riesigen, exportstarken
und nicht selten mit Westtechnik ausgerüsteten Kombinaten, mit dem schuldenfreien Grund und Boden und allen volkseigenen Immobilien zu einem Wert von minus 330 Milliarden DM herunterzufälschen. Eine
größere Misswirtschaft hat es nie gegeben. Die Treuhandakten sind bis heute verschlossen.
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Samstag, 09. November 2019, 15:59 Uhr
~19 Minuten Lesezeit
Der Wiedervereinigungs-Mythos
Nur wer die Herrschaftslegenden zur Deutschen Einheit hinterfragt, versteht, warum
es nach wie vor eine Ost-West-Spaltung gibt. Wir veröffentlichen daher unsere Sonderausgabe „30 Jahre Wende“, die vom 9. bis 16. November 2019 erscheint.
Vor 30 Jahren öffnete die DDR-Regierung für alle Bürger die Landesgrenzen gen Westen. Ursache dafür
war der Druck der Straße. Keine elf Monate später war der Staat DDR Geschichte. Die „neuen Bundesländer“ gehörten nun zur BRD. Doch was viele Ostdeutsche zunächst als hoffnungsvollen Schritt hin zu
mehr Wohlstand, Freiheit und Abrüstung verstanden, wuchs sich schnell zu einem veritablen Vereinigungsschock aus. Neue positive Möglichkeiten wurden brachial von Massenarbeitslosigkeit, sozialem
Abstieg und öffentlicher Dauerdemütigung überlagert. Um die Negativfolgen der neoliberalen Schocktherapie für den Osten zu kaschieren, entwickelten Verantwortliche in Politik und Medien
Rechtfertigungsmythen, die sie selbst heute teils kritisch hinterfragen, meist aber trotzig verteidigen. In seinem Themenschwerpunkt „30 Jahre Wende“ beleuchtet der Rubikon eine Woche lang solche
Mythen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und mit wechselnden journalistischen Mitteln. Das ist notwendig, da das, was 1989 im Osten begann, bis heute fortwirkt. Es handelt sich nicht um
Übergangsphänomene, die bald verschwinden. Insofern gilt: Wer die Gegenwart verstehen und Zukunft beeinflussen will, der muss zuerst in die Vergangenheit schauen.
„Niemand wird Dir helfen. Niemand wird kommen und Dir eine Arbeit anbieten. Du musst begreifen, dass Du nichts erreichen wirst, wenn Du Dich nicht
selbst darum kümmerst.“
Noch heute habe ich die Worte meiner Mutter im Ohr.
Besorgte Dauerpredigten, die einem 16-Jährigen zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr rausgehen. Scheinbar. Denn die Worte sind ja doch hängengeblieben. Es war etwa 1999 in meiner brandenburgischen
Heimat. Als angehender Abiturient dachte ich vielleicht wirklich, die Welt fliegt mir nach der Schule zu, die Arbeitswelt warte nur auf tolle Leute wie mich. Ich weiß es nicht, an meine Gedanken von
damals kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an die Worte meiner Mutter.
In den vergangenen Monaten habe ich mich intensiv wie
nie mit der DDR, der Zeit der Wende und den folgenden Transformationsjahren in Ostdeutschland beschäftigt. Und immer wieder kamen mir die Sätze meiner Mutter in den Sinn. Warum? So besonders sind die
nicht. Wahrscheinlich sagen Eltern solche Sätze in Deutschland tagtäglich zigtausendfach. Erst langsam erschloss sich mir, dass in diesen — und vielen anderen — Aussagen meiner Eltern schwer
errungene, entscheidende Einsichten der Wendezeit geronnen sind. Zehn Jahre zuvor hätte mir meine Mutter solche Empfehlungen wahrscheinlich nicht gegeben. Sie wären ihr vielleicht nicht mal in den
Sinn gekommen.
Der
tägliche Blick auf einen hoffnungslosen Arbeitsmarkt
Sie ist Lehrerin. Sie wusste, wovon sie spricht. Seit
Jahren erlebte sie täglich, wie gering die Möglichkeiten ihrer Gesamtschüler am hoffnungslosen Brandenburger Arbeitsmarkt weit außerhalb des Berliner „Speckgürtels“ waren. Die beiden großen Betriebe
meiner Heimatregion waren geschlossen worden. Und meine Mutter erlebte, welche katastrophalen Folgen es für Betroffene hatte, so wie früher auf staatliche Strukturen zu vertrauen. In den 1980er
Jahren war das noch völlig anders. In der DDR wurde ja niemand arbeitslos — nicht mal, wenn man es wollte.
Meine Mutter hatte Ende der 1990er Jahre ihre
persönlichen Lehren aus den Geschehnissen der Nachwendejahre gezogen. Erfahrungen, die auch mein Vater machen musste, der sich mit Leidensbereitschaft nach 1990 aus der Arbeitslosigkeit kämpfen
musste. Sie hatten Lehren ziehen müssen, die ihrer eigenen Sozialisation in der DDR total entgegenstanden. Lehren von Eigeninitiative, Konkurrenzdenken, Ellenbogenmentalität und Selbstverantwortung.
Einstellungen, die meine Mutter inzwischen als unverzichtbar identifiziert hatte, um im Haifischbecken Arbeitsmarkt eine Chance zu haben.
Sie selbst hatte zwar das Glück, im selben Beruf
weiterarbeiten zu können wie vor der Wende — ein Glück, das nur wenige Ostdeutsche hatten — aber sie erlebte täglich, dass sich im vereinigten Deutschland niemand um die Menschen kümmert, im guten
wie im schlechten Sinne. Sie erlebt das übrigens bis heute.
Ich musste später schmerzlich feststellen, dass meine
Mutter Recht mit ihrer Mahnung hatte — zumindest teilweise. Denn in der modernen Bundesrepublik kann zwar tatsächlich niemand bei der Suche nach Arbeit, Wohnung oder Kinderbetreuungsplätzen auf
Unterstützung durch öffentliche Strukturen vertrauen. Aber auch hier im Westen, in Hannover, wo ich seit 16 Jahren lebe, hilft man sich. Nur eben in zwischenmenschlichen und beruflichen Netzwerken,
und in die muss man erstmal hineinfinden. Zudem ist hier die wirtschaftliche Lage weitaus rosiger und es gibt — anders als in Brandenburg — viel bessere Chancen, eine Arbeit außerhalb des
Niedriglohnsektors zu finden. Im Osten schützt ein Diplom nicht vor solch einem Schicksal.
Der
Osten ist Niedriglohnland
In Ostdeutschland liegt die
Arbeitslosenquote seit der Einheit durchgängig deutlich über der Quote des Westens. Jahrelang war sie annähernd doppelt so hoch. Diejenigen, die zumindest
Arbeit haben, verdienen zu großen Teilen drastisch wenig Geld. Jeder dritte Arbeitnehmer in den neuen Ländern ist im
Niedriglohnsektor tätig. Von den besser Bezahlten fürchten viele, genau da hineinzurutschen.
Entsprechend unterdurchschnittlich ist
die Kaufkraft der Menschen im Osten verglichen mit den Westdeutschen. Noch auf Jahrzehnte hinaus werde die „Finanzschwäche“ der ostdeutschen Länder anhalten, berichtete kürzlich das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW). Die ökonomischen Unterschiede zwischen Ost und West werden sich laut Studie „in den kommenden 30 Jahren sogar wieder verstärken“.
Die
verlängerte Werkbank des Westens
Von „Aufholen“ kann schon lange keine Rede mehr sein.
Die Wirtschaftsleistung im Osten ist weitaus niedriger als im Westen — folglich auch die Steuereinnahmen der neuen Bundesländer. Ostdeutschland ist heute eine „Filialökonomie“ des Westens, schreibt
der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Roesler (1). Das bedeutet, die Betriebe im Osten sind fast ausschließlich Zweigwerke westdeutscher oder ausländischer Konzerne. Eine direkte Folge der
Privatisierungs- und Liquidierungspolitik der Treuhand.
Ihre Steuern zahlen diese Unternehmen im Westen, wo die
Konzernzentralen sitzen. Dort befinden sich meist auch die Abteilungen für Forschung und Entwicklung, das Marketing und das Controlling — mithin das gesamte höhere und der Großteil des mittleren
Managements sowie alle weiteren höher qualifizierten Arbeitsplätze. Investitionsentscheidungen werden ebenfalls im Westen getroffen. Die Betriebsteile im Osten sind lediglich verlängerte Werkbänke,
also die Teile mit der niedrigsten Wertschöpfung und der geringsten Entscheidungsbefugnis.
Zur Verdeutlichung: Roesler spricht hier nicht von der
ungleichen Ost-West-Verteilung innerhalb eines einzelnen Unternehmens, sondern von einem flächendeckenden Strukturnachteil des gesamten Ostens. Der „brain drain“ — also die Abwanderung vieler sehr
gut qualifizierter Einwohner — aus Ostdeutschland bleibt unter solchen Voraussetzungen noch lange erhalten.
Samstag, 16. November 2019, 15:58 Uhr
~10 Minuten Lesezeit
Die Holocaust-Manipulation
Das in Westdeutschland gepflegte Klischee, in der DDR sei der Mord an den Juden verschwiegen worden, ist falsch. Exklusivabdruck aus „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“.
Im christlich geprägten Westen Deutschlands wurde und wird gern beweihräuchert. Vor allem hebt man gern die eigenen Grandiosität und moralische Überlegenheit hervor. Der Ex-DDR kommt in diesem
holzschnittartigen Weltbild die Rolle des Bösen und Unkorrekten zu. Selbst vor dem sensiblen Thema Holocaust macht das Ossi-Bashing nicht halt. In der BRD sei der Massenmord an den Juden auf höchst
noble Weise kulturell und politisch aufgearbeitet worden. In der DDR dagegen sei die Shoa verschwiegen worden. Als Kommunisten hätten sich die Ost-Bürger dafür nicht zuständig gefühlt, hätten sich
vielmehr selbst zu Nazi-Opfern stilisiert. Solche Behauptungen kursieren bis heute in historischen Rückblicken. Sie sind aber schlicht nicht wahr. Es ist nachweisbar, wie viele höchst ehrenhafte
Filme und Bücher der DDR sich mit diesem dunklen Kapitel der gemeinsamen deutschen Vergangenheit befasst haben. Man denke nur an das großartige Buch „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers. Eine längst
fällige Richtigstellung.
Zu viel gefallen ließen wir uns angesichts der leidenschaftlichen Anstrengungen, nicht auch den DDR-Antifaschismus beitreten zu lassen. Dafür wurden schwerste Geschütze aufgefahren. Hatte doch nichts
diskriminierender sein können als die Behauptung, die DDR-Bürger hätten generell ein Problem mit ihrem Verhältnis zu Juden gehabt.
Wikipedia-Mainstream:
„Während man in Westdeutschland auf den Aufbau guter Beziehungen zu Israel setzte, wurden in der DDR die Juden als eigenständige Opfergruppe im Dritten Reich weitgehend verschwiegen.“
Medien-Mainstream: Moderation in
ttt vom 10. März 2019: Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist in der DDR 1952 per Dekret für beendet erklärt worden, der Holocaust war kein Thema.
Forschungs-Mainstream:
„Ungeachtet einer zögernden Entkopplung von Kapitalismus und Genozid besonders in den 80er Jahren, blieb die Ermordung der europäischen Judenheit auch später noch ein verschwiegenes, wenngleich nicht
mehr gänzlich unterdrücktes Thema“ (1).
Bis in die 1980er Jahre also war der Völkermord an den Juden in der DDR ein „gänzlich unterdrücktes Thema“. So viel Desinformation macht sprachlos. Ich habe es genau umgekehrt wahrgenommen: Die
DDR-Kultur hat dieses Thema früher und häufiger als in der Bundesrepublik aufgegriffen, kontinuierlich über die Jahre verfolgt, und das in einem Umfang, der bei vielen Menschen Überdruss
auslöste.
Ich empfinde solche Desinformation auch als persönliche Kränkung. Ich hätte nicht in einem Land leben wollen und können, in dem über den industriell betriebenen Völkermord, das perfideste Verbrechen
seit Menschengedenken, nicht gesprochen werden sollte. Die Ostdeutschen als duldsame und unreflektierte Herde ohne Mitgefühl: An dieser Fiktion westliche Schuld- und Versagensgefühle abzuladen kann
auf die Dauer nicht gutgehen. Neben der sozialen hat es seit dem Beitritt immer auch die intellektuelle Demütigung gegeben. Der entkommt man durch kräftezehrenden Widerspruch oder durch
kräfteschonende Teilnahme am Belasten der Herde, was einen selbst über sie stellt. Die meisten, so fürchte ich, entkommen ihr nicht. Sie werden still, krank oder aggressiv.
Auch von einigen ostdeutschen Politikern, Journalisten oder Historikern höre ich gelegentlich die neue Lesart, wonach „das Schicksal der Juden im Dritten Reich aus dem offiziellen Erinnerungskanon
der DDR so gut wie verschwunden“ war. Was verdiente in der DDR das Etikett
offiziell? War es doch ein Verhängnis, dass alles, was öffentlich sein wollte, auch offiziell sein musste.
Jeder Film hatte eine staatliche Abnahme erfahren, jedes Buch brauchte eine staatliche Druckgenehmigung. In diesem Sinn war die DDR-Kultur, mit allen daraus folgenden Beschränkungen und
Begünstigungen, eine offizielle Kultur. Sie übernahm, oft durchaus zu ihrem künstlerischen Nachteil, arbeitsteilig Themen, die die Medien oder offizielle Bekundungen entweder nicht oder nur
undifferenziert wahrnahmen. Wer also die DDR-Kunst und Kultur aus dem „Erinnerungskanon“ ausschließt, der mag zu derart verengten Schlüssen kommen. Doch redlich ist das nicht. Denn für die
Bundesrepublik lässt man gelten, dass keine akademische Forschung und keine amtliche Verlautbarung so massenwirksame Aufklärung und Sensibilisierung gegenüber der Shoa bewirkt hatten wie die
Kunst.
Was gab es doch unlängst für einen Hype um den 40. Jahrestag der Sendung der US-Serie
Holocaust, durch die 1979 das deutsche Publikum, und zwar das gesamtdeutsche, angeblich erstmalig eine Ahnung vom Ausmaß des den Juden zugefügten Leids bekommen habe. Was für ein Armutszeugnis!
Nirgends war ein Hinweis darauf zu hören, dass im DDR-Fernsehen bereits sieben Jahre vor der Hollywood-Serie eine vierteilige Folge über eine jüdische Familie gesendet wurde, die nach Auschwitz
deportiert wird. Erstmalig durfte dafür ein deutscher Filmstab im Lager Auschwitz drehen. Die Authentizität des Films rührte aber nicht nur vom schwer zu verkraftenden Originalschauplatz, sondern von
dem Wissen, dass es sich hier um die Verfilmung des autobiographischen Romans des Juden Peter Edel handelt, der all diese Schrecken in Auschwitz selbst erlebt hat.
Und nicht nur er, auch einige der Hauptdarsteller hatten die fürchterliche Hürde zu nehmen, an die Stätte ihres grauenvollen Traumas zurückzukehren. In der Rolle des Stubenaltesten Tadeusz spielte
August Kowalczyk ein Stück seines eigenen Lebens. Er war zwei Jahre Häftling in Auschwitz gewesen und hatte sich eigentlich geschworen, nie wieder an diesen Ort zurückzukehren. Peter Sturm, im Film
der Elias, stammte aus einer sehr frommen, armen jüdischen Familie aus Wien. Er hatte das Martyrium der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und ebenfalls Auschwitz hinter sich. Und die
Schauspielerin Marga Legal, im Film Frau Müller, bekam 1933 wegen ihrer jüdischen Vorfahren ein Arbeitsverbot und konnte sich nur durch eine sogenannte „privilegierte Ehe“ vor Verfolgung retten.
Nein, eine Seifenoper à la Hollywood waren diese vier Teile nicht. Schade, dass Marcel Reich-Ranicki, der die Holocaust-Serie als «trivial, oft kitschig, gelegentlich ärgerlich und ästhetisch ohne
Wert» beschimpft hatte, nicht auch diesen Film bewertet hat. Der Westberliner Tagesspiegel war nach Ausstrahlung des 1. Teils am 25. 5. 1972 immerhin positiv überrascht:
„Der ‚Fernsehdienst Nr. 22‘, die Presseveröffentlichung des Deutschen Fernsehfunks, enthält 24 Seiten Bilder und Texte über einen neuen, auf vier Teile ausgelegten Fernsehfilm. Die ungewöhnliche
Quantität lässt auf eine ungewöhnliche Qualität schließen, zumindest auf ein ungewöhnliches Gewicht, das die Produzenten dem Film beilegen. …
Es geht um die Verfolgung der Juden in den Jahren 1933 — 45. Das mag in Erstaunen versetzen: Man erwartet es einfach nicht, dass just zu diesem Thema ein großer Film fürs Fernsehen gedreht wird, der
bis in die letzte Charge hinein von erstklassigen Schauspielern besetzt und von der ersten Garnitur in Sachen Dramaturgie und Regie eingerichtet wurde.
Im ersten Teil, dem als Rahmenhandlung eine Sabbatfeier in der Wohnung eines jüdischen Arztes im Jahr 1943 diente, wurde ein bestimmter Ausschnitt der jüdischen Gemeinde zu Berlin vorgestellt:
Durchweg Angehörige des gehobenen Bürgertums, konservative Menschen im preußischen Sinne, der eigenen Religion bereits entfremdet — und fassungslos gegenüber den sogenannten Nürnberger Gesetzen und
ihren schaurigen Folgen. Unter der äußeren Situation dieser gejagten Menschen wurde jedoch etwas sichtbar, was noch tiefer berührte: Ihre innere Situation, das moralische Spektrum, das nackte Angst
und dumpfe Ergebenheit ebenso enthielt wie das Hadern mit dem Gott der Vater und dem Ansatz zum Widerstand. Wir kommen auf den sehenswerten Film jedenfalls zurück.“
Ich auch. Zuvor soll jedoch eines klargestellt werden. Dieser sicher aufwendigste Film zum Thema Massenmord an den Juden war nun wahrlich nicht der erste und letzte in der DDR. Um dies zu belegen,
kann man auf ein sehr verdienstvolles Lexikon zurückgreifen, das die Filmwissenschaftlerin Elke Schieber, langjährige Mitarbeiterin im Filmmuseum Potsdam, in zehnjähriger, einsamer Forschungsarbeit
erstellt hat (2).
„Tangenten“ ist 2016 in der Schriftenreihe der DEFA erschienen und hat auf 700 Seiten sämtliche DEFA-, Fernsehspiel- und Dokumentarfilme, publizistische Beiträge, Studenten-, Kinder- und
Animationsfilme zusammengetragen, die zwischen 1946 und 1990 in der SBZ und der DDR zu folgenden Themen produziert wurden: Antisemitismus vor 1933, jüdisches Leben, Judenverfolgung im
Nationalsozialismus, jüdische Vergangenheit in der Gegenwart, Palästina-Israel-Naher Osten. Das ergab eine stattliche Sammlung von über 1.000 Titeln.
Diese Zahl sagt nichts über die Qualität dieser Filme, nichts über mögliche Schwierigkeiten vor und während der Produktion, nichts über ihre Rezeption. Und sie schließt trotz dieser beeindruckenden
Menge die Existenz eines unterschwelligen Antisemitismus nicht aus. Aber eins beweist sie: Die Behauptung, dass in der DDR Juden und Holocaust ein beschwiegenes, unterdrücktes Thema waren, ist
vollkommen unhaltbar. Man hatte hoffen können, dass die bis heute diesen Fake verbreitenden Journalisten und Historiker nach Erscheinen des Lexikons zu einer Korrektur bereit gewesen waren. Aber
realistisch sind solche Erwartungen nicht. Keines der Großmedien und keiner der sich mit dem Thema befassenden Großhistoriker haben das Buch zur Kenntnis genommen.
Es ist das zuverlässig Erwartbare, was so langweilt: Was den Mainstream stört, wird ausgegrenzt. Statt die Fakten zu erwähnen, wird scheinbar anlasslos umso heftiger gegen sie angeschrieben. Bei
Wikipedia gibt es eine Liste von Filmen zum Holocaust aus aller Welt, in der wie von Zauberhand so gut wie alle in der DDR produzierten Spiel- und Dokumentarfilme fehlen.
Immerhin 14 Spielfilme und Serien von DEFA und Fernsehen haben die Judenverfolgung in der NS-Zeit zum eigentlichen Thema. 33 weitere DDR-Spielfilme tangieren diesen Stoff mehr oder weniger
direkt.
Und das relativ gleichmäßig verteilt in den Jahren zwischen 1946 bis zum Ende der DDR. Die Stoffe hatten fast immer authentische Hintergründe, oft auch autobiographische, von den sie gestaltenden
Künstlern. Ergänzend begleitet wurden die Spielfilme von Anfang an von dokumentarischen Beiträgen. So sah man 1947 im DEFA-Augenzeugen das in Auschwitz verlorene und in der Tschechoslowakei
wiedergefundene, einzige überlebende Kind der Berliner Jüdischen Gemeinde — von einst 175 000 Seelen. Oder 1962 den Bericht über eine Mutter, die in Auschwitz von ihrer dreijährigen Tochter getrennt
wurde, die sie erst 17 Jahre später in Moskau wiedertrifft. Es liefen Filme über Frauen in Ravensbrück, zu den Nürnberger Prozessen — beginnend 1966 mit: Robert Jackson klagt an — sowie mehrere
Reportagen über Auschwitz.
Um den Fake über das Verschweigen des Schicksals der Juden zu widerlegen, ist man natürlich nicht allein auf die DDR-Filmproduktion angewiesen. Genauso aufschlussreich ist ein Blick auf die in der
DDR erschienenen Bucher. Auch dazu gibt es eine verdienstvolle Bibliographie, in ähnlich einsamer, jahrelanger Arbeit zusammengetragen von der einstigen Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde
in Ostberlin, Renate Kirchner: „Jüdisches in Publikationen aus DDR-Verlagen 1945 — 1990“ (3).
Die Bücher sind in der Aufstellung durchnummeriert, sodass das Ergebnis leicht ablesbar ist: Es sind 1086 Titel. Sicher kann man im Einzelfall streiten, ob dieser oder jener Band dazugehört oder
andere fehlen. Aber die Tendenz ist eindeutig: Das jüdische Thema war überaus präsent. Die Bibliographie umfasst alle Themen — jüdische Geschichte, Religion, Philosophie, Kultus und Brauchtum,
Lebens- und Werkbetrachtungen bekannter Juden, Antisemitismus und Rassismus, jüdisches Leben in anderen Ländern, insbesondere die Welt der Ostjuden, auch Palästina und Israel.
Fast genau die Hälfte aller Bücher aber widmet sich dem Thema: Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Die meisten davon, nämlich 302, waren Sachbücher, Biographien, Tagebücher, Briefbände, auch
einzelne Diplomarbeiten und Dissertationen, die der Jüdischen Bibliothek zum Dank für Unterstützung übergeben wurden.
Viele davon waren sachliche Faktensammlungen, andere unverkennbar der Systemauseinandersetzung und dem Legitimationsbedürfnis der DDR untergeordnet. So unterschiedlich sie waren, kann man ihnen eine
verinnerlichte, humanistische Grundhaltung und einen tiefempfundenen Antifaschismus schwerlich absprechen.
Ohne den im Raum stehenden, monströsen Vorwurf der Unterdrückung jüdischer Themen in der DDR könnte ich mir den nun vielleicht schon pedantisch wirkenden Hinweis sparen, dass zu dem auch ästhetisch
heiklen Thema Holocaust, für das erst eine Sprache gefunden werden musste, außerdem 238 belletristische Werke erschienen. Romane, Erzählungen, Novellen, Gedichtbande, Dramatik und Kinderbücher, in
denen der Völkermord zentrales oder wesentliches Thema ist. (Darunter von DDR-Autoren wie Anna Seghers, Bruno Apitz, Jurek Becker, Johannes Bobrowski, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym,
Walter Kaufmann, Gunter Kunert, Fred Wander, Arnold Zweig. Westdeutsche Autoren wie Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Paul Celan, Peter Härtling, Heinar Kipphardt, Wolfgang Koeppen, Luise Rinser und
Peter Weiss wurden in DDR-Verlagen genauso verlegt wie die Generation davor: Lion Feuchtwanger, Frank Leonhard, Klaus Mann, Erich Mühsam, Erich Maria Remarque, Nelly Sachs, Franz Werfel. Schließlich
wurde auch viel übersetzt, besonders aus Osteuropa: Josef Bor, Tibor Déry, Ladislav Grosman, Imre Kertész, Anatoli Kusnezow, Stanislaw Lem, Icchokas Meras, aber auch Natalia Ginzburg, Primo Levi,
Elie Wiesel oder Jorge Semprún.)
Worüber es bisher keine Analysen gibt, das sind die Beiträge der Theater, der Musik, der Bildenden Kunst oder der Hörspiele und Features im Rundfunk. Dagegen existiert eine Untersuchung über die
Behandlung des Völkermords im Deutschunterricht. Fazit des Autors Matthias Krauß über den Beitrag der DDR:
„Ihre ‚Nationalkultur‘ legte eindringliche und erschütternde Zeugnisse der faschistischen Judenverfolgung vor, es lässt sich begründet behaupten, dass die wichtigsten deutschen künstlerischen
Zeugnisse zu diesem Thema in der DDR entstanden sind und nicht in der Bundesrepublik. Davon war der Deutschunterricht im sozialistischen Teil Deutschlands nicht allein berührt, davon war er
durchtränkt“ (4).
Im Osten stößt die Reduzierung der DDR auf Mauer, Stasi und Stacheldraht und deren Gleichsetzung mit dem Hitlerreich zunehmend auf Widerspruch. Dafür gibt es viele Gründe. Die Ablehnung, sich
fortgesetzt von Westdeutschen erzählen zu lassen, wie man als Ostdeutscher angeblich gelebt und gelitten hat, ist ein Grund. Ein anderer die Okkupation der positiven Momente der DDR-Vergangenheit,
wie sie aktuell zelebriert wird: Nicht die Ostdeutschen hätten die Mauer zum Einsturz gebracht, sondern Kohl und Genscher. Einer gleichermaßen ignoranten wie einseitigen Geschichtsbetrachtung muss
entschieden widersprochen werden. Sie führt nämlich auch zum Verlust der Glaubwürdigkeit politischer Institutionen.
Seit dreißig Jahren mache ich Bücher. Als Verleger, als Autor, als Ghostwriter. Den Verlag gründete ich nach dem Untergang der DDR (und wenn ich das im Verkehr mit Westdeutschen sage, kommt oft und
noch immer als Echo: Hoho, in der DDR wäre das nicht gegangen. — Ja, und?) Der Verlagsname sollte in einer Zeit, als die meisten Ossis rasch Wessis werden wollten, eine demonstrative Ansage sein:
edition ost. Ich wollte zunächst heimatlos gewordenen DDR-Autoren eine verlegerische Heimat bieten. Und außerdem mochte ich an der gedankenlosen Beseitigung der gemeinsamen Vergangenheit nicht
mittun. Überall füllten sich die Container vor Bibliotheken, Betriebskulturhäusern und Kultureinrichtungen. Ein Land entsorgte sich selbst: Das war nicht nur Metapher, sondern Realität.
Ich verweigerte mich aber nicht deshalb, weil ich mich gegen die Gegenwart und das, was da ungebeten auf mich, auf uns Ostdeutsche zurollte, grundsätzlich gesperrt hätte. Sondern weil ich eine
Affinität zur Geschichte habe und um deren Bedeutung weiß. Geschichte ist der Grund, auf dem jeder Mensch steht, sie liefert die Koordinaten, um sich in der Welt zurechtzufinden. Hemden lassen sich
wechseln wie die Fahnen auf den Zinnen, nicht aber die Vergangenheit. Die individuelle wie die kollektive. Sie hängt uns am Hacken, weil sie uns prägte.
Ich habe im Wortsinne Geschichte mit der Muttermilch aufgenommen: Mein Kinderbett im elterlichen Schlafzimmer stand neben dem Kirchenarchiv in einem sächsischen Pfarrhaus. Als Halbwüchsiger
verbrachte ich halbe Tage darin, studierte neugierig die alten Bücher und fand dort Namen der Nachbarn, deren Vorfahren schon vor Jahrhunderten ihre Kinder in der Kirche neben unserem Pfarrhaus übers
Taufbecken gehalten und ihre Toten zu Grabe getragen hatten.
Das stand dort alles, penibel aufgeschrieben für die Nachwelt. Und diese Mitteilungen, mit Federkiel notiert, faszinierten mich. William Faulkner, den ich erst später las, hatte recht mit seiner
Feststellung: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Die Bauernhöfe und ihre Betreiber, mit deren Kindern ich in eine Klasse ging, besaßen eine lange Vorgeschichte, ohne sich
ihrer vielleicht im Einzelnen bewusst zu sein. Ich entdeckte die Wurzeln meiner Schulfreunde in den Kirchenbüchern. Geschichte floss unablässig wie ein Strom durch die Zeit, egal, was an den Ufern
geschah, und hier war die lokale Historie in Daten, Ereignissen und Abrechnungen nachlesbar, also mit Fantasie erlebbar.
Später, als Journalist bei einer Tageszeitung, war ich Geschichtsredakteur. Meine Neigung konnte ich ausleben und bekam sie auch noch bezahlt. Obendrein, was nun wirklich ein Privileg war, konnte ich
deshalb auch in den Westen reisen. Ich besuchte für Recherchen Archive und Ausstellungen, wandelte auf den Spuren von Luther und Heine, von Marx und Thälmann und schrieb darüber.
Diese lange Einleitung war nötig um zu erklären, weshalb ich die kulturelle Entsorgung meines nunmehr verschwundenen Landes als Frevel empfand. Und was dieser Bruch mit der eigenen Vergangenheit mit
den meisten Menschen anstellte.
Sie warfen alles von sich und berauschten sich an dem, was ihnen an billiger, aber bunter Alternative angeboten wurde. Bereitwillig tauschten sie Glasperlen gegen ihre Geschichte. Selbst die Sprache
gaben sie her. Aus Kollektiv wurde Team, Kapitalismus durfte nur noch soziale Marktwirtschaft genannt werden, andernfalls setzte es Kritik.
Und Faschismus hieß nur noch Nationalsozialismus. Dabei galt es bis dato als gesicherte Erkenntnis, dass die Hitlerdiktatur weder sozialistisch — sie war in ihrem Wesen imperialistisch wie die
Konzerne, die sie installiert hatten — noch national war: Die Nazis hatten Deutschland in die größte nationale Katastrophe ihrer Geschichte geführt, die später einer ihrer Jünger „Vogelschiss“ nennen
sollte.
Im deutschen Namen waren Millionen Menschen im eigenen Land und in den besetzten Ländern ermordet worden. Und Millionen starben an den Fronten oder als Partisanen, weil sie sich in einer
Anti-Hitler-Koalition dem Drang des deutschen Kapitals zur Weltherrschaft widersetzt hatten.
Im beigetretenen Osten erfolgte umgehend eine Revision aller Narrative. Initiiert und forciert wurde dieser Prozess von Westdeutschen, die in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, in
Justiz, Militär und in den Medien alle Schlüsselpositionen übernahmen — und sie bis heute auch halten. Dabei halfen ihnen Kollaborateure aus dem Osten, die auf Teilhabe hofften. Und einige bekamen
auch tatsächlich ein Amt, und sei es nur das des Narren am Hofe der Mächtigen.
Von den Menschen, denen tatsächlich in der DDR Unrecht widerfahren war, liehen sie sich die Opfergeschichten. Die wurden benötigt, um das Bild eines durch und durch verbrecherischen Staates zu
erfinden, dessen Besetzung folglich zwingend und demokratisch legitim war. Weil sich jedoch keine Leichenberge fanden, nahm man die Aktenberge der Stasi als solche. Und man erfand das „Auschwitz der
Seelen“ und zog die weiße Linie der dortigen Selektionsrampe bis zu jener auf dem Bahnsteig im Grenzbahnhof Friedrichstraße.
Nein, natürlich könne man die Diktatur der Nationalsozialisten nicht mit der Diktatur der Kommunisten gleichsetzen, beschwichtigte man jene, die sich darüber empörten. Aber Vergleiche seien ja wohl
zulässig.
Ach, diese deutsche Neigung zum Vergleich. „Verglich“ jemals ein Historiker oder Journalist den Genozid kaiserlich-deutscher Kolonialtruppen an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika mit der
Unternehmenspolitik deutscher Konzerne, die Profite unter der Apartheid in Südafrika scheffelten?
Oder dass man den vom Apartheid-Regime jahrzehntelang inhaftierten Nelson Mandela und seinen ANC seinerzeit in der BRD als Terroristen verurteilte und später, als er frei und die Apartheid beendet
war, auf den Schild hob und ihn nun als Friedensnobelpreisträger feierte? Vergleiche, die nicht nur Erscheinungen, sondern das Wesen der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung infrage stellen, sind
jedoch unzulässig.
Übrigens — und das weiß ich von einem, der damals in der Schorfheide im Dezember 1981 beim Treffen des Bundeskanzlers mit dem Staatsratsvorsitzenden und SED-Generalsekretär dabei war — verglichen
Helmut Schmidt und Erich Honecker, in welchem Staat es sich leichter regieren ließe. Schmidt meinte ironisch-neidisch, dass es Honecker mit seinem Politbüro leichter, er es hingegen schwerer habe,
weil — und nun O-Ton des Bundeskanzlers — die Bundesrepublik kein Rechtsstaat, sondern ein Gerichtsstaat sei. Da war der Begriff „Unrechtsstaat“ noch nicht erfunden.
In dem Zusammenhang sei auch der anschließende Besuch der beiden in Güstrow erwähnt. Schmidt wollte im dortigen Dom den schwebenden Engel des von ihm verehrten und von den Nazis verfemten Bildhauers
Ernst Barlach sehen. Wir kennen die gespenstischen Bilder der menschenleeren Straßen, die von Polizeiketten gesäumt waren. Und seither gelten diese Fotos als Beweis für den Polizei- und Stasi-Staat
DDR. Tatsächlich jedoch gingen diese Maßnahmen auf Forderungen der Sicherungsgruppe Bonn zurück: Im Spätsommer hatte die RAF einen Bombenanschlag auf das Headquarter der US-Luftstreitkräfte in
Ramstein verübt, und zwei Wochen später entging US-General Frederick J. Kroesen nur knapp einem Raketenanschlag. Das Bonner akute Sicherheitsinteresse war verständlich groß und führte zu
entsprechenden Forderungen an die DDR-Adresse. Hier waren bis dahin noch nie Gullydeckel zugeschweißt und das Öffnen von Wohnzimmerfenstern verboten worden, wenn auswärtige Staatsgäste unterwegs
waren.
Nach 1990 entstanden im Osten nach der Wiederherstellung der Eigentumsverhältnisse, wie sie bis 1945 dort geherrscht hatten, auch neue, spezielle Unternehmen. Zum Beispiel eine Erinnerungs- und
Aufarbeitungsindustrie. Millionen und Abermillionen D-Mark wurden in ein Netzwerk zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Deutschland investiert.
Inzwischen existiert in Ostdeutschland kaum eine Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus, der nicht ein Ort des Gedenkens an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft zugesellt ist. Warum? Um
an die Menschen zu erinnern, denen wirklich und wahrhaftig in der DDR Leid angetan wurde? Das auch.
Vornehmlich aber soll damit ein Gleichheitszeichen zwischen den „beiden Diktaturen auf deutschem Boden“ gesetzt und das schlimme Schuhmacher-Wort aus der Hochzeit des Kalten Krieges, das von den
„rotlackierten Faschisten“, postum bezeugt werden. Dafür beugte man bisweilen auch die Wahrheit.
Zweckdienlich. Etwa die „Wasserzellen“ im vermeintlichen Stasi-Folterknast in Hohenschönhausen und die krebsauslösenden „Strahlenkanonen“: reine Erfindungen. So wenig belegt wie die Behauptung,
Ulbricht sei ein Lügner, weil er erklärt hatte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Ulbricht konnte es an jenem 15. Juni 1961 nicht besser wissen und log darum nicht, denn die
Entscheidung wurde erstens Anfang August in Moskau und zweitens von Chruschtschow getroffen (3).
Medien machten Stimmung, die Justiz besorgte ihren Teil. „Juristische Formeln sind oft wichtiger als Bajonette“, wusste schon im Februar 1952 Otto Lenz, Staatssekretär im Kanzleramt und Adenauers
rechte Hand.
Allerdings, so konstatierte Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen in der
Neuen Justiz vom Januar 2000 im Rückblick auf „Zehn Jahre Aufarbeitung des Staatsunrechts der DDR“ betrübt, seien die Ergebnisse der intensiven Ermittlungen hinter den Erwartungen
zurückgeblieben. Von den über 100.000 beschuldigten Ex-DDR-Bürgern waren nach Schaefgen bis Anfang 1999 „nur etwa 300 rechtskräftig verurteilt“ worden.
Von diesen 289 Verurteilten erhielten 86 eine Geldstrafe, 184 eine Bewährungsstrafe und lediglich 19 eine Freiheitsstrafe. Keine Rede von Folter, Zwangsadoptionen, Einweisungen in die Psychiatrie und
all die Stereotype, die einen Dauerplatz im „öffentlichen Diskurs“ hatten. Die Enttäuschung wurde mit dem Hinweis auf die Vorzüge des demokratischen Rechtsstaats kaschiert. Erst wenn ein Verbrechen
bewiesen ist, kann man von einem Verbrechen sprechen.
Eben!
So war’s aber nicht gemeint. Sondern: Die „Verbrecher“ hätten ihre Untaten verschleiert. Deshalb wären trotz intensiver Suche Dokumente ihrer verbrecherischen Direktiven nicht auffindbar.
Doch zunehmend widersprachen Zeitzeugen den kruden und konstruierten Behauptungen. Nach dem doppelten Kulturschock meldeten sich immer mehr Ostdeutsche zu Wort, die den verteufelten Staat anders in
der Erinnerung hatten, als man es nun dem deutschen Volke weiszumachen versuchte.
Das medial verbreitete Narrativ, wie die Ostdeutschen im Unrechtsstaat gelebt haben sollten, deckte sich nicht mit ihren eigenen Bildern. Ihre Einlassungen wurden zunächst als Ostalgie belächelt,
später als Gejammer Ewiggestriger, und schließlich, als der Widerspruch vermeintlicher Betonköpfe nicht verstummte, zieh man sie des Geschichtsrevisionismus.
Die Vorhaltungen wurden immer schriller und die Argumente immer abstruser. Auch Verlage wie die edition ost, die Zeitzeugenberichte veröffentlichten, bekamen ein solches Etikett verpasst. Vorsorglich
kaufte sich der seinerzeitige Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz, Helmut Roewer, über einen Strohmann als Aktionär bei uns ein. Als dann noch herauskam, dass auch die CIA mit
ihrem Agenten Wolfgang V. am Verlagstisch saß, beschloss der Aufsichtsrat mit Lothar de Maizière, Peter Brandt und Hans Modrow, die edition ost AG zu liquidieren.
Wir sind seither eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Aber mit dem unveränderten Anspruch, den Wissenslücken, Halbwahrheiten und ganzen Lügen zu widersprechen — und wurden darum unverändert
als Geschichtsrevisionisten diffamiert. Wobei das mediale Urteil in einer Uniformität geäußert wurde, die die von Politbüro-Mitglied Joachim Hermann weiland verordnete Gleichschaltung noch überbot.
Von der letzten Postille bis hin zum gehobenen Feuilleton galt:
„Bücher und Autoren der edition ost (...) stellen kontrastierend zum historisch verbürgten Mainstream knallhart auf Geschichtsrevisionismus ab“ (1).
Selbst 2019 hieß es, wenngleich schon ein wenig subtiler, in einer durchaus wohlmeinenden Rezension:
„Der Band versammelt die über einen längeren Zeitraum aufgezeichneten Gespräche zwischen Bruno Flierl und Frank Schumann, der als Verleger von Egon Krenz und Margot Honecker einen durchaus speziellen
zeithistorischen Ackersaum der untergegangenen DDR bewirtschaftet“ (2).
Schumann hatte auch sieben Bücher von Günter Gaus verlegt, druckte Texte von Egon Bahr, Heribert Hellenbroich, Christoph Andreas Graf von Schwerin von Schwanenfeld, Katharina von Bülow und anderen
westdeutschen Autoren — das war (und ist) ohne Belang für das Verdikt, am Rand vulgo Ackersaum zu stehen.
Allerdings, so will es die Dialektik: Jede öffentliche Schmähung war und ist zugleich objektiv Werbung. Und darum gelingt es immer wieder, mit solch gewiss unbeabsichtigter öffentlicher Unterstützung
Bücher in die Spiegel-Bestsellerlisten zu bringen. Aktuell sind das, natürlich, dieser Egon Krenz mit „Wir und die Russen“ und — über den Verlag „Das Neue Berlin“ — Peter-Michael Diestel, der letzte
Innenminister der DDR, mit „In der DDR war ich glücklich. Trotzdem kämpfe ich für die Einheit“.
Ich bin kein Freund absoluter Aussagen, weshalb ich den Satz „Sieger schreiben Geschichte“ nicht uneingeschränkt teile. Wäre es so, gäbe es keine Auseinandersetzung um die Geschichtsdeutung. Wenn die
„Sieger“ das Feld so eindeutig beherrschten, würden sie nicht den Vorwurf des „Geschichtsrevisionismus“ erheben. Die Vorhaltung wird nicht nur unverblümt und diffamierend formuliert, sondern auch
sanft geäußert, wie dies der Honecker-Biograf Martin Sabrow tut, indem er von einer „schleichenden Entmachtung der Historikerzunft“ durch Zeitzeugen spricht, oder direkter, wie es sein Kollege
Wolfgang Kraushaar formulierte — für ihn ist der Zeitzeuge der Feind des Historikers.
Ich reklamiere für mich Zeitzeugenschaft. Ich bin ein Geschichtsrevisionist in dem Sinne, dass ich die seit dreißig Jahren kolportierten falschen Aussagen und Bilder von der DDR zu revidieren oder zu
differenzieren versuche.
Mich rief seinerzeit eine Sekretärin des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert an, die von mir eine Auskunft wünschte. Das Gespräch war offen und uferte aus, weshalb ich an einer Stelle erklärte,
dass ich mich als bekennender Ossi und ehemaliges SED-Mitglied nicht des Eindrucks erwehren könne, dass die Mehrheit der politischen Klasse der Bundesrepublik ideologisch vernagelter sei, als es die
SED zu meiner Zeit war. Darauf sagte die kluge Frau: „Herr Schumann, Sie erwarten von mir gewiss kein Dementi.“
Je weiter die Zeit voranschreitet, desto bornierter und hilfloser scheint man in dieser Klasse zu werden. So weigerte sich etwa die Berliner CDU im Herbst 2019 einer von den Regierungsparteien SPD,
Grüne und Linke eingebrachten Resolution zum 30. Jahrestag der „Friedlichen Revolution“ zuzustimmen, weil die Linke sie unterzeichnet hatte. „Wenn wir hier die historischen Ereignisse würdigen
wollen, halten wir es für unangemessen, die Linkspartei als ebenbürtig zu behandeln“, erklärte Fraktionschef Burkard Dregger, Sohn von Alfred Dregger, einst exponierter Vertreter des
nationalkonservativen Flügels der CDU und bisweilen „Stahlhelmer“ genannt.
Stattdessen brachte die Dregger-CDU eine eigene Resolution ein, in der Kanzler Kohl und sein Vize Genscher als Wegbereiter der Einheit gewürdigt wurden. Diese Leute hatten nun nachweislich überhaupt
nichts mit dem Herbst 89 in der DDR zu tun. Sie nutzten die Gunst der ihnen günstig erscheinenden historischen Stunde. Die Mauer wurde vom Volk der DDR eingerissen — weder mit Moskaus noch mit Bonner
Segen. Dass kein Schuss fiel, entschied allein Berlin (Ost).
Und so werden immer wieder Fakten aus der Geschichte verdreht, umgedeutet, zweckdienlich interpretiert und massenhaft verbreitet. Was etwa von der AfD, deren ostdeutsche Häuptlinge ausnahmslos aus
dem Westen unseres Vaterlandes kommen, sehr konsequent verfolgt wird. „Vollende die Wende“, forderte der Faschist Höcke. Und sagt: Wir sind eine bürgerliche Partei. Womit er ausnahmsweise recht
hat.
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Samstag, 16. November 2019, 15:30 Uhr
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Im Zerrspiegel der Sieger
Die Wortschöpfung „Unrechtsstaat“ verhindert, dass aus dem Anschluss der DDR an die BRD eine Wiedervereinigung wird.
Der Diskurs über die DDR wird vom Standpunkt des vorläufigen Siegers im Kampf der Systeme geführt. Es ist zugleich der Standpunkt eines erbarmungslos bornierten Rechthabers, der alle Argumente
niederzumachen sucht, die seiner Selbstgerechtigkeit und seinem Überlegenheitsgefühl entgegenstehen. Im Buch „DDR — Meilenstein der Geschichte“ beschreiben 70 Zeitzeugen ihre Erlebnisse und
Wahrnehmungen in der DDR. Sie möchten verhindern, dass das Positive in Vergessenheit gerät und vermitteln mit Herzblut nachfolgenden Generationen, was für sie das Leben in 40 Jahren Deutsche
Demokratische Republik ausmachte. Der Autor empfiehlt dieses Buch und ergänzt die Berichte mit diesem Beitrag durch seine eigenen Erfahrungen.