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Gesellschaft

Die Gesundheitspolitik der DDR im Rückblick: Interview mit Sozialmediziner Niemann – Teil 1

21.06.2020 • 17:52 Uhr

https://de.rt.com/27rg

 

Quelle: www.globallookpress.com © Waltraud Grubitzsch/ZB

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Angesichts der COVID-19-Pandemie rückt die Debatte um verschiedene gesundheitspolitische Alternativen in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Wir sprachen mit dem Sozialmediziner Dr. Heinrich Niemann über die Gesundheitspolitik und die Pandemie-Maßnahmen in DDR und BRD.

Unser Interviewpartner ist Dr. med. Heinrich Niemann (75), Studium an der Berliner Charité, Facharzt für Sozialmedizin, gesundheitspolitische Arbeit in Ostberlin, 1986 bis 1990 Geschäftsführer der DDR-Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Nuklearkrieges (IPPNW), 1992 bis 2006 gewählter Bezirksstadtrat in Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, bis 2001 für Gesundheit, in dieser Zeit Vorsitzender der Krankenhauskonferenz des Krankenhauses Kaulsdorf. Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow.

Mehr lesen:"Liebe zur Heimat und proletarischer Internationalismus" – Interview zum DDR-Bildungssystem (Teil 1)

 

Auf welchen materiellen Grundlagen wurde das Gesundheitssystem der DDR errichtet? Wie war die Situation 1945, und wie entwickelte sich das System in den Folgejahren? Und welche Merkmale waren für das Gesundheitssystem der DDR besonders charakteristisch, inwiefern unterschied es sich vom Gesundheitssystem der BRD?

Die materiellen und auch geistigen Grundlagen für das Gesundheitswesen nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone, in der späteren DDR, waren durch die Kriegszerstörungen, viele Kriegsflüchtlinge, das Auftreten von Seuchen (Tuberkulose, Typhus, Ruhr, Geschlechtskrankheiten) kaum noch vorhanden. Es fehlte an Medikamenten, an allem. Dazu kam, dass sich deutsche Ärzte an Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Euthanasie – systematischer Mord von Zehntausenden psychisch Kranken und Menschen mit Behinderungen, Menschenversuche in Konzentrationslagern) beteiligt hatten und sehr viele Ärzte Mitglieder der Nazipartei waren.

Im Unterschied etwa zu Lehrern, die deshalb vom Schuldienst entfernt wurden, waren Ärzte jedoch in der Pflicht, für die Gesundheit zu arbeiten. Die SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland; Anm. d. Red.) leistete wirksame Hilfe, besonders bei der Seuchenbekämpfung. Politisch wurde von Beginn an von der deutschen Zentralverwaltung für Gesundheitswesen ein staatliches Gesundheitswesen angestrebt. Hier spielten Erfahrungen und gesundheitspolitische Programme der SPD und KPD aus der Weimarer Republik vor 1933, die Erfahrungen der Sowjetunion und anderer Länder wie Großbritannien eine Rolle. Übrigens orientierte sich das junge Sowjetrussland mit dem Volkskommissar Semaschko beim Aufbau seines Gesundheitswesens sehr stark an diesen deutschen Konzepten.

Die vor der Gründung der DDR mit deutschen Medizinern ausgearbeiteten Befehle der SMAD über die Bildung von Polikliniken oder Betriebspolikliniken und zu anderen Medizinfragen bildeten die rechtliche und fachliche Orientierung. Die Krankenhäuser und anderen Einrichtungen wurden verstaatlicht, eine Reihe kirchlicher Einrichtungen blieb jedoch bis 1990 erhalten. Die Ärzteausbildung wurde forciert und bald mit einer für alle Absolventen geregelten Facharztweiterbildung sehr qualifiziert. Seit 1967 war auch der sogenannte Allgemeinmediziner oder Praktische Arzt eine gleichberechtigte Facharztrichtung in der DDR, eine Regelung, die in der Bundesrepublik erst viele Jahre später erfolgte. Die vorbeugende Medizin, die Hygiene und vor allem der Gesundheitsschutz der Kinder und Jugendlichen wurden aufgebaut und gefördert.

Mehr lesen:Kirche und Religion in der DDR: Gespräch mit einem Experten

 

Ein flächendeckendes Netz poliklinischer Einrichtungen entstand jedoch nur schrittweise. Anfangs waren die meisten Ärzte in der ambulanten Medizin in privaten Praxen tätig. Die unbestreitbaren Vorteile des poliklinischen Prinzips: fachliche Zusammenarbeit, gemeinsame Nutzung von Labor, Röntgen und anderen Kapazitäten, kurze Wege, längere Öffnungszeiten und die Tatsache, dass der Arzt bei seinen ärztlichen Handlungen nicht immer an die wirtschaftliche Seite denken musste, wurden allmählich immer deutlicher und wurden besonders von den neu ausgebildeten Ärzten angenommen. Weit mehr als die Hälfte, nämlich über 5.000 ambulante Ärzte, waren noch 1955 privat niedergelassen. 1970 bestanden noch 1.888 private Praxen, das waren 18 Prozent der damals 10.687 ambulanten Ärzte.

Am Ende der DDR arbeiteten fast 21.000 ambulante Ärzte in den rund 600 Polikliniken, den mehr als 1.000 Ambulatorien und über 2.500 staatlichen Arzt- und Zahnarztpraxen. 341 Praxen waren noch privat. Dieses bewährte System, dessen Vorzüge westdeutschen Gesundheitspolitikern durchaus bewusst waren, wurde nach 1990 innerhalb von zwei, drei Jahren völlig umgestülpt und an das schon damals überholte, in der Kritik stehende private System angepasst.

Über das DDR-Gesundheitswesen zu sprechen, geht nicht, ohne die historische Tatsache zu erwähnen, dass bis 1961 (vor dem Mauerbau) und auch danach Tausende gut ausgebildete Ärzte aus der DDR in die Bundesrepublik gingen (zum großen Teil auch abgeworben wurden). Die Embargopolitik des Westens bei modernen Technologien traf auch den medizinischen Bereich, was natürlich das DDR-Gesundheitswesen stark belastete.

Welche Schlüsse wurden aus der sogenannten Hongkong-Grippe für die Seuchenbekämpfungspläne der DDR gezogen?

In der DDR wurden Fragen der Seuchenbekämpfung, der vorbeugenden Medizin überhaupt und der medizinischen Bewältigung von Katastrophen sehr ernst genommen. Die erfolgreiche Zurückdrängung und schließlich praktische Ausrottung der Tuberkulose als Volkskrankheit, die Impfungen gegen die spinale Kinderlähmung, die Umsetzung der Impfprogramme bei Kinderkrankheiten, der Aufbau der staatlichen Hygieneinspektionen, die auch die Lebensmittelkontrolle ausübten oder die Hygienesituation in den Krankenhäusern oder Polikliniken regelmäßig kontrollierten, die vorbeugenden Aufgaben der Betriebspolikliniken sprechen dafür. Dazu kam eine zunehmende Aufmerksamkeit für internationale Entwicklungen auf diesem Gebiet.

Mehr lesen:War die DDR-Wirtschaft wirklich marode? Interview mit einem Kombinatsdirektor – Teil 1 von 2

 

Die sogenannten akuten respiratorischen Erkrankungen, speziell die Virusgrippe, rückten Ende der 1960er-Jahre in den Vordergrund, wurden auch von Forschungseinrichtungen in der DDR bearbeitet.

Ihr Gewicht, ihr Anteil am Krankheitsgeschehen nahm zu (auch weil andere Krankheiten überwunden waren oder viel weniger auftraten). Diese in der DDR meldepflichtigen Erkrankungen erreichten 1969/70 einen hohen Stand.

Schon 1964 war ein Zentrallaboratorium für respiratorische Viren gegründet worden, 1973 das Institut für Angewandte Virologie in Berlin-Schöneweide, das dann auch als "WHO-Influenzazentrum der DDR" fungierte, ehe 1974 das Epidemiologische Zentrum der Staatlichen Hygieneinspektion diese Aufgabe übernahm. Nur am Rande sei daran erinnert, dass das 1910 gegründete und weltbekannte heutige Friedrich-Loeffler-Institut auf der kleinen Insel Riems nahe der Insel Rügen in der DDR in der Virusforschung und Impfstoffherstellung für Tiere eine sehr wichtige Rolle spielte.

Die Analyse der DDR-Situation und der Erkenntnisse aus der Hongkong Grippe mit ihren medizinischen, aber eben auch denkbaren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen führte zu den Entscheidungen, die Grippebekämpfung auch in der Regierung und Verwaltung der DDR auf eine effektivere Stufe zu stellen. Sie führte zu dem "Führungsdokument" zur "Grippebekämpfung" vom 19. November 1970 mit einem Stufenplan von sogenannten "epidemiologischen Situationsstufen" (I = Interepidemische Stufe – Basisstufe, II = Präepidemische Stufe, III = Epidemische Stufe) mit entsprechenden Maßnahmen. Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und anderen Ländern wurde gesucht.

Es wurde darauf aufbauend in der DDR eine "Ständige Kommission der Regierung zur Seuchenbekämpfung" eingerichtet, die unter Leitung des Gesundheitsministers stand, in der Vertreter aller relevanten gesellschaftlichen Bereiche und Ministerien vertreten waren. Diese wurden vom Ministerpräsidenten der DDR persönlich ernannt und hatten bestimmte Entscheidungsbefugnisse. Es war ein schnell handlungsfähiges Gremium.

Eine einheitliche Struktur und Handlungsabläufe für den Seuchenfall wurden erarbeitet und bis auf die Ebene der Kreise beziehungsweise Kommunen und im Gesundheitswesen eingerichtet, regelmäßig aktualisiert und angepasst. Es fanden auch Übungen statt.

Mehr lesen:Die DDR-Außenpolitik: Ein kleiner Staat auf der Bühne der großen Weltpolitik (Teil 1)

 

Da in der DDR der Gesundheitsminister, die meisten seiner Stellvertreter, die zuständigen Ratsmitglieder (Bezirksärzte, heute Gesundheitsminister der Länder) in den Bezirken und den Territorialkreisen (Gesundheitsstadträte) in der Regel Ärzte waren, stellte sich die heute sehr im Fokus stehende Wechselbeziehung zwischen medizinisch-fachlicher und politischer Entscheidung sehr praktikabel dar. Der Gesundheitsminister, der sich natürlich in seinen Entscheidungsvorschlägen auf das Expertentum mehrerer medizinischer Fachrichtungen stützte (neben Virologen gehörten auch Epidemiologen, Krankenhaushygieniker, Kliniker, Notfallmediziner, Kinderärzte, Pathologen sowie Vertreter weiterer Fachrichtungen dazu), hatte von Beginn an schon auch die politische Verantwortung und nahm sie wahr.

Letztlich sollten und müssen meiner Erfahrung nach am Ende Ärzte das entscheidende Wort haben, wie eine Epidemie sachgerecht zu bekämpfen ist, und ob, wann oder wie eine Entwarnung gegeben werden kann. Dass mit Blick auf soziale oder wirtschaftliche Folgen auch Fachleute anderer Disziplinen zurate zu ziehen sinnvoll und notwendig ist, versteht sich von selbst.

 

 

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Zeitenwende : Was die DDR in der Seuchenbekämpfung besser machte

DDR-Sozialmediziner Heinrich Niemann fordert viel mehr Corona-Tests, kritisiert Fallpauschalen und fragt sich, warum der Schutz der Gesundheit nicht im Grundgesetz steht.

21.5.2020 - 22:05 , Heinrich Niemann

 
 
 
Visite in der HNO-Uniklinik Leipzig, 1974 
Foto: imago/imagebroker

Obwohl ihre wirtschaftlichen Kräfte deutlich geringer als die der Bundesrepublik waren, konnte die DDR in der Tuberkulosebekämpfung, in der schnellen Zurückdrängung der spinalen Kinderlähmung, bei Kinderkrankheiten und später auch bei Aids zum Teil bessere Ergebnisse erreichen. Auch auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung wies sie gute Ergebnisse auf. Wieso? Das möchte ich erklären.

Die Reaktion auf eine Epidemie/Pandemie war vom Gesetz her geregelt. Der Gesundheitsminister leitete eine ständige Kommission zur Verhütung und Bekämpfung von Epidemien. Bereiche wie Bildung, Handel, Wirtschaft, Polizei gehörten dazu. Die  staatliche Plankommission hatte die Aufgabe, schnellstmöglich zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren. In den 15 Bezirken und den Kreisen gab es Kommissionen und Seuchenbekämpfungspläne.  Die Einrichtungen des Gesundheitswesens  – Universitätskliniken, Kreiskrankenhäuser, Polikliniken, Hygieneinspektionen, Arztpraxen, Kinder- und Pflegeeinrichtungen, aber auch die Betriebe, Schulen, Behörden – wurden von Beginn einbezogen. Das war präzise vorbereitet. Es fanden dazu sogar Übungen statt.

Die Polikliniken in der DDR konnten mit ihrer Struktur (mehrere Ärzte, eigenes Labor, räumliche Abgrenzung von Infektionsbereichen, Aufstellung von Notbetten, längere Öffnungszeiten) ihre Kräfte relativ schnell auf neue Aufgaben einstellen, ohne dass der einzelne Arzt wirtschaftlich in Gefahr geraten wäre. Das DDR-Gesundheitswesen war fast ausschließlich öffentliches Eigentum, wurde staatlich organisiert und in der Regel ärztlich geleitet. Der Gesundheitsminister und seine Stellvertreter, die Verantwortlichen in den Bezirken oder in den Kommunen waren fast ausschließlich Ärzte, vielfach erfahren in der Hygiene oder Sozialmedizin und Epidemiologie. Diese Autorität erleichterte die Abstimmung mit anderen Bereichen. Die DDR war in der WHO gerade wegen ihrer Expertise auf diesem Gebiet geschätzt.

Als Facharzt für Sozialmedizin bewegen mich all diese Fragen sehr. Mich wundert, wie lange es in den letzten Wochen manchmal dauerte, ehe praktikable Regelungen erarbeitet werden und wurden – für Gottesdienste, größere Kinos, Handel, Gaststätten, Hotels. Angeblich hatte sich der Berliner Senat mit der Gastronomie detailliert nicht beschäftigt, hieß es noch Ende April. Da ist der Protest der Berliner Amtsärzte und anderer Gremien zu verstehen, dass sie nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen sind oder Leiter von Einrichtungen zuerst über die Medien von Entscheidungen erfahren. Man staunt, dass es trotzdem einigermaßen funktioniert, jedoch um den Preis völlig unnötiger Verunsicherung und Zeitverlust.

Das Wort von Ärzten des öffentlichen Gesundheitsdienstes hat neben den Statistiken besonderes Gewicht. Denn die Mitarbeiter in den Gemeinden, Städten und Landkreisen kennen die jeweiligen Lebensumstände von Corona-Betroffenen und die Art und Weise der Verbreitung oder Zurückdrängung von Infektionen. Bei ihnen werden aus Statistiken konkrete Vorgänge, auf die mit konkreten Maßnahmen reagiert wird, natürlich einschließlich der korrekten Meldung an das Robert-Koch-Institut.

Es ist im Übrigen eine Unart, mit besserwisserischem Eifer unterschiedliche Datenerheber, Erhebungsmethoden und Messzeitpunkte  ins Spiel zu bringen.

Heinrich Niemann

Ich plädiere dafür, die Tests weiter auszubauen. Sichere Erkenntnisse über Verlauf und Verbreitung der Krankheit werden sich am Ende auszahlen, besonders da es sich um ein Virus mit noch wenig bekannten Eigenschaften handelt. Für Kinder und Jugendliche sind die Erkenntnisse entscheidend, auch die Meinung von Kinderärzten. Geöffnete Schulen und Kitas können mit medizinisch begleiteter Überwachung auf Dauer einen besseren Gesundheitsschutz sichern als die jetzige Situation. Die Erfahrungen mit den „notbetreuten“ Kindern und dem begonnenen Schulunterricht machen  Mut.

Corona-Teststelle in einem Berliner Hinterhof. 
Foto: Ostkreuz/Sebastian Wells

Lieber höhere bekannte Ziffern als Dunkelziffern! Und das Robert-Koch-Institut sollte bei seiner Methode der Datenerfassung und Berichterstattung bleiben. Das schließt die zügige Ausweitung der Tests, die Komplettierung der zu erfassenden Daten und die Erweiterung von Meldepflichten ein. Es ist im Übrigen eine Unart, bei Statistiken mit besserwisserischem Eifer unterschiedliche Datenerheber, Erhebungsmethoden und Messzeitpunkte je nach Bedarf und ohne entsprechende Erläuterung ins Spiel zu bringen. Nicht selten wird in bestimmte Zahlen mehr hineingedeutet, als sie aussagen können. Die Ziffern der Hopkins-Universität haben bisher meines Erachtens keine signifikant anderen Erkenntnisse über Deutschland gebracht.

Eine Analyse der  regionalen Unterschiede in den Corona-Fällen (so zum Beispiel die seit Beginn sehr günstigen Zahlen in Mecklenburg-Vorpommern oder auch in einigen Berliner Bezirken) kann dazu beitragen, unterschiedliches Vorgehen bei Lockerungen gut zu begründen und nachvollziehbar zu machen. Alle Gestorbenen mit Corona-Verdacht sollten obduziert werden, wie es nach Hamburg nun häufiger geschieht. Solche wichtigen Sektionen sind leider generell aus der Mode gekommen. Sie belegen zum Beispiel, dass es im Vergleich zur Influenza tatsächlich einen anderen Befall der Lungen bzw. anderer Organe gibt. Der Behandlungsbedarf anderer Krankheiten muss trotzdem  im Blick bleiben. In anderen Teilen der Welt bleiben Tuberkulose, Malaria, Hunger, unsauberes Wasser tödliche Bedrohungen, obwohl wir die Mittel dagegen kennen und hätten.

Eine der wichtigsten politischen Forderungen ist, das Gesundheitswesen (endlich) zu verändern, ja, zu verstaatlichen. Das hieße, es aus den Fesseln einer gewinnorientierten Gesundheitswirtschaft zu befreien. Denn dann könnten wir schneller und effektiver auf außergewöhnliche Aufgaben wie eine Epidemie reagieren. Der am Beginn der Corona-Krise erfolgte „Hilferuf“ von privatisierten Krankenhäusern nach Ausgleich ihrer Einnahmeausfälle, weil sie planbare Operationen verschieben sollten, ist bezeichnend. Im ambulanten Bereich schienen viele Ärzte mit ihren Praxen allein gelassen. Inwieweit sehen jedoch die kassenärztlichen Vereinigungen die Vorbereitung auf epidemische Situationen als Teil ihres Sicherstellungsauftrages? Der öffentliche Gesundheitsdienst, seit Jahren heruntergefahren, wird wegen seiner offensichtlich nicht ersetzbaren Funktion gelobt. Besonders Ärzte in diesem Bereich werden aber schon seit längerem unanständig schlecht vergütet.

Die Änderung der Eigentumsverhältnisse muss einhergehen mit der Befreiung der Krankenhäuser vom Fluch der Fallpauschalen. Das wäre nicht nur kostengünstiger, sondern auch medizinisch wirksamer. Ein Arzt ist kein (Klein-)Unternehmer! Diese Rolle führt zu Interessenkonflikten. Es ist kein Zufall, dass im ambulanten Bereich immer mehr Ärzte als Angestellte tätig sein wollen. Wenn das Gesundheitswesen staatlich wäre, könnten die als Medizinische Versorgungszentren etablierten Kapitalunternehmen, die oft täuschend als Polikliniken firmieren, keine privaten Gewinne aus der über die gesetzlichen Krankenversicherung erfolgenden Finanzierung ihrer Leistungen ziehen. Ja, es würde keiner mehr aus gesetzlichen Versicherungsbeiträgen sachfremde Erlöse erzielen.

Das Wort Gesundheit taucht im Grundgesetz überhaupt nicht auf! Wichtigste Verfassungsstütze bisher ist das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Ansatzpunkte bieten das Sozialstaatsgebot, Aussagen über den Schutz von Frauen und Kindern und über die allgemeinen Katastrophen- und Notstandssituationen. Demgegenüber gibt es völkerrechtliche Aussagen zu Gesundheit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im Uno-Menschenrechtsabkommen. In unserem Land kann man lange spitzfindige Gutachten lesen, die die Nichtaufnahme von Rechten in das Grundgesetz rechtfertigen. Zwar könnte man auch mit dem jetzigen Grundgesetz vieles ermöglichen, zum Beispiel den Aufbau von Polikliniken, die Abrechnung der Leistungen ohne Fallpauschalen, eine bessere Krankenhausplanung. Doch sollte die Corona-Erfahrung  Anlass sein, den Schutz der Gesundheit in das Grundgesetz aufzunehmen.

Wer das Gesundheitssystem verbessern will, sollte Konzept, Struktur und Ergebnisse des DDR-Gesundheitswesens kennen. Hier offenbart sich unaufschiebbarer Nachholbedarf. So nannte der letzte DDR-Gesundheitsminister Prof. Dr. Jürgen Kleditzsch (CDU) in der Regierung de Maizière die Gesundheitspolitik in Gesamtdeutschland  „konzeptionslos“, es fehlte an dem politischen Willen, die „positiven Seiten beider Seiten“ zusammenwachsen zu sehen. Ähnlich erinnerte sich Franz Knieps als nach dem Osten gesandter Gesundheitsexperte. Ihm wurde „von den eigenen Leuten“ gesagt: „Ich sei nicht in den Osten geschickt worden, um über den Erhalt von DDR-Strukturen nachzudenken, sondern um eine reibungslose Ausweitung der westdeutschen Krankenversicherung zu organisieren.“

Jeder Bürger hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und Arbeitskraft.

DDR-Verfassung, Artikel 35

Die DDR-Verfassung machte in fünf Artikeln Aussagen zur Gesundheit. Ich zitiere hier den Artikel 35:

(1) Jeder Bürger hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und Arbeitskraft.

(2) Dieses Recht wird durch die planmäßige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, die Pflege der Volksgesundheit, eine umfassende Sozialpolitik, die Förderung der Körperkultur, des Schul- und Volkssports und die Touristik gefördert.

(3) Auf der Grundlage eines sozialen Versicherungssystems werden bei Krankheit und Unfällen materielle Sicherheit, unentgeltliche ärztliche Hilfe, Arzneimittel und andere medizinischen Leistungen gewährt.

In weiteren Artikeln wird auf das Recht auf Betreuung im Alter, bei Invalidität und Arbeitsunfähigkeit sowie den Schutz und die medizinische Betreuung von Mutter und Kind abgestellt.

Was muss geschehen?

Die Grenzen der gegenwärtigen ambulanten Medizin mit seinen privaten Niederlassungen und den privaten  Versorgungszentren sollten durch das poliklinische Prinzip aufgelöst werden: unbürokratische Zusammenarbeit zwischen Ärzten, eine breitere Zugänglichkeit, längere Öffnungszeiten, effektivere Nutzung von Geräten und Labors, kurze Wege, effektivere Verwaltung. Der öffentliche Gesundheitsdienst muss gestärkt und qualifiziert werden. Es ist verantwortungslos, wenn zurzeit allein in Berlin wohl deutlich mehr als 50 Ärzte in diesem Bereich fehlen, weil sie nicht angemessen bezahlt werden.

Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Augenblick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren.

Bernard Lown, Gründer der Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg

Eine vernünftige Krankenhausplanung muss ein Krankenhausnetz zum Ziel haben, dem sich die Interessen der einzelnen Träger und Eigentümer unterordnen müssen. Auch in der DDR wurden die Bettenzahlen dem tatsächlichen Bedarf und den neuen Behandlungsmöglichkeiten angepasst und über die Jahre reduziert. Auch in der DDR spielte die Entwicklung von Kapazitäten bei schwierigen, seltenen Operationen oder Therapien eine wichtige Rolle. Doch der Effekt für die Gesundheit hatte das Primat, nicht Profitabilität.

Der berühmte amerikanische Herzspezialist und Gründer der Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg, Bernard Lown, schrieb im Vorwort seines Buches „Die verlorene Kunst des Heilens“: „Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Augenblick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren.“


Dr. med. Heinrich Niemann, 75, Studium an der Charité, ist Facharzt für Sozialmedizin und war von 1992 bis 2001 Gesundheitsstadtrat in Marzahn-Hellersdorf.

 

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Rammstein-Keyboarder kritisiert: "Die Wiedervereinigung war eine Sauerei"

 

teleschau

 

 

 

© Andreas Rentz/Getty Images In einem Interview übte Rammstein-Keyboarder Christian "Flake" Lorenz harte Kritik an der deutschen Wiedervereinigung.

 

In diesem Jahr jährt sich die deutsche Wiedervereinigung zum 30. Mal. Christian Lorenz, Keyboarder von Rammstein, ließ in einem Interview nun kein gutes Haar an der Wende.

Harte Worte von Rammstein-Keyboarder Christian Lorenz: In einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung "Der Standard" bezeichnete der Musiker die deutsche Wiedervereinigung als "Sauerei". Außerdem legte er nach: "Wir wurden als unnützes Land angegliedert, ganze Biografien für wertlos erklärt, Firmen geschlossen, damit sich die Westfirmen breitmachen konnten." Weil sich die Menschen im Osten deswegen "zurückgesetzt" gefühlt hätten, würden bis heute "Groll und Enttäuschung anhalten". Die Folge davon sei der anhaltende Rechtsruck in den ehemals ostdeutschen Bundesländern.

LIVE ABSTIMMUNG 5.243 MAL ABGESTIMMT

Wie finden Sie dieses Statement von Rammstein?

Sie haben eine ganz klare Meinung.

61%                                                       8  %                                                                        31%

Toll

Nicht gut

 

"Das politisch Linke hatten sie (...) schon in ihrem Leben, jetzt probieren sie es mit rechts", so die Meinung von Lorenz. Warum die Gunst vieler Wähler auf die AfD umschlägt, kann "Flake", wie sich der Musiker selbst nennt, aber nicht verstehen: "Wenn die AfD regieren würde, würden viele Leute sehr schnell merken, dass es nicht besser, sondern schlimmer wird." In Bezug auf die DDR sagte er hingegen, dass eine Pauschalisierung als "Unrechtsstaat" nicht angemessen sei. "Ich möchte nicht wissen, wie viele unschuldige Menschen im Westen eingesperrt und überwacht wurden beziehungsweise werden", fügte Lorenz hinzu

2017 veröffentlichte der Keyboarder mit "Heute hat die Welt Geburtstag" eine literarische Autobiografie über die Band, 2019 meldete sich die Rockband mit ihrem Studioalbum "Rammstein" zurück.

 

 

 

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Deutsche Demokratische Republik

Flagge der Deutschen Demokratischen Republik
Staatswappen der Deutschen Demokratischen Republik

 

 

East Germany 1956-1990.svg

Die DDR war das Ergebnis von der Befreiung des Hitlerfaschismus des II.Weltkrieges (1939-1945) durch die 4 Siegermächte UdSSR, USA, England und Frankreich.

 

Anmerkung: Auf dieser Seite wird von meiner Seite aus versucht, dass mitunter in der Bevölkerung der BRD und darüber hinaus bestehende Unkenntnis über die Entstehung der DDR, ihr Wesen usw. objektiv und realistisch darzustellen. Ich kann auch nicht den Anspruch auf Vollstäbdigkeit erheben, was alleine schon durch die begrenzt zur Verfügung stehende Seitenzahl nicht möglich ist.

Der RotFuchs Förderverein e.V. und hier die Regionalgruppe Rostock, deren Vorsitzender ich seit 2011 bin, hat am 5.Oktober 2019 aus Anlass des 70. Jahrestages der Gründung der DDR am 7.Oktober 1949, 

eine Festveranstaltung durchgeführt.

Im einzelnen, werden hier folgend ein paar wichtige Ausschnitte dokumentiert dargelegt. Es war die einzige Veranstaltung in ganz Mecklenburg Vorpommern gewesen, die dieses historisch wichtige Ereignis in würdevoller Form begangen hat.

 

                           Festveranstaltung

 

           Aus Anlass des 70. Jahrestages der Gründung der DDR(7.Oktober 1949)

 

                                                 lädt  der

 

         RotFuchs Förderverein e.V.

       Regionalgruppe Rostock

 

                   am Sonnabend  05. Oktober 2019

                      zum Thema

        „Gründung und Niedergang der DDR - Wendepunkte europäischer  Geschichte.“

(Bewahrender wie selbstkritischer Rückblick über 40 Jahre DDR)

 

Wir begrüssen als Referent:

 

 Egon Krenz  (Staatsratsvorsitzender der DDR a.D.)

               und  

 

 

 Hartmut König(Liedermacher und Journalist)

 

Beginn: 14.00 Uhr  - 17.00 Uhr (Einlass 13.00 Uhr)

 

Eintritt: frei          

 

Ort:    Stadtteilbegnungszentrum (SBZ) Toitenwinkel

           Olaf-Palme- Str. 26 in 18147 Rostock                                                               

 -Wir bitten zur Absicherung der Veranstaltung um eine Spende-

-       Der Vorstand –

Vor und nach der Festveranstaltung konnten sich die Gäste an den verschiedenen Infoständen des RotFuchs Fördervereins, der DKP, der Basisorganisation Die Linke Rostock-Stadtteil Dierkow sowie der Initiativgemeinschaft zum Schutz der Sozialen Rechte Ehemaliger Angehöriger Bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR e.V. (ISOR) 

informieren und Materialien erwerben.

 

 

( Bild von der Veranstaltung am 5.Oktober 2019)

Die DDR war ein Arbeiter und Bauernstaat und kein mir bekannter Staat hat in seiner Flagge alle in der Bevölkerung existierenden Schichten so vereint wie die DDR. Der Hammer steht für die Arbeiterklasse, der Zirkel für die Intelligenz inkl. der Kulturschaffenden, Wissenschaftler usw. Der Ehrenkranz welcher alle Schichten und Klassen vereint sind die Bauern bzw. gesamte Landbevölkerung.

Oft wird in hetzerischer und diffarmierender Form, die DDR als Diktatur bezeichnet. 

 

Die Diktatur (von lateinisch dictatura) ist eine Herrschaftsform, die sich durch eine einzelne regierende Person, den Diktator, oder eine regierende Gruppe von Personen (z. B. Partei, Militärjunta, Familie) mit weitreichender bis unbeschränkter politischer Macht auszeichnet.

In ihrer klassischen Bedeutung wird die Diktatur als legitimes Verfassungsinstitut zum Schutz der bestehenden verfassungsmäßigen Ordnung verstanden. Heute wird der Begriff verbreitet pejorativ zur Beschreibung einer Gewaltherrschaft verwendet.

 

Die DDR ist eine Diktatur des Proletariats gewesen, eine ausbeutungsfreie Gesellschaft, wo die Arbeiterklasse durch ihre marxistisch-leninistische Partei, die SED geführt worden ist.

In der DDR herrschte ein Mehrparteiensystem die sich mit weiteren Massenorganisationen in der Nationalen Front gemeinsam zu den Wahlen stellten. Neben den Parteien der DDR wie z.B.

teien:

Des Weiteren gab es weitere Organisationen in der DDR

 

 

Viele fleißige Helfer hatten in ehrenamtlicher Arbeit im Vorfeld Kuchen gebacken und präsentierten zudem noch frisch belegte Brötchen für den kleinen Hunger der Gäste.

Noch waren kurz vor Einlass der Festveranstaltung die über 150 Plätze frei.

 Mit einem Beamer wurden Bilder aus der DDR gezeigt, welche begleitet mit bekannter DDR-Musik auf die Veranstaltung einstimmten.

Mit einer kurzen Eröffnungsrede vom RotFuchs-Vorsitzenden Rostock, wurde die Festveranstaltung eröffnet.

 

Eröffnungsrede für den 5. Oktober 2019

 

Sehr geehrte Gäste, liebe RotFuchsmitglieder,

 

ich möchte Euch alle im Namen des Vorstandes der RotFuchs-Regionalgruppe Rostock, als Vorsitzender, am Vorabend des 70. Jahrestages der Gründung der DDR auf das Herzlichste begrüßen.
 Mein Name ist Carsten Hanke.

Ich freue mich, dass an unserer heutigen Veranstaltung 2 prominente Gäste teilnehmen. Zum einen Egon Krenz, ehemaliger DDR Staatsratsvorsitzender und Hartmut König, einstiger stellvertretender Minister für Kultur der DDR.

Dr. Henning Schleif langjährige Oberbürgermeister unserer Hansestadt Rostock und der ehemalige 1. Sekretär der SED Bezirksleitung Rostock Ulli Peck haben es sich nicht nehmen lassen ebenfalls an unserer Veranstaltung teilzunehmen.

Genauso freue ich mich, dass zahlreiche Mitglieder aus linksorientierten Parteien, Organisationen wie zum Beispiel der DKP, Vertreter von ISOR,  dem Rostocker Friedensbündnis, heute mit uns gemeinsam diese Veranstaltung begehen.

Wir wollen mit unserer heutigen Festveranstaltung,  neben einem unter historischen Gesichtspunkten geführten Rückblick auf die vor 70 Jahren gegründete DDR , eine realistische und objektive Betrachtung vornehmen, ohne den Anspruch der Vollständigkeit erheben zu wollen und zu können.

Unser Anspruch ist es, bei unserem Rückblick auf die DDR, auf zu Bewahrendes aus den 40 Jahren ihrer Existenz hinzuweisen, wie unter einer selbstkritischen Betrachtung auch auf jene Erscheinungen aufmerksam zu machen, die dem Aufbau des Sozialismus in der DDR geschadet haben. Diese selbstkritische Bewertung der DDR ist unerlässlich, wenn wir für die nachfolgenden Generationen glaubhaft und nachvollziehbar die Erkenntnis vermitteln wollen, dass der Sozialismus die einzige gesellschaftliche Alternative ist, die die Existenz der Menschheit in einer friedlichen Zukunft garantiert, ein Leben ohne Hunger und Not bietet, soziale Gerechtigkeit unter allen Menschen charakterisiert - kurzum, der Mensch im Mittelpunkt der Gesellschaft steht.

Wenn wir heute den Rückblick auf die DDR wagen, sollten wir stets in allen Bewertungen berücksichtigen, dass uns aus heutiger Sicht viele Erkenntnisse über Zusammenhänge vorliegen und wir uns, gepaart mit reichlich Lebenserfahrung aus 30 Jahre erlebtem Kapitalismus, alle geformt und verändert haben. Diese ganzen Erkenntnisse müssen im Zusammenhang der damaligen innerstaatlichen Entwicklung ebenso in der Bewertung ihre Berücksichtigung finden, wie die gesellschaftliche und weltpolitische Lage insgesamt.

Wir sollten uns auch bewusst machen, dass der Aufbau einer völlig neuen Gesellschaft, wo erstmals die Ausbeutung durch den Menschen abgeschafft worden ist, stets von den kapitalistischen Staaten mit allen Mitteln bekämpft wurde. In unseren Überlegungen sollten wir u.a. mit berücksichtigen, wie lange der Kapitalismus in seiner Entwicklung brauchte, um in Europa vorherrschend zu sein und wie lange es die kommunistische Idee gibt. Der Weg zum Kapitalismus ist mit vielen Kriegen gekennzeichnet. Kapitalismus ohne Krieg, ist kein Kapitalismus. Das gilt bis zum heutigen Tage. Ich will in diesem Zusammenhang nur an den Krieg gegen Jugoslawien  und an Afghanistan erinnern.

Nun haben Marx, Engels und Lenin uns in theoretischer wie in praktischer Form bewiesen, dass die menschliche Gesellschaft Entwicklungsstufen durchläuft. Das ist ein Prozess, der durch Höhen und Tiefen und somit auch mit Siegen und Niederlagen gekennzeichnet ist.

Folgerichtig ist der europäische Sozialismusversuch als Niederlage 1989 zu bewerten. Es liegt doch nun aber an uns, die sich links verstehen, diese für uns schmerzhafte Niederlage zu analysieren und gestärkt eine erneuten Versuch beim Aufbau einer friedlichen von Ausbeutung befreiten Gesellschaft zu wagen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass jedem der hier Anwesenden mindestens eine Begebenheit aus seinem Leben einfällt, wo nicht gleich beim Ersten Versuch etwas Neues zu schaffen, dieses so gelungen war, dass man mit dem Ergebnis zufrieden war, und ein erneuter Versuch gestartet wurde.

Bei der Bewertung unserer Niederlage gilt es zu berücksichtigen, dass auf den Trümmern des II.Weltkrieges quasi aus dem Nichts heraus ein gesellschaftlicher Neuanfang gewagt worden ist. Noch Die Menschen in der DDR, wie in den meisten Staaten der späteren sozialistischen Staatengemeinschaft Europas, haben sich nicht durch eine Revolution selbst vom Faschismus befreit, (auch wenn viele daran beteiligt waren) sondern wurden durch die Heldentaten der UdSSR-Bürger befreit. Das ist jene Tatsache, die uns von den Kubanern, Vietnamesen, Chinesen auch den Venezolanern unterscheidet.

Unter Berücksichtigung der aktuellen sehr angespannten innenpolitischen Situation in der BRD mit der täglich wachsenden sozialen Ungerechtigkeit, dem zunehmenden Einfluss rechtsextremen Gedankengutes in gesellschaftlichen Prozessen, dem Abbau demokratischer Grundrechte - wie z.B. den Ausbau der Überwachung, bis hin zur Militarisierung der Gesellschaft macht es zudem unter Beachtung der vielen territorialen noch weltweit begrenzten bewaffneten Konflikte und damit einhergehenden Gefahr des Ausbruchs eines Weltkrieges für unabdingbar, die einzige friedliche gesellschaftliche Alternative, die des Sozialismus zu thematisieren, wo erst mit der Abschaffung des Profitstrebens auch die Grundlage für ein ökologisches Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur geschaffen werden kann.

Bei aller notwendigen selbstkritischen Reflexion über die DDR, ist es notwendig, auf zu Bewahrendes hinzuweisen und dieses ins Bewusstsein der nachfolgenden Generationen zu vermitteln.

Wir hoffen und wünschen Ihnen, liebe Anwesende, dass aus der heutigen Veranstaltung viele Anregungen mitgenommen werden können, die neben eines persönlichen Nachdenkens auch dazu animieren, dass im Rahmen der persönlichen Möglichkeiten man sich an weiteren Aktivitäten beteiligt, neue Aktionen entwickelt - einfach sich einbringt, um die gesellschaftliche Alternative des Sozialismus weiter zu vermitteln.

 

Danke für eure Aufmerksamkeit und nun lasst uns beginnen.

 

 Dr.Hartmut König (Mitbegründer des Oktoberklubs der DDR und stellv. Minister der DDR für Kultur), sorgte für seine Gesangseinlagen und Gedichtvorträge für die kulturelle Umrahmung der Festveranstaltung

Macht euch die Trauer nicht bequem

Text und Musik: Hartmut König

 

Die Fahne, Freunde, ausgebleicht.
Das Ziel der Klasse nicht erreicht.

Macht euch die Trauer nicht bequem...
in Ohnmacht, Hass und alledem.

 

Was uns aus Trümmern auferstand:
Der alte Traum von Volkes Land,
die Sehnsucht nach Gerechtigkeit,
die brauchen Zeit. Trotz alledem.

 

Der Wind ist kalt. Die Lage heiß.
Das wirft kein' Linken aus dem Gleis,
der nicht den Marxschen Wink vergisst,
dass unsre Welt zu ändern ist.

 

Nicht nur an Feindes Fäden hing,
dass unser Land zu Scherben ging.
Die Freiheit, die der Sache nützt,
war schlecht beschützt. Trotz alledem.

 

Darum Genossen, rote Zunft!
Vergangenheit wird durch Vernunft
gesiebt in Fehler und Gewinn.
Nehmen wir's hin. Trotz alledem.

 

Und lasst uns Linke einig sein,
verschieben alle Streiterein,
bis, was an unsrer Seele frisst,
der braune Mob, zerschlagen ist.

 

Gebt keinen auf, der heute spürt,
er wird von oben durchregiert,
und seine Wut den Falschen leiht.
Auch er kann lernen mit der Zeit.

 

Der Wind ist kalt. Die Lage heiß.
Das wirft kein' Linken aus dem Gleis,
der nicht den Marxschen Wink vergisst,
dass unsre Welt zu ändern ist.

 

Den Krieg ins Gegenteil verkehrt!
Die Völker, wieder aufgeklärt,
die fordern ihre Rechte ein.
So wird es sein. Trotz alledem.

 

Der Wind ist kalt. Die Lage heiß.
Das wirft kein' Linken aus dem Gleis,
der nicht den Marxschen Wink vergisst,
dass unsre Welt zu ändern ist.

 

 

Unser Gastredner Egon Krenz (letzter Staatsratsvorsitzender der DDR a.D.) hielt eine sehr faktenreiche und emotional gehaltene Rede.

 

Nicht das DDR-Erbe,

sondern Nazis und Neonazis sind eine Gefahr für Deutschland

 

(Rede von Egon Krenz auf der RotFuchsveranstaltung am 5.10.2019 in Rostock und auf der Erinnerungsveranstaltung des DDR- Kabinetts Bochum zum 70. Jahrestag der DDR am 12. Oktober 2019)

 

 

Liebe Freunde,

 

lieber Vertreter der Botschaft der Russischen Föderation,

über Ihre Teilnahme an dieser Veranstaltung freue ich mich besonders. Vierzig Jahre DDR wären ohne die Sowjetunion undenkbar gewesen. Übermitteln Sie bitte Präsident Putin, dass die heute hier Versammelten und mit ihnen Millionen Ostdeutsche nie vergessen, dass 27 Millionen Sowjetbürger ihr Leben auch für unsere Freiheit und die Freiheit Europas vom Faschismus gegeben haben.

 

Liebe Anwesende,

es gibt ein wunderbares Kinderlied, das wohl jeden DDR-Bürger begleitete. Von frühester Kindheit bis zum Lebensende. Erinnert sei an jene Augenblicke, als der gut in der DDR integrierte Kanadier Perry Friedmann mit seinem Banjo auf der Bühne stand und leise anstimmte: „Kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land“, und endete mit der Aufforderung: Kleine weiße Friedenstaube,  komm recht bald zurück“.

 

Sie kam nicht mehr zurück, die Friedenstaube. Das Lied ward nur noch selten gesungen seit es die DDR nicht mehr gibt. Und sie mochte wohl auch nicht zurück kommen in ein deutsches Land, das wieder Kriege führt, erst in Jugoslawien, dann in Afghanistan und in weiteren Kampfeinsätzen mit mehr als 100 gefallenen deutschen Soldaten. 

 

In 40 DDR-Jahren hat nicht ein Soldat der Nationalen Volksarmee fremden Boden zu Kampfeinsätzen betreten. Undenkbar auch, dass ein Oberst der Nationalen Volksarmee wie jener der Bundeswehr in Afghanistan einen Befehl hätte geben können, in dessen Folge allein in einer Nacht mehr als 150 Zivilisten getötet wurden und der dennoch zum General der Bundeswehr befördert wurde.

 

„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!“ Dieser Schwur von Buchenwald war das Fundament, auf dem die Deutsche Demokratische Republik am 7. Oktober 1949 gegründet wurde.

 

Niemand kann die Wahrheit aus der Welt schaffen: Die DDR ist in der langen deutschen Geschichte der einzige Staat, der nie einen Krieg geführt hat. Allein das rechtfertigt, sich ihrer mit größtem Respekt zu erinnern. Dazu haben wir uns hier und heute verabredet. Auch wenn Soldschreiber das verhindern wollten. 

 

Wir - das sind sehr unterschiedliche Menschen, die sich ihr gelebtes Leben nicht von jenen erklären lassen möchten, die schon immer Schwierigkeiten mit der Wahrheit hatten oder die hier nie zu Hause waren – wir erinnern uns nicht als Nostalgiker, auch nicht als „Osttalgiker“, einem Modewort, das nur benutzt wird, um unsere Erinnerung und Besinnung an Werte der DDR zu denunzieren.

 

Wir sind auch keine Ignoranten, die nicht sehen wollen, dass auch seit 1990 viel geleistet wurde. Wir glorifizieren die DDR nicht. Nein, wir sind wache Zeitgenossen, die Erfahrungen in zwei gesellschaftlichen Systemen haben und dadurch gut vergleichen können, was die DDR wirklich war und was ihr blinde Wut an Schlechtem andichtet.

 

Unter dem Strich war die DDR nach der Wiederbelebung kapitalistischer Verhältnisse in Westdeutschland und dem Aufstehen alter Nazis die einzig vernünftige Alternative zu einem Deutschland, das für zwei Weltkriege und die grausame faschistische Diktatur verantwortlich war.

 

Zu ihrem Gründungsmotiv gehörte auch die deutsche Einheit. Es hätte die DDR nie gegeben, wenn nicht zuvor der Separatstaat Bundesrepublik geschaffen worden wäre. „Dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land“, hatte sich Bert Brecht gewünscht.  Und Bechers Text „Deutschland, einig Vaterland“ war der beste Gegenentwurf zu „Deutschland, Deutschland über alles.“

 

Dass es damals nicht zu einem einheitlichen Deutschland kam, liegt nicht nur, aber wesentlich an der alten Bundesrepublik. Als ihr Grundgesetz vorbereitet wurde, verkündete einer seiner Väter, „alles deutsche Gebiet außerhalb der Bundesrepublik ist als Irredenta“1, also als Gebiet unter Fremdherrschaft anzusehen, „deren Heimholung mit allen Mitteln zu betreiben wäre." Und:  Wer sich dem nicht unterwerfe, hieß es, sei „als Hochverräter zu behandeln und zu verfolgen"2.

 

Das Szenario also für den Umgang des westdeutschen Staates mit den Ostdeutschen stammt schon aus einer Zeit, als die DDR noch gar nicht existierte, als sie all die Untaten, die man ihr heute zuschreibt, noch gar nicht vollbracht haben konnte. Die Geburtsurkunde des Hasses auf die DDR war und bleibt der Antikommunismus, den Thomas Mann schon im vergangenen Jahrhundert eine Grundtorheit genannt hatte.

 

Es war Konrad Adenauer, der erklärte: „Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung. Das Wort Wiedervereinigung soll endlich verschwinden. Es hat schon zu viel Unheil gebracht. Befreiung ist die Parole.“3

 

Was hängte man der DDR nicht alles an?  „Russenknechte“ waren wir, „Vollstrecker Stalins Willen in Deutschland“, auch „Zonenheinis“ nannte man uns. Für Adenauer begann an Elbe und Werra Sibirien. Soviel Unsinn ließ sich dann nicht mehr aufrecht erhalten, als die UNO beide deutsche Staaten als gleichberechtigt anerkannte und 134 Länder mit der DDR diplomatische Beziehungen aufnahmen. 

 

Da kam es dann schon einmal vor, dass beispielsweise der Vize-Chef der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Rühe, schwärmte: Ein Gespräch mit Honecker sei „angenehmer und konstruktiver als ein Gespräch mit der britischen Regierungschefin“.

Oder hochrangige bundesdeutsche Politiker aller Couleur ein Foto mit dem SED Generalsekretär als Hilfe für ihren Wahlkampf wünschten. Schließlich war es Helmut Kohl, der Honecker einen „zuverlässigen Partner“ nannte und sein Nachfolger Gerhard Schröder sich vom DDR-Staatsratsvorsitzenden regelrecht beeindruckt zeigte. In dieser Zeit schloss man dann auch völkerrechtlich bindende Verträge und empfing 1987 gar das DDR Staatsoberhaupt zu einem offiziellen Besuch mit allen diplomatischen Ehren.

 

Doch dann1990: Man kehrte zurück zum irren Geschichtsbild der fünfziger Jahre, das nun immer noch gilt und die politische Atmosphäre vergiftet. 

 

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung wiederholte in seinem Regierungsbericht eigentlich nur, was seit 29 Jahren Standard ist:

An allem, was in der Bundesrepublik nicht funktioniert, ist die „marode“ DDR Schuld, die angeblich nur Verbrechen und Schulden in die Einheit mitgebracht hätte. 

 

Dieser Mann war 1989 gerade einmal 13 Jahre alt. Dennoch erinnert er sich noch ganz genau daran, dass die Ostdeutschen das Pech gehabt hätten, „40 Jahre auf der falschen Seite der Geschichte gestanden“ zu haben. Dieses Nachplappern geistloser Stereotype aus den Jahren des kalten Krieges stimmt nun aber keinesfalls mit den praktischen Erfahrungen sehr, sehr vieler Bürger aus der DDR überein. Wenn inzwischen nur 38 Prozent der Ostdeutschen die Vereinigung für gelungen halten und 57 Prozent sich gar als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen, müssten sich doch die Regierenden endlich mal fragen, wo dafür die Ursachen liegen.   

 

Als Gregor Gysi noch DDR-Bürger war, hat er in jener schicksalhaften Nacht als in der damaligen Volkskammer der Anschluss der DDR an die Bundesrepublik deklariert wurde, den Abgeordneten zugerufen: « Ich bedauere, dass die Beschlussfassung im Hauruckverfahren … geschehen ist und keine würdige Form ohne Wahlkampftaktik gefunden hat; denn die DDR …  war für jeden von uns – mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen – das bisherige Leben. So wie wir alle geworden sind, sind wie hier geworden, und ich bedauere, dass der Einigungsprozess zum Anschluss degradiert ist.»

 

Dieser grundlegende Mangel macht sich bis heute bemerkbar.

Respekt will Angela Merkel laut ihrer Rede zum Einheitsjubiläum jenen entgegenbringen, die «Opfer des SED – Regimes» waren und die gegen das Regime gekämpft hätten. Soweit so gut, wenn es sich um tatsächliche und nicht vermeintliche Opfer handelt.  Das bedeutet aber in der Praxis eine weitere Ausgrenzung von Millionen Bürgern, denen die DDR Herzenssache war und die sich für ihren Staat ein Leben lang engagierten. 

 

Frau Merkel ist offensichtlich entgangen: DDR-Bürger hatten nicht nur die Trümmer des Zweiten Weltkrieges beseitigt, Städte und Dörfer wieder bewohnbar gemacht, wertvolle kulturhistorische Bauten wieder errichtet, sondern auch zahlreiche neue Betriebe, Straßen, Stadtteile und Städte mit modernen Wohnungen, Schulen, Kinderkrippen und Kindergärten, Ambulatorien, Krankenhäusern Sport- und Kulturstätten geschaffen. Es gab 1945 nichts, aber auch gar nichts, was die DDR hätte runter wirtschaften können

 

Es ist doch ein großer Irrtum, anzunehmen, die DDR sei vierzig Jahre gegen das Volk regiert worden. Es gab Jahre großer Zustimmung - wie beispielsweise beim Volksentscheid 1968 über die DDR-Verfassung, die nach gründlicher Volksausprache von 94,5 % der Bevölkerung bestätigt wurde.  Eine durch Volksentscheid angenommene Verfassung wurde 1990 gesetzwidrig ohne Volksentscheid aufgehoben.

 

Die Wahrheit ist doch: Es haben sich nicht zwei Staaten vereinigt, sondern der eine hat den anderen übernommen und bestimmt die Regeln. DDR-Bürger wurden nie befragt, ob sie das auch wollten. So etwas hat Langzeitfolgen. Was ich da im Zusammenhang mit dem 9. Oktober 1989 in den letzten Tagen in den Medien gelesen, gehört oder gesehen habe, zeigt:  Je weiter wir uns zeitlich vom Ende der DDR entfernen, um so märchenhafter, wirklichkeitsfremder und boshafter werden die offiziellen Ausfälle gegen sie.  Geht es nach den Meinungsführern des Politikgeschäfts, dann sind die früheren DDR- Bürger nur noch ein Millionenhäuflein gegängelter Kreaturen, eingesperrt hinter einer Mauer mit einer schrottreifen Wirtschaft, umgeben von Mief und Muff und „Spitzeln“ der Staatssicherheit.

 

Heiner Müller, bestimmt kein unkritischer DDR-Bürger,  hat dies sehr frühzeitig mit seinem Urteil entlarvt: „Der historische Blick auf die DDR“, schreibt er, „ ist von einer moralischen Sichtblende verstellt, die gebraucht wird, um Lücken der eigenen moralischen Totalität zu schließen.“4

 

Die Kraft, das Geld und die Ressourcen, die man einsetzt, um die DDR zu denunzieren – eine ganze „Aufarbeitungsindustrie“ ist damit beschäftigt – wären sinnvoller angelegt für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass.  Nazis, Neonazis und die Brunnenvergifter in der AfD sind eine Gefahr für Deutschland – nicht das Erbe der DDR. Antisemitismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.

In der DDR -Verfassung heißt es dazu im Artikel 6: „Militaristische und revanchistische Propaganda in jeder Form, Kriegshetze und Bekundung von Glaubens-, Rassen- und Völkerhass werden als Verbrechen geahndet“.5 

 

Es gibt sehr viele Gründe für Enttäuschungen bei nicht wenigen Ostdeutschen. Einer davon ist: So - wie die DDR heute darstellt wird - so war sie einfach nicht. Für eine große Mehrheit der DDR-Bürger war ihr Staat kein „Unrechtsstaat“.  Die aufgewärmte Debatte darüber ist weiter nichts als eine Ablenkung von den Gebrechen der heutigen Gesellschaft. Wer über DDR-Unrecht spricht, braucht sich nicht zu rechtfertigen, warum die Regierenden heute mit den vielen ernsthaften Problem nicht fertig werden, der kann ablenken von Niedriglöhnen, drohender Alters- und Kindesarmut, auch davon, wie rücksichtslos mit DDR-Biografien umgegangen wird. 

 

Beim Werden und Wachsen der DDR gab es Siege und Niederlagen, Freude und Enttäuschung - leider auch Opfer. So sehr ich diese bedauere, bleibt doch wahr: Die Geschichte der DDR ist keine Kette von Fehlern oder gar Verbrechen. Sie ist vielmehr die Geschichte eines

    • Ausbruchs aus dem ewigen deutschen Kreislauf von Krieg und Krisen, eines

    • Aufbruchs für eine tatsächliche Alternative zum Kapitalismus, einer

    • Absage an Faschismus und Rassenhass, Antisemitismus und Russenphobie.

 

Und weil sehr viele DDR-Bürger dem verbunden waren, ist die Degradierung der DDR zu einem „Unrechtsstaat“ in vielerlei Hinsicht auch eine Beleidigung derer, die sich zur DDR bekannten. Die DDR wollte nie sein wie die alte Bundesrepublik. Es ist daher auch dumm, sie nach den Maßstäben der Bundesrepublik zu bewerten.

 

Vor zehn Jahren hielt Bundespräsident Köhler auf einer Veranstaltung zum 9. Oktober 1989 die Rede, in der er unter anderem ausführte:

«… Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt».

 

Wie gruselig, wie furchteinflößend und welch ein Zeichen von Unmenschlichkeit der DDR!

Die Sache hat nur den Haken: So etwas hat es nie gegeben.

Fritz Streletz, der langjährige Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, und ich haben den Bundespräsidenten in Vorbereitung seiner Rede zum 30. Jahrestag der Leipziger Ereignisse in einem Brief gebeten, diese Unwahrheit richtig zu stellen. Aus eigenem Wissen und auf der Grundlage von geltenden Beschlüssen und Befehlen teilten wir mit: «In oder vor der Stadt gab es keine Panzer, auch existierte zu keiner Zeit ein Befehl zum Schießen. Weder wurden Herzchirurgen zur Behandlung von Schusswaffen eingewiesen noch Leichensäcke bereitgelegt.»

 

Leider nutzte der Bundespräsident die Gelegenheit nicht, die immer noch verbreitete Lüge aus der Welt zu schaffen. An einer Stelle seiner Rede sagte er, die Geschichte wäre anders verlaufen, hätte nicht Gorbatschow die SED - Führung zur Zurückhaltung gemahnt. Es wäre gut gewesen, der Herr Bundespräsident hätte die Quelle für diese Behauptung benannt. Aus eigenem Wissen kann ich nämlich sagen: Eine solche Mahnung hat es nie gegeben.  Sie war auch nicht notwendig. Selbst Gorbatschow schreibt in seinen «Erinnerungen», dass die DDR-Führung «über hinreichend Vernunft und Mut verfügte, um keinen Versuch zu unternehmen, die Unzufriedenheit der Bevölkerung in Blut zu ersticken.»6 

 

Eine Mahnung Gorbatschows gab es am 10. November 1989. Sie war nicht an die DDR, sondern an Bundeskanzler Kohl gerichtet, alle nationalistischen Töne zu unterlassen,  «Erklärungen aus der BRD, die vor diesem politischen und psychologischen Hintergrund abgegeben werden, die unter Losungen der Unversöhnlichkeit gegenüber der realen Existenz zweiter deutscher Staaten Emotionen und Leidenschaften anheizen sollen, können kein anderes Ziel verfolgen, als die Lage in der DDR zu destabilisieren und die sich dort entwickelnden Prozesse der Demokratisierung und Erneuerung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu untergraben“7.

 

Es ist irre, die DDR nur von ihrem Ende her zu beurteilen. Es ist zudem eine Geschichtsfälschung, so zu tun, als wären die Leute im Herbst 89 schon für die Einheit Deutschlands auf die Straße gegangen.

 

Im Aufruf der Leipziger Sechs unter Leitung von Generalmusikdirektor Masur, der interessanter Weise kaum noch erwähnt wird, lautet der Kernsatz: „Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land“.8

 

Einer, der kürzlich für seinen Beitrag zur deutschen Einheit vom Bundespräsidenten ausgezeichnet wurde, Pfarrer Eppelmann, schrieb mir noch am 24. Oktober 1989 in einem persönlichen Brief, den auch Pfarrer Schorlemmer unterzeichnet hatte – Zitat - : „Uns geht es um die Entwicklung von Demokratie und Sozialismus in unserem Land.“9.

 

Ja, es gab natürlich auch die anderen, die sich nicht wohlfühlten in der DDR, die leider weg gingen oder sich selbst aus der Gesellschaft ausschlossen. Oder jene, die angeblich schon immer wussten, dass es nichts werden könne mit dem Sozialismus auf deutschem Boden. Oder auch jene, die damals besonders laut „Hurra“ riefen und nun mit Übereifer die vermeintlichen Vorzüge der neue Macht beschreiben.

 

Ihnen und vor allen den Medien, auch dem Bundespräsidenten, müsste bei etwas mehr Realismus doch klar sein: Sie können nicht für alle Ostdeutschen sprechen. Wer sich für die DDR engagierte, tat dies doch in der Überzeugung, dem Guten in Deutschland zu dienen, hat seinem Staat viel von seiner Lebenskraft gegeben und hat ein Recht, dafür auch in der Bundesrepublik respektiert zu werden.

 

Wir haben 1989 eine Niederlage erlitten, eine bittere, die schmerzt – das ist wohl wahr.  Aber wir sind nicht aus der Geschichte ausgestiegen.  So wie sie heute ist, diese Welt, wird sie nicht bleiben. Der Kapitalismus wird nicht das letzte Wort der Geschichte sein.

 

Und dann werden wir sehen, wer am Ende auf der richtigen Seite steht. Wir werden es wahrscheinlich nicht mehr erleben, aber spätesten seit Thomas Münzer gilt: Die Enkel fechten‘s besser aus. Diesen historischen Optimismus möchte ich mir gerne erhalten. Auch deshalb, weil es da noch weit im Osten ein Land gibt, das gerade den 70. Jahrestag seiner Volksrepublik gefeiert hat.

 

Unabhängig davon ist es aktueller denn je, endlich die Lebensleistungen der DDR-Bürger anzuerkennen, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu zahlen, gleiche Renten für gleiche Lebensleistungen zu geben, die Strafrenten abzuschaffen und für alle Kinder und Jugendlichen Chancengleichheit zu schaffen.  Der Artikel Eins des Grundgesetzes – die Würde des Menschen ist unantastbar – muss für alle Deutschen gelten, auch für diejenigen, die für die DDR arbeiteten, einschließlich der Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. Ohne dies wird es noch Jahrzehnte dauern, bis die deutsche Einheit vollendet wird.

 

Wir sind nicht die ewig Gestrigen, für die man uns hält. Wir sind eher die ewig Morgigen. Wir möchten, dass unsere Kinder, Enkel und Urenkel auf einem gesunden Planeten eine friedliche Zukunft haben. Deshalb gehen wir mit dem DDR - Erbe durchaus selbstkritisch um, aber vor allem selbstbewusst und nicht mit gebeugtem Rücken.

 

Gerade deswegen fragen wir uns auch, was die DDR geschichtlich auf deutschem Boden einmalig macht.

 

Als in den Nachkriegsjahren im Westen wieder alte Nazis Lehrer, Juristen oder Beamte sein durften, fand im Osten eine antifaschistisch - demokratische Umwälzung statt, die 1949 die DDR zum antifaschistischen deutschen Staat werden ließ. 

 

In Vorbereitung darauf wurden 7136 Großgrundbesitzer und 4142 Nazi- und Kriegsverbrecher entschädigungslos enteignet.

520 000 ehemalige Nazis wurden aus öffentlichen Ämtern entfernt. 

Am 30. Juni 1946 stimmten mehr als 72,00 % der Bürger Sachsens in einem Volksentscheid für die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher ab.10 

 

    • In Ostdeutschland kam Junkerland tatsächlich in Bauernhand;

    • Kein Nazi durfte Lehrer sein. 

    • In Schnellverfahren wurden 43 000 Frauen und Männer zu Neulehrern ausgebildet, die zwar manchmal – wie es damals hieß - nicht genau wussten, ob man Blume mit oder ohne „h“ schreibt - dafür aber Mut hatten, dem Ruf eines FDJ - Liedes zu folgen:

„Um uns selber müssen wir uns selber kümmern,

und heraus gegen uns, wer sich traut“.

    • Nazis durften kein Recht sprechen, Volksrichter wurden gewählt,

    • Fakultäten entstanden, die dafür sorgten, dass Arbeiter und Bauern auf die Hochschulen kamen. Schon 1952 waren über die Hälfte der Studenten Kinder von Arbeitern und Bauern. So etwas hatte es in Deutschland zuvor nie gegeben und es gibt es lauch nach dem Ende der DDR nicht mehr. 

 

Das Kriminelle an diesem Fakt ist:

40 Jahre nach Gründung der Arbeiter- und Bauernfakultäten wurden viele ihrer Absolventen, die inzwischen in der DDR hervorragende Wissenschaftler, Ingenieure, Mediziner, Juristen, Lehrer und anderes geworden waren, nicht selten gegen zweit- und drittklassige aus dem Westen ausgetauscht. Wer kritisiert, dass heutzutage so wenig Ostdeutsche in Ostdeutschland etwas zu sagen haben, der darf nicht vergessen, was 1990 mit der ostdeutschen Elite gemacht wurde. Allerdings ein Begriff, den wir in der DDR kaum gebrauchten, weil wir die Gesellschaft nicht in Elite und gemeines Volk einteilten.

 

Es ist zu billig zu sagen, die Ostdeutschen hätten den Elitenaustausch gewollt. Ja, manche, die meinten, sie seien zu kurz gekommen, schon. Ich erinnere mich aber an ein Urteil eines nicht unbekannten westdeutschen Wissenschaftlers. Die DDR habe »fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt«, schrieb ein Arnulf Baring 1991. 

Und weiter:

»Ob sich heute dort einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig

egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken unbrauchbar […] Wir

können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden

vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts

nutzen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden

Fachkenntnisse nicht weiterverwendbar. Sie haben einfach

nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen

können,«

 

Meines Wissens hat niemand aus der Bundesregierung solcher Dummheit widersprochen.  Wie auch dem Slogan nicht „Leben wie bei Kohl und arbeiten wie bei Honecker“, was die Ostdeutschen quasi zu Schmarotzern erklärte oder dem Urteil, Ursache für rechtes Gedankengut im Osten sei das „Zwangstopfen“ in den Kinderkrippen der DDR. Nicht vergessen auch die Kampagne gegen die Roten Socken, in dessen Folge nicht wenige DDR – Bürger durch Selbstmord aus dem Leben schieden. Obwohl dies nicht wenige waren, gibt es darüber in der Bundesrepublik nicht einmal eine Statistik.   

 

Man kann sich bei diesen Verleumdungen nicht darauf zurückziehen, dass es sich um freie private Meinungsäußerungen handle. Was hatte doch Justizminister Kinkel am 23. September 1991 auf dem 15. Deutschen Richtertag in Köln gesagt?

 

Ich zitiere: »Sie, meine Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte … eine ganz besondere Aufgabe ...: mit dem fertigzuwerden, was uns das vierzigjährige Unrechtsregime in der früheren DDR hinterlassen hat. ... Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat …»11  

 

Was bedeutete das?

Die Deindustrialisierung der DDR ging einher mit tiefen Kränkungen von DDR-Bürgern.  Solche Kränkungen lassen sich schwer aus dem Gedächtnis streichen, auch an der Wahlurne nicht. 

 

Herr Gauck, der oft von sich nur in der dritten Person spricht, rühmte die Auswechselung der Eliten gar mit den Worten: »Wir konnten nicht zulassen, dass die sozialistischen Globkes in ihren Ämtern und Positionen in Staat und Gesellschaft blieben«.

 

Dies war eine empörende Gleichsetzung von Tausenden entlassenen Lehrern und Wissenschaftlern, Juristen und Angestellten der DDR mit dem Mitautor des Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen. Schlimm genug, dass dieser Mann in der Bundesrepublik zum wichtigsten Politiker hinter Konrad Adenauer aufstieg. Wie weit aber muss jemand von geschichtlicher Wahrheit und Anständigkeit entfernt sein, der Globke heranzieht, um zu begründen, warum 1990 die Eliten der DDR ausgetauscht wurden? 

Nach vorliegenden Untersuchungen wechselten die Nazis 1933 elf Prozent der Eliten des Deutschen Reiches aus. In Westdeutschland wurden 1945 lediglich dreizehn Prozent der Nazikader entfernt. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten ins berufliche und damit nicht selten auch ins soziale Aus

 

Als Herr Gauck zum Bundespräsidenten gewählt wurde, bekannte er schon im zweiten Satz seiner Rede: „Wir …, die nach 56-jähriger Herrschaft von Diktatoren endlich Bürger sein durften. ... “

 

Gauck wirft 12 Jahre Hitler – Barbarei, 4 Jahre sowjetisch besetzte Zone und 40 DDR-Jahre in einen Topf. Faktisch werden die Ostdeutschen zu Menschen erniedrigt, die 1945 nur von braun zu rot gewechselt sind und kritiklos Diktatoren folgten. Dabei wird jede antifaschistische Gesinnung außer Acht gelassen.

Jedes Gleichheitszeichen zwischen dem Nazireich und der DDR verbietet sich schon angesichts von Auschwitz von selbst, angesichts des Blutzolls, den unter allen Parteien Kommunisten und Sozialdemokraten am höchsten entrichtet haben, angesichts von mehr als 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges. 

Man bezeichnet hierzulande den deutschen Faschismus ja bis heute irreführend und verharmlosend als Nationalsozialismus. Dabei sollte inzwischen jeder einigermaßen gebildete Mensch wissen, dass der weder national noch sozialistisch war, sondern einmalig verbrecherisch und kapitalistisch.

Die schrittweise und durchaus widersprüchliche Überwindung der Naziideologie war eine der größten Leistungen der DDR, die wir uns von niemandem kleinreden lassen sollten.

Die DDR war die deutsche Heimstatt des Antifaschismus.  Ein Globke, ein Filbinger, ein Oberländer oder auch ein Kissinger hätten in der DDR nie eine Chance auf ein Amt gehabt.

Ich habe mir oft die Frage gestellt:

Warum eigentlich gingen Geistesschaffende  und Künstler wie Bert Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig, Johannes R. Becher, Stefan Hermlin, Friedrich Wolf, Max Lingner, Lea Grundig, Theo Balden, Wieland Herzfelde, Helene Weigel, Hanns Eisler, Bodo Uhse, Erich Weinert, Ernst Busch, Ludwig Renn, Wolfgang Langhoff, Eduard von Winterstein, Hedda Zinner, Gustav von Wangenheim und viele andere nicht nach Westdeutschland, sondern kamen in die Ostzone bzw. später in die DDR?

Haben sie sich nicht gerade deshalb für die DDR entschieden, weil sie hier die Möglichkeit sahen, Krieg und Faschismus endgültig aus dem Leben der Menschen zu verbannen?

Brecht hat sich dazu unmissverständlich ausgedrückt: „Ich habe keine Meinung, weil ich hier bin“, sagte er, „sondern ich bin hier, weil ich eine Meinung habe.“

Einzigartig an der DDR war auch:

Ein Drittel Deutschlands war über 40 Jahre dem Zugriff des deutschen Kapitals entzogen.  Das ist aus der Sicht unserer politischen Gegner die eigentliche Sünde der DDR, die niemals vergeben wird.

 

Nie mehr Bereicherung des einen durch die Arbeit des anderen - das war Verfassungsgrundsatz in der DDR. Niemandem war erlaubt, sich an der Arbeit des anderen zu bereichern. Der Mensch war nicht mehr des Menschen Wolf. Er war kein Marktfaktor, den man wie eine Schachfigur hin und her schieben konnte. Nicht der Ellenbogen regierte, nicht der Egoismus, nicht das Geld, sondern schrittweise, wenn auch durchaus widerspruchsvoll, das menschliche Miteinander.

 

Vor einigen Tagen saß ich in einem Caffè, ein Mann vom Nebentisch reichte mir eine Serviette, die an meinem Tisch fehlte. Ich sagte: „O, das ist aber aufmerksam“. „Ja“, antwortete mein Gegenüber, „die Aufmerksamkeit füreinander, das Miteinander, das wir zu DDR – Zeiten kannten, ist verloren gegangen. Das Menschliche ist weg, seit es die DDR nicht mehr gibt“.

 

Das hat mich stark aufgewühlt - wie auch ein Brief, den mir ein 56 - jähriger Mann schrieb, der 1990 eine Firma gegründet hatte und mir nun auf zwei Briefseiten beschrieb, wie gut es ihm geht in der neuen Bundesrepublik. „Es scheint alles Besten“, endete er sein Schreiben, „und doch bleibt tief im Herzen immer noch der Wunsch nach einer gerechten, friedlichen und vernünftigen Welt.“ 

 

Seit 1990 heißt es: „Aufbau Ost“. Sicher, es gab manches, was in der DDR im Argen lag. Wir investierten zu wenig im produktiven Bereich, manche Stadtzentren waren aus Mangel an Baumaterial und haltbarer Farbe ziemlich unansehnlich. Unsere Wünsche waren immer größer als unsere materiellen Möglichkeiten.

 

Die Ideale und die Realitäten klafften nicht selten auseinander. Die Bundesrepublik setzte ihre Ostbrüder und Ostschwestern Jahr für Jahr neu auf die Embargoliste, die uns vom wissenschaftlich - technischen Fortschritt in der kapitalistischen Welt ausschließen sollte.  Unsere Startbedingungen waren alles andere als gut. Ganz Deutschland hatte den Krieg verloren. Die Ostdeutschen und später die DDR mussten allein dafür zahlen.  Die DDR-Reparationsleistungen waren 25-mal höher als die der alten Bundesrepublik. Umgerechnet zahlte jeder DDR-Bürger 16 124 DM für Reparationen, jeder Bundesbürger dagegen gerade mal 126 DM. Die BRD bekam den Marschallplan - die DDR zahlte für den Krieg. Das war eine ungleiche Arbeitsteilung. Manchmal denke ich heute: Dass wir es trotzdem 40 Jahre durchgehalten haben, das ist das eigentliche Wunder.

 

Doch:

Die DDR war 1949 zwar auferstanden aus Ruinen, aber sie war 1990 keine Ruine, kein Pleitestaat mit maroder Wirtschaft. Bis zuletzt wurde jede Rechnung auf Heller und Pfennig bezahlt, auch, wenn die sich unwissend Stellenden und die Verleumder der DDR das immer wieder bestreiten.

 

Wie eine geheiligte Schrift behandeln sie permanent das vergilbte sogenannte „Schürer-Papier“, obwohl sie genau wissen, dass Gerhard Schürer und seine Mitautoren noch im November 1989 öffentlich die falschen Zahlen und ihre Irrtümer korrigiert hatten.

 

Es ist schwer zu verstehen, dass sie ihrem eigenen Geldinstitut, der Deutschen Bundesbank, misstrauen. Es gibt einen Bericht von ihr unter dem Titel – Zitat - „Die Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR 1975 bis 1989.“ Darin heißt es, dass Ende 1989, „die Nettoverschuldung der DDR betrug 19,9 Milliarden Valutamark« also umgerechnet in Euro nicht einmal zehn Milliarden. Von 10 Milliarden Euro geht kein Staat bankrott. 

 

Indem man behauptet, die DDR sei bankrott gewesen, kann man verdecken, dass sich der wirkliche Kollaps der DDR-Industrie erst nach dem Anschluss der DDR an die BRD ereignete: Nach dem 1. Weltkrieg wurde gegenüber dem Vorkriegstand von 1913 noch 57% produziert. Nach dem 2. Weltkrieg 1946 im Verhältnis zum Vorkriegstand von 1938 immerhin noch 42%, 1992 auf dem Höhepunkt der Privatisierung des Volkseigentums gegenüber dem vorletzten Jahr der DDR nur noch 31 Prozent.

 

Das wirkliche Problem war 1990 nicht eine vermeintlich marode Wirtschaft der DDR. Wir hatten sicher auch Marodes, aber wir hatten auch viel Modernes. Wir hatten auch Kombinate, die Weltniveau produzierten. Wer Letztes bestreitet, behauptet damit ja auch, dass uns bundesdeutsche Konzerne nur Schrott geliefert hätten, denn 40 % unserer Industrieanlagenimporte kamen aus der alten Bundesrepublik.

 

Der Kern des Problems 1990 war ein ganz anderer:

Alles in der Wirtschaft gab es nun zweimal in Deutschland.

Einmal musste sterben. Nicht nur, was eventuell marode war, sondern auch das Moderne. Das Sterben hat die Treuhand organisiert, aber nicht auf eigenen Antrieb. Es war politisch gewollt. Das Volkseigentum der DDR wurde verscherbelt. 85% davon erhielten Eigentümer aus dem Westen, 10% ging ins Ausland und knappe 5 % blieben im Osten.

 

Die Bundesrepublik übernahm von der DDR etwa 8.000 Betriebe, 20 Milliarden Quadratmeter Agrarflache, 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien, Forsten, Seen, 40.000 Geschäfte und Gaststatten, 615 Polikliniken, 340 Betriebsambulatorien, 5.500 Gemeindeschwesternstationen, Hotels, Ferienheime, das beträchtliche Auslandsvermögen der DDR, Patente, Kulturguter, geistiges

Eigentum und manches mehr.12  Zum Beispiel den Berliner Fernsehturm, der nur deshalb nicht abgerissen wurde, weil das bautechnisch nicht ging, aber inzwischen das Wahrzeichen Berlins ist

Und wo feiert die bundesdeutsche Elite heute ihre vermeintlichen Siege? Im Schauspielhaus Berlin, in der Semperoper Dresden und im Gewandhaus Leipzig – alles vom «maroden DDR – Staat» bezahlt.

 

Die DDR hinterließ der Bundesrepublik keine Erblast in Höhe von 400 Milliarden DM – wie behauptet wird, sondern ein Volksvermögen von 1,74 Billionen Mark an Grundmitteln und 1,25 Billionen Mark im produktiven Bereich - ohne den Wert des Bodens und den

Besitz von Immobilien im Ausland gerechnet. Angesichts dieser Fakten mutet es wie ein schlechter Witz an, die Treuhand und ihre Anleiter in der Bundesregierung von der Schuld für die Deindustrialisierung der DDR freizusprechen.

 

In den Berichten zum diesjährigen Tag der deutschen Einheit wird davon gesprochen, dass es gut sei – Zitat - „..., dass wir uns mit unserer jüngsten deutschen Geschichte auseinandersetzen“

 

Das ist jedoch nicht wahr. Allgegenwärtig ist nur die DDR- Geschichte. Es wird aber höchste Zeit, sich im Kontext damit auch kritisch mit der Entstehung und Existenz der alten Bundesrepublik und ihrer Schuld an der deutschen Spaltung auseinanderzusetzen.

 

Die  Jahre zwischen 1949 und 1990  waren doch nicht nur das „Wirtschaftswunder“ und das „Wunder von Bern“, nicht nur die DM und das eigene Auto, nicht nur die Italienreise und all die anderen Erfolgsgeschichten, die uns dieser Tage wieder aufgetischt werden. 

 

Verdeckt wird, dass beispielsweise die separate Währungsreform 1948 das eigentliche Datum der deutschen Spaltung ist, wodurch die spätere DDR aus dem internationalen Wirtschaftsverkehr praktisch ausgeschlossen wurde.

 

Es gab doch in der alten Bundesrepublik nicht nur gewaltige Streiks, über die man heute kaum noch spricht, sondern auch tiefe gesellschaftliche Konflikte. Die KPD, die FDJ und andere fortschrittliche Organisationen wurden verboten, ihre Mitglieder gejagt, verurteilt und inhaftiert.

 

Am 11. Mai 1952 wurde das FDJ – Mitglied Philipp Müller auf einer Friedenskundgebung in Essen und am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg in Westberlin von der Polizei erschossen. Wie ein roter Faden zieht sich doch die Verfolgung Andersdenkender durch die ersten Jahre der Bundesrepublik. Notstandsgesetze wurden beschlossen und ein „Radikalenerlass“.  

 

Wenn es also darum geht, auf welcher Seite der Geschichte jemand gestanden hat, habe ich als DDR-Bürger durchaus viele Fragen an die alte Bundesrepublik:

 

    • Unterstützte sie nicht die schmutzigen Kriege, die Frankreich gegen Algerien und die USA in Indochina führten, die Vietnam in die „Steinzeit zurück bomben“ wollten?

    • Machte sie nicht immer gute Geschäfte mit dem Apartheid –Regime in Südafrika, das Nelson Mandela verbannt hatte?

    • Standen sie nicht immer an der Seite jener, die das Abenteuer in der Schweinebucht gegen das freiheitsliebende kubanische Volk oder auf Grenada unterstützten?

    • Stand sie nicht immer an vorderster Stelle bei Waffenexporten in Krisenregionen?

    • Hatte sie nicht exzellente Beziehungen zu den faschistischen Regimes in Spanien und Portugal?

    • Gab es nicht ein heimliches Einverständnis mit den Putschisten in Griechenland 1967 und in Chile 1973?

 

Die DDR und die BRD standen über 40 Jahre in einem Bürgerkrieg, in einem kalten zwar, immer am Rande einer atomaren Katstrophe.

 

Als ich im Frühjahr 1990 noch unter dem frischen Eindruck der Herbstereignisse89 stand, habe ich mir viele Fragen gestellt:

 

    • Werden nun etwa neue Mauern errichtet?

 

    • Mauern gegenüber linken Andersdenkenden?

 

    • Mauern gegenüber jenen Werten, die aus der DDR in den Prozess der deutschen Vereinigung eingebracht werden könnten?

 

    • Mauern zwischen den Deutschen und ihren Nachbarvölkern, dessen Sicherheitsbedürfnisse zu respektieren sind? 

 

    • Mauern zwischen Deutschland und dem sozialistischen Kuba, das von den sozialistischen Ländern Europas allein gelassen wurde und sich seither mutig wehrt?

 

    • Mauern zwischen der NATO und der damals noch existierenden Sowjetunion?

 

Wenn ich mir diese Fragen nun fast dreißig Jahren später wieder beantworte, komme ich zu keiner anderen Erkenntnis als jener, dass die neuen Mauern dazu geführt haben, das die Welt von heute so durcheinander geraten ist wie sie jetzt ist. Die Welt von heute ist ohne Sowjetunion und ohne die DDR weder gerechter noch friedlicher geworden.

 

Heute geht es um alles – um Sein oder Nichtsein, Krieg oder Frieden. Dass man in dieser Zeit immer noch das Feindbild DDR braucht, zeigt, dass die herrschenden Politiker keine wirkliche Vorstellung von der deutschen Einheit haben.

 

Man kann die deutsche Einheit vielleicht herbeimoralisieren, indem man die Realitäten nicht zur Kenntnis nimmt.

 

Man kann sie – wie sich zeigt – schlecht herbeifinanzieren, weil es außer Geld auch noch andere Werte gibt.

 

Herbeikriminalisieren, indem man die DDR als Irrweg denunziert, kann man die Einheit auf keinen Fall.  Mehr Respekt für alle früheren DDR-Bürger wird nicht gelingen, solange man den Staat, auf dessen Boden diese Leistungen möglich wurden, verteufelt.  

 

Die Mauer in Berlin ist weg. Sie wurde nach Osten verschoben, besteht nicht mehr zwischen NATO und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der NATO und Russland.

 

Sie ist folglich dort, wo sie im Prinzip an jenem 22. Juni 1941 verlief, als die Sowjetunion überfallen wurde. Am Vorabend des diesjährigen Tages der Einheit kam eine neue, eine sehr beunruhigende Meldung: „Die Nato plant für 2020 ein Manöver mit über 20.000 Soldaten. … geprobt werden soll dabei eine schnelle Verlegung von Truppen nach Polen und ins Baltikum. Das heißt wieder, ran an Russlands Grenzen. Dass Deutschland dabei eine zentrale Rolle einnehmen soll, ist für mich eine geschichtsvergessene Schande.

 

Das ist nun wahrlich nicht die Wende, die 1989 auf den Straßen der DDR gefordert wurde. Dreißig Jahre nach der Öffnung der Grenzübergänge in Berlin sollte es heißen: Ohne Russland kann es keine europäische Friedensordnung geben. Aus der deutschen Politik muss die Russophobie verbannt werden. Deutsche Politiker müssen gegenüber Russland einen anderen Ton anschlagen, der Freundschaft und Zusammenarbeit, nicht aber „Sanktionen“ und „Bestrafungen“ fördert. 

 

Wie Euch wahrscheinlich aufgefallen ist, spreche ich nicht vom Scheitern des Sozialismus, sondern von einer bitteren Niederlage.

 

Ist das nur eine formale Frage? Für mich nicht. Scheitern hat etwas Endgültiges an sich, Niederlage ist eher etwas Zeitweiliges. Wenn der Sozialismus gescheitet wäre, könnte das ja auch bedeuten, dass er auch in Zukunft keine Chance mehr hätte und der Kapitalismus doch das Ende der Geschichte wäre. China beweist schon heute das Gegenteil.

 

Der erste Anlauf für eine ausbeutungsfreie Gesellschaft, die Pariser Kommune, überdauerte 72 Tage, der zweite Anlauf, die Oktoberrevolution, hielt 72 Jahre und die DDR 40 Jahre. Der dritte Anlauf wird auch in Europa kommen. Wann und wie – das weiß heute niemand. Die Erfahrungen der DDR – die positiven wie negativen – werden dabei auf jeden Fall von Bedeutung sein.

 

Und deshalb sage ich: Wehren wir uns auch weiterhin dagegen, unser sinnvoll gelebtes Leben in den Schmutz ziehen zu lassen, tun wir auch weiterhin das uns Mögliche, damit nie wieder – wie es in der DDR – Nationalhymne heißt - eine Mutter ihren Sohn beweint  

 

 

 

Dr. Hartmut König (rechts im Bild) hat neben vielen bekannten Liedern und Gedichten immer wieder auch neue Lieder und Gedichte geschrieben- die sich in erste Linie an der aktuellen politischen Situation orientieren und somit hoch aktuell sind.

Wenn der Russe nicht wär

 

Der Altnazi:

 

Wenn der Russe nicht wär,

wär der Krieg nicht verloren.

Und die Welt hörte Deutsch

mit gehorsamen Ohren.

 

Russlands Weizen und Öl

unter deutschen Standarten.

Und der russische Bär

im Zoologischen Garten.

 

Unser Reich wäre groß

bis zum Japanischen Meer,

wenn der Russe nicht wär.

 

Die Rüstungslobby:

 

Wenn der Russe nicht wär,

müsste man ihn erschaffen.

Gegen Russland verkauft

man die herrlichsten Waffen.

 

Eigentlich wär es Zeit,

Arsenale zu leeren.

Denn der Russe ist stur,

und er würde sich wehren.

 

Unsre Arbeit ist schwer.

Und die Kasse wär leer,

wenn der Russe nicht wär.

 

Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz

 

Wenn der Russe nicht wär, (meine Damen und Herren,)

wär die Welt sehr vereinfacht.

Ein gewaltiger Schritt

zur transatlantischen Eintracht.

 

Dieses ewige Njet

zum Export unserer Werte!

Was der Kreml sich traut,

verlangt strafende Härte.

 

Die Geschichte liebt uns!

Und nur China läg quer,

wenn der Russe nicht wär.

 

Angela Merkel:

 

Hätt der Russe nicht bei

2+4 unterschrieben,

wäre ich FDJ

oder sonstwas geblieben.

 

Ich sprach Russisch mit Putin

wohl im Fall eines Falles.

Später ließ ich das sein,

die CIA hört ja alles.

 

Vielleicht schulde ich Dank.

Keine Kanzlerbank,

wenn der Russe nicht wär.

 

Ursula von der Leyen:

 

Wenn der Russe nicht wär, (und es ist mir wirklich wichtig, das zu betonen,)

hätten wir Konversion.

Das verdirbt die Moral.

Wobei: Wir haben sie schon.

 

Will ja nichts funktionieren,

was da taucht, fliegt und rollt.

Deshalb hab ich ja auch

schnell nach Brüssel gewollt.

 

Hab gen Moskau krakeelt.

Wär beinah nicht gewählt,

wenn der Russe nicht wär.

 

Siegmund Jähn:

 

Wenn die Russen nicht wär´n,

die im Orbit rumpesen,

wär´n die Deutschen im All

reichlich spät dran gewesen.

 

Kein „Sojus“ hätte mich

in den Weltraum geschossen.

Und es reist sich so schön

im engen Kreis von Genossen.

 

Erstes Deutschland im All

wäre nicht DDR,

wenn der Russe nicht wär.

 

 

Der KZ-Häftling:

 

Wenn der Russe nicht wär,

wär ich nicht mehr am Leben.

Wurde wiedergeborn.

Hatte mich aufgegeben.

 

Habe vieles vergessen.

Nie den Russen am Tor.

Der hatte noch Tränen,

die ich längst verlor.

 

Und was immer man lügt,

ich seh dieses Gesicht

und verrate es nicht.

 

 

 

Text: Hartmut König (2019)

 

 

 

 Mit ca. 150 Gästen war die Festveranstaltung sehr gut besucht worden.

Nach der Veranstaltung nutzten noch viele Gäste, sich ein Buch von Egon Krenz zu signieren oder bzw. auch erwarben Bücher und CD`s von Hartmut König.

Immer wieder kam es vor und nach der Veranstaltung zu herzlichen Begegnungen.

Die leere Flasche Bier, hatte ein Gast mitgebracht, weil dieses Bier von der Gaststätte Trotzenburg in Rostock gebraut wird und den Namen des Vereins trägt "RotFuchs".

Mit einer kurzen Danksagung vom Vorsitzenden, wurde die Veranstaltung beendet.

Danksagung/Abschlussworte

 

Liebe Gäste,

 

mit aktuell 41 Regionalgruppen ist der RotFuchs Förderverein e.V. ein fast bundesweit aktiver parteiunabhängiger Bildungsverein, welcher sich zum wissenschaftlichen Sozialismus bekennt und den Marxismus nicht als Dogma sieht sondern als Anleitung zum Handeln.

In unseren Leitsätzen heißt es unter Pkt.5 „ Die DDR war die größte Errungenschaft in der Geschichte der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung, da sie dem Kapital für vier Jahrzehnte die politische Macht und das privatkapitalistische Eigentum an den entscheidenden Produktionsmittel entzog.

Wir verteidigen ihr Erbe und stehen sowohl zu den positiven Erfahrungen als auch zu Defiziten und Fehlern. Die Analyse der Gründe unserer schweren Niederlage bleibt wichtiges Anliegen der marxistischen Wissenschaft. Daran beteiligt sich der RotFuchs.“

Ich setze dieses Zitat aus unseren Leitsätzen ganz bewusst, nicht in unsere Begrüßung zur heutigen Veranstaltung, sondern in der Abschluss -Rede, weil wir auf der einen Seite deutlich machen wollen, dass wir in unserem Vereinsleben, nach unseren Leitsätzen leben, was Sie heute hier Live erleben durften, um so auch gleich den praktischen Beweis zu erbringen, aber wir wollen auf der anderen Seite auch deutlich machen, dass viele linksorientierte Menschen, ob Parteimitglied oder nicht, gemeinsam, als kleiner Verein nicht nur ein solches Event wie heute, sondern auch trotz aller individuellen unterschiedlichen Positionen, im Einzelnen, gemeinsam ein Ziel angehen können. Es soll auch Mut machen, dass jeder der ähnlich denkt und fühlt wie Ihr hier im Saal, dazu bei trägt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich zu besseren ändern. Nun höre ich jetzt schon das Argument, dass unsere Generation mit Sicherheit einen erneuten Sozialismusversuch aus biologischen Gründen nicht mehr erleben wird, wieso also unser Einsatz dann. Dazu nur zwei Anmerkungen:

  1. Wir wissen, dass eine gesellschaftliche Veränderung vom Bewusstsein, also Überzeugungen getragen sein muss. Diese Überzeugungen müssen vermittelt werden. Das ist eine unserer vielfältigen Aufgaben heute.
  1. Mein Freund Dr. Carolus Wimmer aus Venezuela erklärte mir vor Jahren schon, dass in einer USA-Studie über mögliche Gefahren revolutionärer Veränderungen auf dem gesamten amerikanischen Kontinent, Venezuela als unwahrscheinlichste Region bewertet worden ist, wo sowas eintreten könnte.

 

Nun kann man sagen, die USA-Ideologen haben sich zum Glück geirrt. Wichtiger ist aber die Feststellung, dass überall heute in einem Land eine innenpolitische Situation eintreten kann, die eine mögliche revolutionäre Situation als Folge haben könnte. Denkt bitte an die Finanzkrise und die Hartz IV Gesetze. Letztere wurden von der SPD/Grünen- Regierung eingeführt und es entstand plötzlich eine Massenbewegung, die in den Montagsprotesten das Land über Monate überzog. Leider war zu diesem Zeitpunkt wie aktuell heute leider auch, die linke Bewegung inkl. ihrer Parteien zerstritten. Sogar die damalige PDS in MV hat z.B. sich in der Regierungsbeteiligung an der Umsetzung dieser härtesten unsozialen Maßnahmen in der Geschichte der BRD beteiligt und somit auch einen Beitrag für die Vernichtung der Massenproteste geleistet.

Das zeigt, wie wichtig und unerlässlich nicht nur eine ständige gesellschaftliche Analyse und die der eigenen fortschrittlichen Kräfte ist, sie belegen auf eindringlich Weise, dass neben den Grundkenntnissen der Lehren aus den Schriften von Marx, Engels, Lenin auch ein Bewusstsein vorhanden sein muss, um nicht nur die gegenwärtige Situation begreifen zu können, sondern auch entsprechende Maßnahmen davon ausgehend abzuleiten.

Dass wir diese Fakten Euch heute hier so vermitteln konnten, ist in erster Linie unserem Zeitzeugen Egon Krenz mit seinen Ausführungen zu verdanken. Dafür herzlichen Dank lieber Egon von uns, den Organisatoren und auch im Namen der anwesenden Gäste.

 Mit seinen kulturellen Beiträgen sagen wir auch unserem Hartmut König herzlichen Dank, ganz großartig.

Ein großes Dankeschön verdienen auch die vielen RotFuchsmitglieder und SympathisantInnen, die alle in ehrenamtlicher Arbeit, nicht nur unsere Veranstaltung heute organisiert haben, sondern auch für das leibliche Wohl gesorgt haben, wo neben selbstgebackenen Kuchen und belegten Brötchen, für den kleinen Hunger Abhilfe geschaffen worden ist.

Eine extra Würdigung möchten wir auch der Leiterin des SBZ und Ihren Mitarbeiterinnen aussprechen, da ohne deren zuvorkommende hilfsbereite Unterstützung, unsere heutige Veranstaltung gar nicht stattfinden hätte können.

Ich bitte nun Egon Krenz, Hartmut König und Heike Röhrs mit nach vorne.

Lieber Egon, diese Bilder stammen aus Privatbesitz und zeigen Dich aus jüngeren Zeiten mit Deinem ungarischen Amtskollegen beim Besuch unserer Marine der NVA auf Rügen. Als unser bescheidenes Dankeschön an Deinen heutigen Beitrag.

 

Lieber Hartmut, auch Dir möchten wir ein Bildnis überreichen, dass von dem revolutionären Matrosen am Rostocker Kabutzenhof, aus noch besseren Zeiten stammt, denn seit Jahren will man es eigentlich sanieren, aber man wartet wohl solange, dass es nicht mehr saniert werden kann. Herzlichen Dank für Deine Beiträge.

 

Heike Röhrs steht hier heute aus mehreren Gründen.

  1. Als Stellvertreterin für alle die fleißigen Helfer im Hintergrund und ganz vorne immer aktiv dabei. Sofort kam von ihr das Angebot, selbst zu backen und vor Ort mitzuhelfen, wie alle anderen ehrenamtlichen HelferInnen auch, unseren herzlichen Dank.
  2. Möchte wir Heike auch in unseren Reihen des RotFuchs herzlichst begrüßen. Heike gehört zu jene, die Ihr Wort auch in die Tat umsetzen und ich finde, von solch aufrichtigen Mitstreiterinnen kann es nicht genug geben. Herzlich willkommen im RotFuchs und viel Spaß in der Vereinsarbeit.

 

Ich möchte gleichzeitig die Gelegenheit nutzen, um für unseren Verein zu werben. Der Verein lebt von seinen aktiven Mitgliedern, wie von seinen solidarischen Spenden, um auch solche Veranstaltungen wie heute, aber auch generell unsere regelmäßigen Bildungsveranstaltungen durchführen zu können, ob in Rostock oder bundesweit. Jeder kann nicht nur jederzeit spenden, jeder kann auch Mitglied werden, wenn er sich mit der Vereinssatzung und den Leitsätzen des RotFuchs identifizieren kann.

 

Ich möchte mich nun bei Ihnen als Gäste herzlich für Ihr Kommen bedanken, gerne laden wir Sie zu unseren nächsten RotFuchsveranstaltungen ein.

Bevor wir nun die heutige Veranstaltung beenden, möchten wir uns bei all jenen Gästen aufs herzlichste bedanken, die für Kuba gespendet haben, die wie Venezuela wegen des verschärften Wirtschaftsembargo vor extremen Herausforderungen stehen.

Auf einer der nächsten RotFuchsveranstaltungen werden wir die Spendensumme bekanntgeben.

Wir wünschen noch einen schönes Rest-Wochenende, einen guten Heimweg.

 

Hiermit ist die Veranstaltung beendet.

 

 

 

 

Junge Gäste der Festveranstaltung ließen es sich nicht nehmen, ein gemeinsames Erinnerungsfoto mit Egon Krenz zu machen.

Mit zwei Erinnerungsfoto`s aus Privatbesitz, wo Egon Krenz auf Dranske (Insel Rügen) die Volksmarine besuchte, konnte als kleines Dankeschön Ihm eine Freude bereitet werden.

Mit einem Bild vom Matrosendenkmal "Der revolutionären Matrosen" vom Kabutzenhof in Rostock, konnte Dr. Hartmut König für seine kulturellen Beiträge als kleines Dakeschön, auch eine Freude gemacht werden.

Als Dankeschön für alle ehrenamtlich aktiven Helferinnen, wurde Heike herzlichst mit einer Kleinigkeit gedankt und auch noch als neues Mitglied im Verein herzlichst begrüsst.

Ein Abschlussbild von der Veranstaltung als Erinnerung mit v. l. Dr. Hartmut König, Dr. Henning Schleiff (letzter DDR-Oberbürgermeister von der Hansestadt Rostock), Dr. Marianne Linke, dahinter Carsten Hanke (Vorsitzender RotFuchs Rostock), Egon Krenz (letzter Staatsratsvorsitzender der DDR), Ulli Peck ( letzter 1. Sekretär der Bezirksleitung Rostock in der DDR).  

Wichtige Informationen über die DDR

Deutschland

War die DDR-Wirtschaft wirklich marode? Interview mit einem Kombinatsdirektor – Teil 1 von 2

19.10.2019 • 07:45 Uhr

https://de.rt.com/2087

Quelle: www.globallookpress.com © imago stock&people

Wartburg-Montageband im VEB Automobilwerk Eisenach in der DDR.

Vorurteile über die DDR-Wirtschaft prägen das Bild, welches der Medien-Mainstream pflegt. Doch wie stimmig ist dieses eintönige Narrativ? Ein zweiteiliges Gespräch mit einem ehemaligen DDR-Wirtschaftsfunktionär soll helfen, diese einseitige Perspektive zu überwinden.

Wir sprachen mit Dr. Adolf Eser, dem ehemaligen Generaldirektor des Chemiekombinats Bitterfeld und Autor des Buches "Von Alaun bis Zitronensäure", in dem er die Geschichte der Chemieindustrie – mit seinem Fokus auf den Bitterfelder Raum – darstellt. Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow. (Den ersten Teil finden Sie ab morgen hier.)

Wie wirkte sich die deutsche Teilung auf die wirtschaftlichen Grundlagen der DDR aus?

Man muss davon ausgehen, dass der Osten schon zur Zeit Bismarcks als "Armenhaus Deutschlands" bezeichnet wurde. Das bedeutete, dass mit wenigen Ausnahmen, wie das mitteldeutsche Industrierevier (Buna, Leuna, Bitterfeld, Zeitz, Magdeburg, Dresden, um nur einige Beispiele zu nennen), fast die gesamte Montan- und Schwerindustrie traditionell in Westdeutschland, beispielsweise im Ruhrgebiet, angesiedelt und die ostdeutsche Wirtschaft dadurch von der Kooperation mit den Firmen im Westen zum Zeitpunkt der Teilung Deutschlands ab Mitte der 1940er Jahre absolut abhängig war. Alle Kooperations- und Lieferbeziehungen wurden mit der separaten Währungsreform, der Gründung der BRD und der einseitigen Kündigung der Handelsabkommen durch die BRD hinfällig. Dazu kam noch das von den Westmächten verhängte Embargo für strategisch wichtige Erzeugnisse. Der renommierte Wirtschaftshistoriker Prof. Abelshauser schreibt dazu in seinem Buch "Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945": 

Aufgrund der den Ostblockstaaten entstandenen zusätzlichen Kosten und des Entwicklungsrückstandes kann dieses Embargo als erfolgreich bezeichnet werden.

Immerhin musste auch die DDR zunächst aus eigener Kraft, später auch mit der Unterstützung der UdSSR, damit leben. Die Anwendung der Embargobestimmungen gegen die DDR fand ihren Höhepunkt am 30.9.1960, als die Regierung der BRD überraschend das Abkommen über den innerdeutschen Handel vom 20.9.1951 samt Zusatzabkommen einseitig kündigte. Mit dem durch die Regierung der BRD verhängten Embargo wurden auch Großrohre sanktioniert, zum Bau der Erdöl- und Erdgasleitungen aus der Sowjetunion zur Versorgung der Volkswirtschaften der DDR und der sozialistischen Länder mit diesen strategischen Rohstoffen unverzichtbar.

Es blieb den Verantwortlichen der DDR nichts anderes übrig, als die "Störfreimachung" der Wirtschaft der DDR auf die Tagesordnung zu setzen, also der Willkür- und Erpressungspolitik der Regierung der BRD mit dem Aufbau einer eigenen Schwerindustrie mit großen Investitionsvorhaben zu begegnen, z. B. durch:

Vietnamesische Vertragsarbeiterinnen in den Feinstrumpfwerken Oberlungwitz, 1988.

  • den Ausbau der "Maxhütte in Unterwellenborn", unter der Losung "Max braucht Wasser",
  • den Aufbau des Eisenhüttenkombinates Ost, EKO, mit polnischem Koks und sowjetischem Erz, für Stahl zum Aufbau der Republik,
  • den Aufbau des Gaskombinates "Schwarze Pumpe" zur Braunkohlenveredelung zu BHT-Koks,
  • den Bau des Niederschachtofenwerkes Calbe an der Elbe zur Verhüttung "armer Eisenerze" aus dem Harz,
  • den Aufbau der Werften an der Ostsee und der Bau von Überseehäfen in Rostock, Warnemünde, Stralsund, Mukran sowie der Ausbau des Fährhafens Sassnitz,
  • das Chemieprogramm zum Auf- und Ausbau der Petrochemie in Schwedt, Böhlen, Leuna, Buna und Bitterfeld und dazu der Bau der Erdöl- und Erdgasleitungen aus Sibirien (UdSSR),
  • die Melioration der Wische zur Steigerung der Hektarerträge und Aufbau einer leistungsfähigen Viehwirtschaft in Mecklenburg zur Sicherung der Ernährung der Menschen in der DDR und weitere Großvorhaben zur Sicherung unseres Lebens und Überlebens.

 

 

Sie konnte der Willkür- und Erpressungspolitik durch die BRD nur begegnen, indem sie sich leistungsstarke Partner auf den Märkten der westlichen Welt wie Österreich, Frankreich, Japan, Großbritannien, Schweden und u. a. auch in der BRD suchte.

Dies fiel nach der Anerkennung der DDR als selbstständiges Völkerrechtssubjekt durch die Aufnahme als gleichberechtigtes Mitglied der Staatengemeinschaft in die UNO (durch die Konferenz von Helsinki) umso leichter. Der Alleinvertretungsanspruch der BRD für Gesamtdeutschland blieb mit allen nachteiligen Folgen dennoch bestehen, mit z. B. großen Einschränkungen für die Menschen etwa im Reiseverkehr, in der Währungsparität usw.

Es ist eine beweisbare Tatsache, dass beispielsweise in die Chemieindustrie der DDR deshalb in der Mitte der 1970er-Jahre noch extensiv investiert werden musste, während die BRD durch den Marshall-Plan mit zinsgünstigen Krediten und Zugang zu allen benötigten Technologien, Ausrüstungen und Rohstoffen bereits zur Modernisierung, Rekonstruktion und Umstrukturierung ihrer Wirtschaft und damit zur Expansion bzw. "Verlagerung angeblich unwirtschaftlicher, energieintensiver Produktionen" in Billiglohnländer übergehen konnte.

Es ist daher bloße Demagogie, wenn man heute behauptet, die DDR habe damals eine Autarkiepolitik betrieben, die an jene der Nationalsozialisten erinnert (siehe etwa Spiegel 9/53). In der DDR stand ein autarkes Streben zu keiner Stunde auf der Tagesordnung, konnte es gar nicht, wenn man die volle Abhängigkeit der Volkswirtschaft der DDR von Importen wie u. a. Koks, Schwefel, Anthrazit, Erdöl, Erdgas, Bauxit, Quecksilber, Eisenerz, Naturkautschuk, Phosphaten und Tiefziehblechen bedenkt. Es war außerdem eine ethische Grundfrage der Politik der DDR, stets die Förderung und Ausweitung der internationalen Beziehungen und der Zusammenarbeit auf gleichberechtigter Grundlage, vor allem mit den jungen Nationalstaaten, den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft und auch Konzernen auf der Basis des gegenseitigen Vorteils, der Achtung und der Solidarität zu betreiben.

Computer des Typs A-7100 während der Kontrolle im Werk des VEB Robotron Elektronik Dresden, 1987.

Mit der BRD verfolgte die DDR das Ziel, eine friedliche Koexistenz zu erreichen. Der Hallstein-Doktrin zufolge wurde die Aufnahme oder Unterhaltung diplomatischer Beziehungen durch dritte Staaten mit der Deutschen Demokratischen Republik von der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihres Alleinvertretungsanspruchs für das gesamte deutsche Volk als unfreundlicher Akt ("acte peu amical") betrachtet und in der Regel mit dem Abbruch beziehungsweise der Nichtaufnahme diplomatischer Beziehungen beantwortet. Die Hallstein-Doktrin wurde nach der Moskaureise Konrad Adenauers und der damit verbundenen Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion im September 1955 formuliert und im Dezember des gleichen Jahres auf einer Botschafterkonferenz in Bonn erstmals öffentlich verkündet. Sie war eine bundesdeutsche Leitlinie, die darauf bestand, dass die Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) aufgrund des Alleinvertretungsanspruchs der einzige legitime deutsche Staat sei.

Diese Hallstein-Doktrin hatte gravierende Auswirkungen auf den Außenhandel mit kapitalistischen Industriestaaten und den freien Reiseverkehr der Bürger der DDR in das westliche Ausland. Die Situation entspannte sich erst etwas nach der weltweiten Anerkennung der DDR als souveräner Staat in Folge der Konferenz von Helsinki, obwohl alle Bundesregierungen diesen Alleinvertretungsanspruch auch danach niemals aufgegeben und nichts unversucht gelassen haben, die DDR als zweiten Deutschen Staat, der im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstanden war, zu liquidieren. Trotz dieser erpresserischen Politik aller Regierungen der Bundesrepublik seit 1949 gegenüber der DDR und den Regierungen aller Staaten, die sich an internationale Verträge und Vereinbarungen hielten, hat die DDR ca. 750 Betriebsobjekte und Industrieanlagen auf Kompensationsbasis aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) zur Modernisierung, Erneuerung und Erweiterung ihrer Industrie importiert. Diese Geschäfte waren notwendig, aber nicht immer nach den Gesetzen der "reinen Ökonomie" wirtschaftlich, weil sie als sog. Gegengeschäftsvereinbarungen zum gegenseitigen Vorteil mit Erzeugnissen aus den Objekten zu "Westwährungskonditionen" zu bezahlen waren. Allein für 12

Milliarden DM wurden Planimporte für Chemieanlagen aus dem NSW realisiert.

Das Bild der DDR-Wirtschaft ist in den BRD-Medien geprägt von Schlagwörtern wie Mangelwirtschaft und niedrige Arbeitsproduktivität. Wie bewerten Sie diese Vorwürfe als Wirtschaftsfachmann aus der DDR?

Diese Vorwürfe sind geprägt von der seit der Gründung der DDR durch die von den Westalliierten gewollte und geförderte Teilung Deutschlands. Dabei ging es nicht um Ost und West, sondern um den Beginn einer brutalen Klassenauseinandersetzung zwischen dem monopolkapitalistisch beherrschten Westen unter der Führung der USA, Großbritanniens und Frankreichs und der damals nach dem Zweiten Weltkrieg befreiten Bevölkerung, die zunächst unter der Führung der KPD/SED gemeinsam mit den Blockparteien die DDR gründeten. Seitdem sind Hass, Neid, Diffamierung und Missgunst der sogenannten "christlichen BRD" unsere Wegbegleiter. 

Quelle: www.globallookpress.com © dpa-Zentralbild

Arbeiterinnen bei der Herstellung von Kameras im VEB Pentacon, Dresden, 1976,

Beispielhaft dafür ist etwa die Diffamierung der DDR und ihrer Eliten durch die Aufforderung Herrn Kinkels auf dem 15. Deutschen Richtertag am 23. September 1991:

Sie, meine Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte bei dem, was noch auf uns zukommt, eine ganz besondere Aufgabe (...): mit dem fertig zu werden, was uns das vierzigjährige Unrechtsregime in der früheren DDR hinterlassen hat. (...) Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es (...) einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland. (...) Politische Straftaten in der früheren DDR dürfen nicht verjähren. Die Entscheidung darüber liegt allein bei den Gerichten. (...) Der Gesetzgeber kann aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Problems der Rückwirkung nicht tätig werden.

Oder Professor Arnulf Baring in seinem Buch "Deutschland, was nun?":

Das Regime (gemeint ist die DDR, Anm.) hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. (…) ob sich heute dort einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal; sein Wissen ist auf weiten Strecken unbrauchbar.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es im Grundgesetz! Ob die Herren Kinkel, Baring und Co. sich dessen jemals bewusst gewesen sind? Das galt im Klassenkampf während des Kalten Krieges nicht für diejenigen, die die richtigen Schlussfolgerungen aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen hatten. Die Diskriminierung und Ausgrenzung fleißiger Menschen hält bis heute an.

Die DDR hatte bei ihrer mutwilligen Zerstörung 1990 ein Bruttoinlandsprodukt in DM pro Einwohner von 16.796 DM erarbeitet. Legt man den 1987 ausgewiesenen Umrechnungssatz von 1 ECU (damals gültige europäische Währungseinheit) von 2,07 DM zugrunde, kommt man für 1988 zu einer Bruttoinlandsproduktgröße pro Kopf in Höhe von 8.114,32 ECU für die DDR. Im Rahmen der 1988 zur EG gehörenden Länder wäre dies der 9. Platz, mit relativ geringem Abstand zu Großbritannien mit 9.000 ECU, beträchtlich vor Spanien mit 6.130 ECU, Griechenland mit 3.800 ECU und Portugal mit 3.090 ECU gewesen.

Im RGW wäre dies der 3. Platz und in der Welt der 15. bis 17. Platz gewesen.

Das war für die Ökonomie der DDR und die Arbeit ihrer Bürger unter den gegebenen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen ein hervorragendes Zeugnis", schreibt Siegfried Wenzel von der Staatlichen Plankommission in seinem Buch "Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben?".

Die chemische Industrie hatte daran mit einem Umsatz von 88,5 Mrd. DDR-Mark mit 308.000 Beschäftigten am 31.12.1988 (davon das Chemiekombinat Bitterfeld am 31.12.1988 mit einem Umsatz von 7,582 Mrd. DDR-Mark und 28.800 Beschäftigten) einen hohen Anteil. Allein der Stammbetrieb in Bitterfeld hatte laut bestätigter Abschlussbilanz vom März 1990 zum 31.12.1989 einen Umsatz (realisierte finanzgeplante industrielle Warenproduktion) von 4,647 Mrd. DDR-Mark ausgewiesen. Dieser hat nach den allgemein gültigen Umrechnungssätzen für Leistungen der DDR-Volkswirtschaft einem Wert von 2,2658 Mio. DM oder 1,159 Mio. Euro entsprochen (Umrechnungsfaktoren DDR-M in DM: Inland 1 €=1,95583 DM; und SW= 0,505, NSW= 0,239 DM).

Trabi-Produktion im Werk VEB Sachsenring Zwickau, 1990.

Der Nettogewinn (Verkaufserlös minus Kosten) betrug 171,3 Mio. DDR-Mark. Damit war es möglich, alle Fonds zu speisen und ständig die Liquidität zu sichern. Drei Prozent der Materialkostensenkung waren darin enthalten. Der Bruttowert der Sachanlagen betrug 9,693 Mrd. DDR-Mark. Die Abschreibungen betrugen 4,813 Mrd. DDR-Mark, das waren 49,7 Prozent. Damit konnte, wie manche meinen, von "marode" keine Rede sein. Die Kreditbelastung betrug 625.879.588,27 DDR-M durch Investitionen – u. a. für neue Chlorat-Anlagen aus Schweden. Es waren 17.495 Personen beschäftigt. Der Stammbetrieb hatte einen Anteil am Aufkommen an industrieller Warenproduktion von 70 Prozent des Kreises Bitterfeld, von 13 Prozent des Bezirkes Halle, von 8,66 Prozent des Ministeriums für chemische Industrie. Der Exportanteil betrug 29, Prozent.

In den Export für die sozialistischen Länder gingen Waren im Wert von 196,2 Mio. Rubel, etwa an die UdSSR, Bulgarien, Rumänien, Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Kuba und Vietnam. An Kunden in dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet gingen Waren im Wert von 55,7 Mio. DM u. a. in die BRD, nach Italien, Frankreich, Großbritannien, die Schweiz, Schweden, Kolumbien, Griechenland, den Niederlanden, in den Iran und den Irak. Der Handel mit den europäischen Ländern des NSW erfolgte auch über sogenannte gemischte Gesellschaften, wie PRIMEX Mailand, SOPROCHIM Paris usw.

Der erste Vertrag mit einem NSW-Partner wurde mit der italienischen Firma Manifattura Chimica Italiana im Jahre 1958 geschlossen. Die 30. Wiederkehr dieses Vertragsabschlusses wurde am 4. und 5. Juni 1988 mit dem Partner, der bis zum Ende des Kombinates zu seinem Lieferanten in der DDR gehalten hatte, in Bitterfeld feierlich begangen. Insgesamt 25 Goldmedaillen wurden auf den Leipziger Messen für Produkte des CKB wegen hervorragender Qualität und/oder wegen ihres Neuheitsgrades vergeben.

Mit seinen Produkten hat das CKB ein Warenproduktionsvolumen in der Volkswirtschaft der DDR in Höhe von schätzungsweise 60,0 Mrd. DDR-Mark beeinflusst. Das CKB war der bedeutendste Produzent von Hütten- und Reinstaluminium in der DDR. Der Stammbetrieb war mit 270 kt/a der größte Chlor-Produzent in der Volkswirtschaft der DDR. Mit einem Anteil von 20 Prozent am Gesamtaufkommen war der Stammbetrieb der bedeutendste Hersteller von Wirkstoffen und Formulierungen für Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel (PSM). Das Kombinat hat 70 Prozent aller in der DDR hergestellten Wirkstoffe bereitgestellt und zwei Prozent der Weltproduktion realisiert.

Für Ionenaustauscher (Wofatite) war die Farbenfabrik weltweit der erste und zu DDR-Zeiten der drittgrößte Hersteller auf der Welt. Der CKB-Stammbetrieb hat den Bedarf der DDR an Farbstoffen, Weißtönern und Hilfsmitteln zu etwa 65 Prozent aus eigenem Aufkommen für die Textil-, Leder-, und Papierindustrie gedeckt, den Export von Farbstoffen und Zwischenprodukten in das NSW (bereits ab 29.9.1958 nach Italien), in die UdSSR und den RGW-Raum bedient. Das CKB gehörte mit einer Syntheseleistung von etwa 10.000 t/a, das waren ca. 16.000 t/a Handelsware in 18 Klassen, zu den leistungsstärksten Produzenten im RGW-Raum.

Bedingt durch die Teilung Deutschlands in Folge der separaten Bildung der Bundesrepublik Deutschland wurden in der volkseigenen Zeit 350 neue Farbstoffmarken, Weißtöner und etwa 50 neue Hilfsmittel für die Papier-, Leder- und Textilindustrie sowie die dafür nötigen Zwischenprodukte überwiegend selbst entwickelt und in die Produktion überführt. Lücken in den Sortimenten wurden durch den Warenaustausch im Rahmen der internationalen Handelsorganisation der sozialistischen Länder "Interchim" und durch Importe aus dem westlichen Ausland geschlossen.

Eine Maschinenbaufabrik in Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt), 1969.

Von 1949 bis 1969 erfolgten unter den neuen Bedingungen des Rechtsschutzes in der DDR 1.158 Patentanmeldungen, ca. 61 Patente pro Jahr, und von 1970 bis 1989 wurden 1.668 Patente, das waren ca. 88 pro Jahr, von Mitarbeitern der Forschung und anderer Fachbereiche des Stammbetriebes des VEB CKB angemeldet.

Der wichtigste Vertragsforschungspartner war die Martin-Luther-Universität Halle (MLU), an der auch Führungskräfte aus der Forschung des Kombinates bis 1990 ihr Wissen und ihre Erfahrungen als Professoren mit Lehrauftrag an Studenten weitergaben. Insgesamt waren von 1950 bis 1990 aus dem CKB 9 Forscher als Professoren z. T. mit Lehrauftrag und/oder als Institutsdirektoren an die Universitäten nach Halle, Leipzig, Berlin, Dresden und Jena berufen und auch zu Akademiemitgliedern ernannt worden.

Das Chemiekombinat Bitterfeld war ein Initiator der Veredelungsstrategie. Mit dieser Strategie der höheren Veredelung der verfügbaren Rohstoffe wurde mit Beginn der 1970er Jahre in Verbindung mit der technologischen Erneuerung der Grundfonds (RSM = Rationalisierung, Stabilisierung, Modernisierung) auf der Grundlage von eigenen Erneuerungs- und Basisinnovationen der Erneuerungsprozess des Kombinates beschleunigt weitergeführt.

Mehr lesen:"Westen schuldet Osten etwa 8 Billionen D-Mark" - Interview mit Ökonom Klaus Blessing

 

Insgesamt wurden seit der Übergabe der Betriebe Farbenfabrik und Elektrochemisches Kombinat (Chemiekombinat Bitterfeld) in das Volkseigentum Investitionen in Höhe von 8,0 Milliarden DDR-Mark getätigt. Die Forschung hatte an diesen Leistungen einen gewichtigen Anteil und wurde demzufolge, wie das Kombinat auch, nach 1990 entsprechend verleumdet. So kann sich auch das Management vom (wie das Werk heute heißt) P-D ChemiePark von einer gewissen Niedertracht nicht freimachen. In einer Werbebroschüre – in Hochglanz, mehrfarbig und zweisprachig – aus dem Jahr 2005 heißt es:

Die Nachkriegszeit war zunächst geprägt von wirtschaftlicher Stagnation. Erst nach der Wiedervereinigung und der Privatisierung kam wieder Dynamik in den Standort. 1997 wurde der Chemiepark Bitterfeld-Wolfen gegründet, der vier Jahre später von der privaten Firmengruppe Preiss-Daimler erworben wurde.

Für die chemische Industrie der alten BRD war Bitterfeld, wie die übrigen ehemaligen IG-Farbenbetriebe bis 1990:

  1. eine unliebsame Konkurrenz und
  2. für die Aktionäre der IG Farben ein "warmer Regen" auf das eingefrorene Aktienkapital der sogenannten Ostwerte, u. a. mit den Ansprüchen auf das Vermögen in Ostdeutschland (Werke der IG in der sowjetischen Besatzungszone) durch die Umsetzung der Losung "Rückgabe vor Entschädigung" der Treuhand.

Das betraf auch die durch die Beschlüsse des Potsdamer Abkommens enteigneten Werke der IG Farben in der sowjetischen Besatzungszone zu: BUNA Schkopau, EKB Bitterfeld, Wolfen-Farben, EKL Berlin-Lichtenberg, Wolfen-Film, Staßfurt (Magnesium), Chemiefaser Premnitz.

Mit allen Mitteln Konkurrenz zu vermeiden ist nach Carl Duisberg, dem Vorstandsvorsitzenden der Bayern AG im frühen 20. Jahrhundert und späteren Aufsichtsratsvorsitzenden des Konzerns zwischen 1926 und 1935, immer das Ziel kapitalistischer, konzernstrategischer Politik, seit es Konzerne gibt.

(Hinweis: Teil 2 erscheint am Sonntag)

Mehr zum Thema Das andere Jubiläum – Was die DDR heute noch mit dem 3. Oktober verbindet, Teil 1

 

 

https://youtu.be/mbvvcSExqDs

 

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Wirtschaft

"Westen schuldet Osten etwa 8 Billionen D-Mark" - Interview mit Ökonom Klaus Blessing

4.02.2019 • 17:12 Uhr

https://de.rt.com/1sk0

Quelle: www.globallookpress.com © dpa

DDR-Staatschef Erich Honecker (links) und der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (rechts)

Jenseits von Vorurteilen versucht der Ökonom Klaus Blessing im Interview mit RT Deutsch, ein realistischeres Bild der DDR-Wirtschaft zu zeichnen. Im Mittelpunkt des Interviews stehen die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen und der DDR-Außenhandel.

Der studierte Ökonom Klaus Blessing war Leiter der Abteilung Maschinenbau des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und später stellvertretender Minister für Schwerindustrie der DDR. Seit den Umbruchsjahren 1989/1990 wirkt er unter anderem als Autor politischer und wirtschaftlicher Schriften.

Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow

Welche Umstände veranlassten die DDR dazu, wirtschaftliche Beziehungen zur der BRD aufzunehmen?

Der Handel zwischen der BRD und der DDR war nur eine Komponente der deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen, noch nicht einmal die entscheidende. Der Rahmen ist viel weiter zu fassen. Wir haben uns darauf einzustellen, dass dazu in diesem Jahr noch einiges an medialer Berichterstattung kommt. Ich will nicht vorgreifen, welchen Wahrheitsgehalt das haben wird. Als Linke sollten wir darauf schon jetzt eingestellt sein.

Das Thema ist umfassend und in gewissem Sinne auch brisant. Gegenüber der üblichen Argumentation muss man es vom Kopf auf die Füße stellen. Ich habe bereits zusammen mit anderen Kollegen im Jahr 2005 ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt: "Die Schuld des Westens: Wie der Osten Deutschlands ausgeplündert wird". Dort ist eine umfangreiche Dokumentation enthalten. Hier sind viele Informationen zu diesem Thema enthalten.

Es gibt mindestens folgende Gebiete, in denen der Westen gegenüber dem Osten verschuldet ist: erstens die mit der Spaltung Deutschlands vollzogenen Disproportionen und die Verletzung des Potsdamer Abkommens. Das sind auch die Wurzeln für die späteren Handelsverträge. Das zweite ist die Frage der Reparationsleistungen. Der Osten hat für Gesamtdeutschland die Reparationen gegenüber der Sowjetunion gezahlt. Der Westen erhielt parallel dazu Hilfen aus dem Marshallplan, ganz nach dem Kalkül: "Wenn wir den Kommunismus besiegen wollen, dann müssen

wir das ökonomisch machen." Das war eigentlich der Urknall des Dilemmas. Wir haben ja das bisschen Wirtschaftkraft, was nach der Spaltung übrig blieb, zu großen Teilen in die Sowjetunion als Reparation abgetragen. Wir haben auch umfangreiche Lieferungen aus der laufenden Produktion als Reparation an die Sowjetunion gegeben. Das Thema Uran-Bergbau stellt dabei ein besonderes Kapitel dar.

Dazu gesellte sich das Embargo, das zu riesigen Problemen für die DDR führte. Die DDR musste Industrien aufbauen, wo sie eigentlich hätte auf dem Weltmarkt einkaufen können. Stichwort Mikroelektronik. Diese anfängliche starke Disproportionalität führte unter den Bedingungen der offenen Grenzen zu massenhaften Abwanderungen und gezielten Abwerbungen, die die Dimension von drei Millionen Menschen hatte. Sie waren drüben als Aufbauhelfer herzlich willkommen, und uns fehlten sie. Die Verluste kann man beziffern. Auch bei geschlossener Grenze war es nicht so, dass keine Fachkräfte ausgewandert sind. In den 1980er-, 1990er-Jahren kam der richtige Knall. Das Volkseigentum der DDR wanderte in westdeutsche Hände.

Aus diesen Säulen ergibt sich riesige Schuld. Ich habe berechnet, dass der Westen bis zur sogenannten Wende vier Billionen D-Mark von der DDR profitierte. Nach der Wende ging es ja weiter mit massenhaften Auswanderungen. Da kommt noch mal ein ähnlicher Betrag zustande. Das sind natürlich ungefähre Beträge. Es geht aber darum, die Dimensionen klarzumachen, was hier eigentlich gelaufen ist. Wenn wir also über Wirtschaftsbeziehungen reden, müssen wir das in den größeren Kontext einzubetten, den ich versucht habe, hier klarzulegen.

Wie waren die Wirtschaftsbeziehungen in den 1950er-Jahren unter den Bedingungen der offenen Grenze und der sich verschärfenden Gegensätze zwischen Ost und West?

 

Die deutsch-deutschen Handelsbeziehungen hatten ihre Wurzeln im Potsdamer Abkommen. Dort war festgelegt, dass Deutschland als einheitlicher Wirtschaftsraum zu behandeln ist, in Kenntnis der Disproportionalität, also im Westen mehr Grundstoffzweige, bei uns, so weit noch vorhanden, Maschinenbau und verarbeitende Industrie. Um das als einheitliches Ganzes oder zumindest als Wirtschaftsgebilde zu erhalten, legte das Abkommen fest, dass innerdeutsche Handelsbeziehungen stattzufinden haben.

Die wurden natürlich von Anfang an von der BRD nicht als "Hilfe Ost" angesehen, sondern als Methode, um dem Osten Schwierigkeiten zu bereiten. Das kann man an zwei Punkten festmachten: Bei kritischen politischen Lagen wurden die Handelsbeziehungen gestoppt oder gegen null gefahren. Und zweitens waren diese Handelsbeziehungen so gestaltet, dass beim Export von Waren die DDR verpflichtet war, bestimmte Waren im Gegenzug zu kaufen. Viele Handelsökonomen sagen, dass diese Pflicht eindeutig zulasten der DDR ging, da die Exporte unter Weltniveaupreisen und die Importe über Weltniveaupreisen gekauft wurden.

In der DDR kauften vor allem westdeutsche Handelsketten massenhaft Konsumgüter und ließen diese umetikettieren. In ihren Versandhäusern verkauften sie diese dann billig, da sie sie hier extrem billig einkaufen konnten. Das war eine weite Palette von Waren, von Möbeln bis hin zu Industrieerzeugnissen. Wir waren ja darauf angewiesen, Rohstoffe oder Halbfabrikate zu bekommen, da wir ja keine richtige eigene Basis hatten.

Wir hatten Walzstahl in die BRD zu bestimmten, niedrigen Preisen exportiert und haben anderen dann zurückgekauft, natürlich nicht das gleiche Sortiment, sondern die Sortimente, die wir nicht herstellen konnten. Der innerdeutsche Handel war keine Gewinnsituation für die DDR. Es war ein Handel, wo eine bestimmte Abnahme garantiert war, aber auch eine Gegenlieferung zwangsweise genommen werden musste. Ein Devisenbringer, mit dem man hätte frei hantieren könnten, war es nicht. Die Verluste aus dem innerdeutschen Handel (für die DDR) beziffere ich relativ niedrig im Verhältnis zu den anderen Verlusten, wie den Reparationszahlungen, der Abwanderung der Arbeitskräfte und dann der Höhepunkt, dem Raub des Volkseigentums. Das ist also nicht der Dreh- und Angelpunkt.

Wurden die innerdeutschen Handelsbeziehungen nach der Schließung der Grenze in den 1960er-Jahre ununterbrochen fortgeführt, oder gab es eine Pause?

Die Handelsbeziehungen gingen bis zum Schluss fort. Berühmt-berüchtigt ist ja der von Strauß eingefädelte Milliardenkredit. Der innerdeutsche Handel lief als ständiges Instrument, mit Höhen und Tiefen, mit Erpressungsmethoden von der anderen Seite bis zum Schluss.

Was war der Anreiz für die BRD bzw. die westdeutschen Unternehmen, Handel mit der DDR zu treiben?

Dafür gibt es eindeutig zwei Gründe. Der erste ist ein ökonomischer Grund: Sie konnten hier billigst einkaufen. Sie haben das auch getan. In unserem Buch ist ein Abschnitt dazu, wie die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz sich bei solchen Geschäften eine goldene Nase verdiente. Die DDR war immer devisenhungrig.

Der andere Grund war ein politischer. Mit dem innerdeutschen Handel hatte die BRD ein Instrument in der Hand, um in politischen Problemzeiten Hähne zuzudrehen oder stark zu drosseln und somit der DDR Schaden zuzufügen. Das musste gar kein explizites Embargo sein, sondern konnte einfach die Nichtlieferung von Waren bei Handelsbeziehungen sein. Dadurch musste die DDR Industriezweige mit hohen Investitionskosten aufbauen. Unter normalen Bedingungen hätte sich die DDR auf dem Weltmarkt bedienen können.

Wie wurden die deutsch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen in der Partei- und Staatsführung bewertet? Gab es auch Kontroversen?

 

Jetzt schneiden Sie ein ganz heißes Thema an. Es gab in der Partei- und Staatsführung zwei Strömungen. Die kann man auch mit Namen benennen. Die erste Strömung vertrat eine feste Bindung an die Sowjetunion, aus der wir sowohl politisch als auch ökonomisch auch nicht herauskommen konnten, denn der Haupthandel lief ja trotz allem nicht mit der BRD, sondern mit der Sowjetunion.

Die andere Strömung, angeführt von Günter Mittag, vertrat die Position, dass die DDR als entwickeltes Industrieland nicht weit kommen würde mit Beziehungen nur zur Sowjetunion. Diese These würde ich nicht bestreiten. Sie haben dann mit Schalck-Golodkowski nicht nur eine eigene Wirtschaftspolitik betrieben, sondern ein eigenes Wirtschaftsunternehmen aufgebaut. Das war der Bereich "KoKo", also Kommerzielle Koordinierung, mit dem einzigen Auftrag, auf dem freien Markt Devisen zu erwirtschaften. So weit, so gut. Aber dieses Imperium hatte sich dann so weit aufgebläht, sowohl was die ökonomische Macht (zum Schluss kontrollierte die KoKo etwa 40 Prozent des Handels mit dem kapitalistischen Ausland), als auch was die persönliche Machtfülle angeht, denn dieses Imperium war nicht kontrollierbar. Es sollte auch nicht kontrolliert werden. Keine Finanzrevision, niemand hatte dort Zugang.

Dadurch entwickelte sich, was in der kritischen Phase – 1988/1989 – nicht das gemacht hat, was gemacht werden sollte, denn das Ziel bestand darin, durch die Devisenerwirtschaftung Devisen zu haben, die eingesetzt werden sollten. Devisenbestände gab es genug, in Milliardenhöhe. Sie wurden aber nicht eingesetzt.

Heute kann man nachträglich viel philosophieren, warum, weshalb, wieso. Ich habe vier Jahre unter Günter Mittag gearbeitet und den Mann etwas kennengelernt. Aus heutiger Sicht, auch unter Berücksichtigung von Dokumenten etwa aus dem Staatsarchiv, muss man formulieren, dass er ein Doppelspiel getrieben an. Nach der Wende gab er in einem Interview zu, dass er schon immer wusste, Planwirtschaft sei Mist und Marktwirtschaft das bessere. Wenn das ein Mann macht, der zu DDR-Zeiten offiziell alle ihm Untergebenen nur auf Planwirtschaft getrimmt hat, aber innerlich der Meinung ist, eigentlich muss man es anders machen, und dazu noch ein Parallelimperium aufgebaut hat, dass es anders gemacht hat – dann ist das die Antwort auf die Frage, was war denn in der Führung eigentlich los.

Honecker hörte wirtschaftlich nur auf Mittag. Schalck-Golodkowski unterstand Günter Mittag, obwohl Mittag das bestritt. Das ist aber dokumentarisch belegt. Hier entwickelte sich also eine Doppelwirtschaft, die nicht nur unschön, sondern insofern auch ökonomisch gefährlich war, als das Spiel dann so weit getrieben wurde, dass das Imperium Schalck-Golodkowski die eigene Staatswirtschaft der DDR ausplünderte. Sie haben dann nicht nur Waren aus der Wirtschaft rausgezogen, sondern auch Devisenbestände und Kredite ausgereicht, die doppelt so hoch wie auf dem Weltmarkt verzinst waren. Das Imperium Schalck-Golodkowski zog also einen Großteil der Devisen und anderer Gewinne aus der DDR-Wirtschaft. Das ist alles belegt.

Der Westhandel, also der Handel mit den kapitalistischen Staaten, auch andere als die BRD, war also keine einheitliche politische Linie der DDR-Führung. Erich Honecker war ansprechbar darauf, weil ihm das Türen zu politischen Repräsentanten in den kapitalistischen Staaten öffnete. Aber es gab auch warnende Stimmen, sogar solche, die sagten, dass das Verrat war. So weit würde ich nicht gehen, aber wenn ein Land in zwei Richtungen marschieren will, dann kann das nicht gutgehen.


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Nachrichten von Frankfurter Rundschau

Formularbeginn

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© dpa

Protest vor SKET-Schwermaschinenbau in Magdeburg 1992 gegen die Abwicklung durch die Treuhand.

© dpa

DDR

Die kriminelle Energie der Treuhand

vonArno Widmann

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Man kann die kriminelle Energie, die die Treuhand an sich zog, kaum überschätzen. Mit dem Ende der DDR wurde ihr gesamtes Volksvermögen verramscht – die Treuhand half mit, wo sie konnte.

Am 1. März 1990 beschloss der Ministerrat der DDR die Gründung der „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“. Die Modrow-Regierung war am 13. November 1989 gebildet worden und noch bis zum 12. April im Amt. Aufgabe des neu gegründeten Unternehmens sollte die Entflechtung der Kombinate sein, die Bildung von Kapitalgesellschaften, die Verhinderung der Verschleuderung der Vermögen und die Erhaltung möglichst vieler Arbeitsplätze. Am 1. Juli 1990 waren der Treuhand etwa 8500 Betriebe unterstellt mit mehr als vier Millionen Arbeitern und Angestellten. Dazu kamen 2,4 Millionen Hektar Land, das Vermögen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit, Liegenschaften der Nationalen Volksarmee und andere Immobilien

Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 kamen auch die Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der Ex-DDR unter Treuhand-Aufsicht. Die Treuhand war für kurze Zeit das größte Kombinat, das die DDR je hatte. Das Wirtschaftssystem, das sie auflösen sollte, lebte in der zentralistischen Lenkungsstruktur der Treuhand fort. Nach der Wiedervereinigung wurde an den offiziellen Zielen der Treuhand nichts geändert. Es ging weiter darum, die Betriebe möglichst teuer zu verkaufen und Arbeitsplätze zu erhalten. In der Praxis aber kam es dank der Maxime „schnell privatisieren“ zu einer Schnäppchenjagd, bei der eine ganze Generation von Raubrittern, flankiert von Anwälten und „Beratern“, sich bereicherte.

Dass die Treuhand in zahllosen Fällen weder die Bonität der Käufer noch die Einhaltung der Verträge überwachte, ist aktenkundig. Es gibt allerdings – soweit ich sehe – bis heute keine Studie, die sich den aus der Vereinigungskriminalität von Tausenden oder Zehntausenden und den persönlichen Anstrengungen von Millionen entstandenen neuen Mittelstand der ehemaligen DDR angesehen hat. Wir waren dabei, wie eine neue Gesellschaft entstand. Wir wissen aber viel zu wenig darüber, wie das geschah.

Das von der Treuhand verwaltete Volksvermögen bezifferte der damalige Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder auf etwa 600 Milliarden DM. Die Einnahmen der Treuhand beliefen sich bis Ende 1994 auf 60 Milliarden DM. Die Ausgaben dieses Kombinats zur Abschaffung der Kombinate lagen bei 300 Milliarden DM. Die Treuhand war so gerechnet eine gewaltige Fehlinvestition.

Verfehlte Ziele

Das andere Unternehmensziel – die Verhinderung oder doch wenigstens Minimierung der Arbeitslosigkeit – wurde ebenso verfehlt. Es gibt zwar keine überprüfbaren Zahlen. Das liegt aber nicht zuletzt daran, dass weder die Treuhand noch sonst jemand systematisch überprüfte, was von den Beschäftigungsversprechen der Käufer nach einem Monat, nach zwei Monaten oder gar Jahren übrig blieb. 1992 jedenfalls gab es auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine Arbeitslosigkeit von 14,2 Prozent. Die Proteste blieben nicht aus – waren aber meist wirkungslos. So auch die spektakuläre Betriebsbesetzung der Kali-Arbeiter im thüringischen Bischofferode im Sommer 1993.

Am Ende ihrer Arbeit am 31. Dezember 1994 hatte die Treuhand das von ihr verwaltete Vermögen zu etwa fünf Prozent über Management Buy Out oder Genossenschaften an ehemalige Bürger der DDR verkauft, zu zehn Prozent an internationale Investoren und zu 85 Prozent an Westdeutsche. Eine Eigentumsübertragung wie man sie selten in der Weltgeschichte findet. Man kann sich nur wundern darüber, dass das Gefühl, von einer Besatzungsmacht ausgenommen worden zu sein, nicht weiter verbreitet war. Auch das ist Verdienst der Treuhand. In der öffentlichen Debatte verkörperte sie den Ausverkauf der DDR. Alle Augen starrten auf sie. Über sie wurden dutzendweise Bücher geschrieben sowie wütende Dokumentarfilme, hinreißende Satiren gedreht. Die Treuhand war der Beelzebub, auf den eingedroschen wurde. Sie war das Hassobjekt, die Zielscheibe. Am 1. April 1991 wurde Detlev Karsten Rohwedder, der dritte Chef der Treuhand, ermordet.

Kurz zuvor hatte Rohwedder erklärt, die Anstalt müsse einen Kurswechsel vornehmen. Man dürfe nicht alles privatisieren, sondern mehr in Formen des Gemeineigentums überführen. Rohwedder hatte auch im März 1991 vor Betriebsräten erklärt: „Die Treuhand-Anstalt ist hilflos gegenüber diesem Tornado an Kritik und der Vielzahl von Vorwürfen, die überwiegend berechtigt waren.“ Berechtigt!

Heerschar von Glücksrittern

Man kann die kriminelle Energie, die die Treuhand an sich zog, kaum überschätzen. Innerhalb von vier Jahren wurde ein ganzer, freilich weitgehend marode gewordener Industriestaat abgewickelt. Das musste eine Heerschar von Glücksrittern anlocken.

Das führte bei den Mitarbeitern der Behörde selbst aber auch zu einem rapiden Abbau des kaufmännischen Verstandes. Der erste westdeutsche Chef der Treuhand, Reiner Maria Gohlke, erkannte das sofort. Er hatte seinen Dienst am 16. Juli 1990 angetreten. Am 20. August trat er zurück. Seine später vorgetragene Begründung sagt alles über die Arbeitsweise – sagen wir ruhig: die Arbeitsmoral – der Treuhand: „Ich wollte nicht jede halbe Stunde irgendeine Milliarde unterschreiben und dann zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen.“

Man kann sich nicht ernsthaft hinstellen und die Treuhand preisen. Man kann sie aber auch nicht einfach schmähen. Was wäre die Alternative gewesen? Sich Zeit nehmen? Das entscheidende Wort dazu sprach Helmut Kohl. Es lautete 1 Mark der DDR ist 1 DM. Von da an war klar: Die Vereinigung wird teuer. Hätte man die Ex-DDR in eine Wirtschaftszone verwandelt zum Beispiel mit DDR-Löhnen – vielleicht hätte es beim Übergang weniger Arbeitslose gegeben. Aber Deutschland wäre ganz sicher kein einig Vaterland geworden. Das Gefühl der Erniedrigung wäre noch stärker gewesen, die Abwanderung größer.

Viele Verbrechen der Treuhand waren eine Konsequenz ihrer Konstruktion, ihrer Aufgabenstellung – und Teil ihres Auftrages. Es wäre gut, einmal einen Blick auf die anderen Volksrepubliken zu werfen und auf die Verfahren, mittels derer sie herausfanden aus der Kommandowirtschaft. Oder auch nicht herausfanden. So gesehen haben wir wieder mal Glück gehabt.

Die Wiedervereinigung bescherte der bundesrepublikanischen Wirtschaft einen Boom, der sie hinwegtäuschte über die Herausforderungen der Globalisierung. Das war ein Nachteil, aber zumindest die Geschäftsbücher wurden noch einmal gefüllt. Diese Polster halfen über die ersten Schwierigkeiten hinweg. Das gilt nicht nur für „die Wirtschaft“. Die Prosperität – während die Welt ringsum sich von Problemen bedroht sah – gab den Bundesbürgern ein Selbstvertrauen, das ihnen half, die sozialen Einschnitte der Agenda 2010 zu verdauen.

 

 

 

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„Das schlimme Wirken der Treuhand und die Verweigerung der Aufarbeitung“

29. März 2019 um 9:39 Ein Artikel von: Tobias Riegel

Eine aktuelle Beurteilung der Treuhandanstalt durch das Finanzministerium ist empörend. Sie wirft zudem ein Licht auf die noch immer offene Wunde der DDR-Abwicklung und den Skandal der verweigerten Aufarbeitung. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

https://www.nachdenkseiten.de/upload/podcast/190329_Das_schlimme_Wirken_der_Treuhand_NDS.mp3

 

Das Wirken der Treuhandanstalt gegen die ostdeutsche Volkswirtschaft nach 1989 ist eine noch immer offene gesellschaftliche Wunde. Dass die damaligen Massenentlassungen und andere Demütigungen bis in die Gegenwart hineinwirken, lässt sich nicht ignorieren. Die politisch-wirtschaftlichen Verletzungen wurden zusätzlich verschlimmert durch eine die Ostdeutschen herabsetzende Medien-Propaganda, die den Kahlschlag nach der Wende begleitet hatte und diesen bis in die Gegenwart in Schutz nimmt.

Kalt und verzerrt: Die aktuelle Sicht des Finanzministeriums auf die Wendejahre

Doch nicht nur Redakteure und profitierende Firmenlenker haben sich damals schuldig gemacht und weigern sich bis heute, die Verantwortung für von ihnen veranlasste Massenentlassungen bzw. Meinungsmache anzuerkennen. Auch die Politik hat jahrzehntelang fatale Weichen gestellt und falsche Signale gesendet. Alle Genannten haben gemein, dass sie die heutigen gesellschaftlichen Spaltungen nicht mit der von ihnen geprägten Geschichte seit 1989 in Verbindung bringen wollen. Ganz aktuell empört das Finanzministerium in einem Dokument mit seiner verzerrten und kalten Sicht auf die ökonomischen und menschlichen Verwerfungen der Nachwende-Jahre.

Anlass der Äußerungen ist eine Anfrage der Linkspartei. In der Antwort auf die Frage, ob die Bundesregierung rückblickend „den Auftrag und die Ausrichtung der Arbeit der Treuhandanstalt als einen politischen Fehler der Nachwendezeit“ einordne, wird die angemessene Kritik am rabiaten Privatisierungsvorgehen nach 1989 verweigert.

Weißwaschung: Aus dramatischen Umwälzungen werden „geregelte Privatisierungsprozesse“

Im Gegenteil wird in dem Papier die dramatische Umwälzung zum „geregelten Privatisierungsprozess“ schöngeredet, mit dem „die Unternehmen möglichst schnell mit dem erforderlichen Kapital und marktwirtschaftlichem Know-how ausgestattet werden“ sollten, „um ihre Wettbewerbsfähigkeit und somit ihren Fortbestand und den Erhalt bzw. die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu sichern“. Dieses fortgesetzte Verschanzen hinter lange als Propaganda überführten Floskeln muss von den Menschen, denen die damals „gesicherten“ Arbeitsplätze weggenommen wurden, als weitere Ohrfeige empfunden werden.

Auf die von der Schocktherapie der Treuhand Betroffenen geht das Ministerium in der ganzen Antwort mit zwei dürren Sätzen ein:

„Nicht wettbewerbsfähige Unternehmen oder Teile davon mussten jedoch auch geschlossen werden. Das bedeutete für viele Beschäftigte den Verlust des Arbeitsplatzes, die damit von einer besonderen Härte des Transformationsprozesses betroffen waren.“

Unbequeme Daten: „Statistisch nicht erfasst“

Als Reaktion auf die Frage der Linksfraktion, „wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ostdeutscher Betriebe, an deren Umgestaltung die Treuhandanstalt, deren Tochtergesellschaften und Nachfolgeorganisationen beteiligt waren, nach Kenntnis der Bundesregierung in den Jahren nach 1989 ihren Arbeitsplatz verloren“ hätten, spielt das Ministerium in inakzeptabler Weise den Ahnungslosen. So könne man gar nicht beziffern, wie viele der etwa vier Millionen in Treuhandunternehmen Beschäftigten während des „Transformationsprozesses“ nach der Wende ihren Arbeitsplatz verloren hätten. Das sei „statistisch nicht erfasst“ – ein unglaublicher, aber für die damals Verantwortlichen komfortabler Tatbestand.

Den Rest des Schriftstücks kann man als mutmaßliche Nebelkerzen, Behauptungen und unangebrachte Rechtfertigungen einordnen. So seien bei den Privatisierungen auch Arbeitsplätze „erhalten und neue Jobs geschaffen“ worden, so das Ministerium. Bei Beendigung der Tätigkeit der Treuhand Ende 1994 seien bei den Privatisierungen insgesamt 1,5 Millionen Jobs vertraglich zugesagt worden. Diese Zusagen seien nach dem Ergebnis der im Rahmen des Vertragsmanagements erfolgten Überprüfung insgesamt eingehalten worden.

„Schlag ins Gesicht vieler Ostdeutscher“

Der Ko-Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, charakterisiert diese Mischung aus Weißwaschung der Verantwortlichen einerseits und Bagatellisierung der zahlreichen Schicksalsschläge andererseits treffend als einen „Schlag ins Gesicht vieler Ostdeutscher“:

“Die Ostdeutschen haben ein Recht darauf, dass politisches Versagen der Nachwendezeit aufgearbeitet wird. Bis heute leidet die ostdeutsche Wirtschaft unter dem Treuhand-Kahlschlag. Ausverkauf und tausendfaches Plattmachen ostdeutscher Betriebe waren nicht alternativlos.“

Der dpa sagte Bartsch, der Verlust von mindestens 2,5 Millionen Jobs werde als Baustein einer guten Entwicklung verkauft – dies sei unfassbar. Dazu kommt, dass das SPD-geführte Finanzministerium mit seiner Stellungnahme auch vielen ostdeutschen Sozialdemokraten in den Rücken fällt, die die überfällige Aufarbeitung des Treuhand-Desasters ebenfalls einfordern.

Treuhand-Mythen zum Jahrestag

Das aktuell leicht auffrischende Interesse an der Treuhand hat ihren Ursprung auch im kürzlichen Jahrestag: Am 1. März 1990 hatte die Anstalt öffentlichen Rechts ihren verhängnisvollen Dienst aufgenommen. Aus diesem Anlass waren Anfang des Monats noch einmal einige der bekannten Mythen und Rechtfertigungen zu lesen.

Den Aufschlag machte der frühere Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Rolf Schwanitz, der in der „FAZ“ verkünden durfte, dass „die Treuhand nicht schuld“ und die „DDR nicht überlebensfähig“ waren. Diese Vorlage griffen wohlwollend etwa dpa oder „ntv“ auf. Auffallend war aber eher der Mantel des medialen Schweigens, der versucht wurde über das Datum zu legen.

Die aktuelle Antwort des Finanzministeriums mag eine Randnotiz sein. Aber sie symbolisiert vieles von dem, was seit 1989 (bewusst) falsch gemacht wurde. Zwar können viele der mutmaßlichen Verbrechen der Wendejahre interessierten Zeitgenossen heute bekannt sein. Auch die Praxis der kalten Leugnung dieser medial gedeckten Vergehen durch Redakteure und Poltiker ist bekannt. Es macht aber dennoch einen Unterschied, die Haltung des Ministeriums in einer so entlarvenden Form Schwarz auf Weiß zu lesen.

Aus den Worten des Finanzministeriums spricht die Verweigerung jedes Lernprozesses, jeder kritischen Analyse der Wendejahre und das fortgesetzte Distanzieren von mitverursachten sozialen Katastrophen, für die Redakteure, Politiker und Konzernchefs 1989 die Weichen stellten.

Wendejahre – Analysen der NachDenkSeiten

Die NachDenkSeiten haben sich in zahlreichen Artikeln mit den Verwerfungen der Wendejahre und der sie kaschierenden Propaganda beschäftigt.

So hat Albrecht Müller in diesem Artikel den „Beutezug Ost – Die Treuhand und die Abwicklung der DDR“ analysiert. In diesem Text wurde zum 25. Jahrestag des Mauerfalls beschrieben, „wie brutal nach der Wiedervereinigung vielen Menschen der ehemaligen DDR die Existenzgrundlage durch Vernichtung der industriellen Basis der nun neuen Bundesländer entzogen wurde“. In diesem Artikel wird die über Kulturpropaganda lancierte DDR-Dämonisierung am Beispiel des Films “Das Leben der Anderen“ beschrieben. In einer Rezension des Buches „Integriert doch erst mal uns!“ der sächsischen SPD-Politikerin Petra Köpping verdeutlicht die Autorin nochmals die Auswirkungen der nicht aufgearbeiteten Wendejahre auf die Gegenwart:

„Von manchen wird der wirtschaftliche Zusammenbruch 1990 als normale ‚schöpferische Zerstörung’ beschrieben, wie sie nun einmal im Kapitalismus stattfindet. Doch diese allein auf ökonomischen und manchmal auch ökologischen Argumenten erfolgte Zuschreibung macht Millionen von Beschäftigten zu bloßen Kollateralschäden. Doch gerade weil die Arbeitsstelle in der DDR einen enormen Stellenwert hatte, resultieren aus der Ignoranz gegenüber dem Schicksal vieler Ostdeutscher nachhaltige Kränkungs- und Demütigungsgefühle. Und selbst bei jenen, die sich letztlich wirtschaftlich erfolgreich durchgekämpft haben, steckt weiterhin dieser Stachel im Fleisch.“

Titelbild: Leremy / Shutterstock

 

 

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Deutschland

Zahl der Opfer des DDR-Grenzregimes wird künstlich hochgerechnet

8.11.2018 • 21:57 Uhr

https://de.rt.com/1oyd

Quelle: Sputnik

Erinnerung an Opfer der Berliner Mauer

Bei einer von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie über die Zahl der Opfer des DDR-Grenzregimes werden auch Todesfälle mitgezählt, die mit der ehemaligen Grenze nichts zu tun hatten. Wieder einmal geht es vor allem darum, die DDR zu diskreditieren.

Eine Studie der Bundesregierung rechnet die Zahl der Opfer des DDR-Grenzregimes künstlich hoch. Wie Recherchen des rbb ergeben, werden in der Studie auch Todesfälle mitgezählt, die mit dem Grenzregime wenig oder gar nichts zu tun hatten.

Die 650.000 Euro teure Studie wurde 2012 vom damaligen Kulturstaatssekretär Bernd Neumann in Auftrag gegeben und 2017 von seiner Nachfolgerin Monika Grütters, gemeinsam mit den Autoren Klaus Schroeder und Jochen Staadt, vorgestellt. Schroeder und Staadt vom "Forschungsverbund SED-Staat" der Freien Universität Berlin waren gemeinsam mit dem früheren Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, über Jahre hinweg die bei den Medien des Mainstream beliebtesten "Erklärer" der DDR.

 

 

Gemeinsam sorgten sie dafür, dass die Erinnerung an "das Unrecht" des anderen deutschen Staates wachgehalten und positive Sichtweisen oder selbst nur eine differenzierte Betrachtung der DDR-Vergangenheit in der Öffentlichkeit keinen Platz bekamen.

Der Wunsch, das Bild der DDR so grauschwarz wie nur möglich zu zeichnen, scheint auch hinter den Übertreibungen dieser Studie zu stehen. Die tatsächliche Zahl der bei einem nach DDR-Gesetzen illegalen Grenzübertritt dürfte den Autoren zu niedrig erschienen sein. Nach ihren "Berechnungen" gab es von 1949 bis 1989 327 Opfer des Grenzregimes der DDR an der Grenze gen Westen, zur BRD.

Die rbb-Recherchen zeigen nun, dass dabei auch höchst zweifelhafte Fälle mitgezählt wurden: Dazu gehören Selbstmorde von Grenzsoldaten. Nach Ansicht der Autoren seien diese "an den Anforderungen des Dienstes zerbrochen" und damit Opfer des Grenzregimes. Angehörige beharren dagegen darauf, dass sie sich wegen privater Probleme das Leben genommen hätten.

Mehr zum Thema - Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen: Direktor Hubertus Knabe nach Sexismus-Vorwürfen entlassen

Ein anderer Fall betrifft einen ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS, der nach 1949 in der DDR-Grenzpolizei diente. Er wurde 1951 verhaftet und 1952 in Moskau hingerichtet. Nach Ansicht der Autoren sei er wegen einer geplanten Flucht verhaftet und verurteilt worden, tatsächlich wollte er fliehen, vermutlich vor der ihm drohenden Verurteilung wegen mitbegangener Kriegsverbrechen.

Die Autoren verteidigen ihre Zählung: Sie hätten weder verharmlost noch manipuliert. Angehörige der als Opfer kategorisierten Grenzsoldaten sind dagegen entsetzt, ebenso Opferverbände, die der Studie in Teilen die Wissenschaftlichkeit absprechen. Kulturstaatsministerin Grütters hat angekündigt, die zweifelhaften Fälle überprüfen zu lassen.

Die DDR ist als Beispiel für angeblich bösartiges, ungesetzliches oder unmoralisches staatliches Handeln im heutigen deutschen Mainstream nach wie vor höchst beliebt. Das gilt nicht nur für das Grenzregime, sondern natürlich auch für viele andere Lebensbereiche. So wurde Anfang dieser Woche bei einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Überwachungsstaat kaum über neue deutsche Polizeiaufgabengesetze, die Schnüffelei der NSA oder die Software von Palantir Technologies diskutiert, sondern vielmehr - über die Stasi.

Die anhaltende Dämonisierung der bald 30 Jahre zurückliegenden DDR-Geschichte dient vermutlich dazu, positiven Sichtweisen auf diese Epoche deutscher Geschichte vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Probleme in Deutschland entgegenzuwirken und die gegenwärtigen Verhältnisse zu legitimieren.

https://youtu.be/ymX7EGrqz6k

 

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Die Konrad-Adenauer-Stiftung nahm sich am 5. November das Thema "Überwachungsstaat?! - Observation und Kontrolle in Geschichte und Gegenwart" vor. In drei Panels wurde über Ausspähung der Bürger in einer Diktatur und in der Demokratie diskutiert. Aktuelles kam zu kurz.

Die Stasi in der DDR schwebte wie eine dunkle Wolke über die Gesamtdauer der Veranstaltung hinweg und wurde als eine Art Vorzeige-Beispiel für verbrecherische Überwachung eines Staates immer wieder angeprangert. Bereits der Veranstaltungsort gab die Richtung der Kritik an - die Stasi-Zentrale in der Ruschestraße. Soweit so nachvollziehbar.

Doch mit dem Ende der Stasi und der DDR hat die Überwachung durch Staatsstrukturen unterschiedlicher Länder keineswegs aufgehört. Im Gegenteil. Es gäbe genügend aktuellen Stoff für Kritik. Wie etwa länderübergreifende Ausspionierung und massenhafte Datenspeicherung durch die NSA, von der noch nicht mal die Bundeskanzlerin selbst verschont geblieben ist. Auch das für zunehmenden Unmut in der deutschen Bevölkerung verantwortliche Polizeiaufgabengesetz und seine "drohende Gefahr"-Regelung.

Da wäre auch noch der Staatstrojaner, der bereits heute bei den Ermittlungen in Deutschland zum Einsatz kommt. Doch das alles erwies sich als irrelevant für die Veranstaltung. Auch bei dem Thema der politischen Verfolgung von Systemkritikern vergaß man Namen wie Edward Snowden, Julian Assange oder Chelsea Manning.

https://youtu.be/SXOmJ8QssJg

 

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Deutschland

Grundgesetz "völkerrechtlich bedenklich" und "von Westmächten oktroyiert" – Ex-Staatsanwalt (Teil 1)

26.01.2019 • 07:30 Uhr

Hans Bauer, ehemaliger stellvertretende Generalstaatsanwalt der DDR, sprach im Interview mit RT Deutsch über Verfassungsrecht. Im ersten Teil liefert er eine kritische Einschätzung zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und des Rechtsstaats.

Hans Bauer war ab dem Jahr 1966 als Staatsanwalt in der Deutschen Demokratischen Republik tätig. Er diente auf den verschiedenen Ebenen der staatlichen Strukturen der DDR. Im Umbruchsjahr 1989 wurde er zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt ernannt. Während seiner Dienstzeit als Staatsanwalt war er ein Jahr im Außenministerium abgeordnet. Dort arbeitete er an Menschenrechtsfragen. Später, in den 1980er Jahren, wirkte er über mehrere Jahre als Berater in der Volksdemokratischen Republik Jemen. Dort half er, die südjemenitische Staatsanwaltschaft aufzubauen.

Sein Spezialgebiet ist die Kriminalitätsforschung, insbesondere die Kriminalitätsvorbeugung. Im Frühling des Jahres 1991 wurde er dann arbeitslos. Nach der Übernahme des DDR-Gebiets durch die BRD erhielt er im Jahr 1992 die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft und ist seitdem als Anwalt tätig. Im Jahr 1993 wirkte er führend bei der Gründung der Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung mit, die sich um Solidarität mit den nach 1990 von der westdeutschen Justiz verfolgten DDR-Vertretern bemüht, und ist seit 2005 deren Vorsitzender.

Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow.

Unter welchen Bedingungen ist das Grundgesetz entstanden? Hat das Volk bei der Erarbeitung dieser Verfassung eine Rolle gespielt?

Das Volk hat eigentlich gar keine Rolle gespielt. Das Grundgesetz war praktisch ein Auftrag von den drei Westalliierten, die auch Vorgaben machten. Dann wurde ein Rat eingesetzt, der einen Entwurf erarbeitete. Es gab Expertenkommissionen zu den einzelnen Artikeln. Nachdem der Gesamtentwurf vorlag, stimmte der Parlamentarische Rat darüber ab. Das Alles dauerte zirka ein Dreivierteljahr. Bei der Abstimmung gab es nicht nur die zwei Gegenstimmen der Kommunisten, aus unterschiedlichen Gründen. Danach wurde der Entwurf in die Länderparlamente delegiert und dort abgestimmt. Aber es erfolgte keine Diskussion im Volk, etwa zu den Fragen, was in das Grundgesetz aufgenommen wird, womit

man sich auseinandersetzen muss, was positive und negative Aspekte sind. Das Grundgesetzt wurde im Prinzip nach Vorgabe der drei Westalliierten in einem kleinen Expertenkreis ausgearbeitet und von den Ländern abgestimmt.

Dazu muss man sagen, dass es ja nur eine provisorische Verfassung war. Deswegen nannte man sie auch Grundgesetz. Das geschah auch vor dem Hintergrund, dass man die Einheit Deutschlands anstrebte. Die Verfassung der DDR, die im Oktober 1949 angenommen wurde, war auch provisorisch, auch unter dem Gesichtspunkt der Einheit Deutschlands. Insoweit hatten beide Verfassungen den Hintergedanken, die Einheit Deutschlands herzustellen.

Der entscheidende Unterschied war, dass im Grundgesetz die Einheit Deutschlands unter dem Gesichtspunkt gefasst wurde, auch noch die "Ostgebiete" zu bekommen, also Deutschland in den Grenzen von 1937 und insbesondere die Sowjetische Besatzungszone. Daher wollte man noch nichts Endgültiges schaffen.

Die Verfassung der DDR, die ja auch die Einheit Deutschlands vorsah, sollte in ganz Deutschland diskutiert werden. Wie bekannt ist, wurden mehrere Vorschläge unterbreitet, wie eine Diskussion zur Einheit Deutschlands in ganz Deutschland in Gang gebracht werden könnte. Der letzte Vorschlag war Stalins berühmte Note im Jahr 1952. Diese vorgesehene Diskussion im ganzen Volk war für das Grundgesetz gar nicht angedacht. Zumindest zu dieser Zeit hatte ja der Bundeskanzler der BRD, Konrad Adenauer, den Gedanken, dass man den Osten militärisch "befreien" könnte. Insofern gab es völlig unterschiedliche Voraussetzungen unter dem Gesichtspunkt der Einheit Deutschlands.

 

 

Das Grundgesetz der BRD ist nicht nur nicht mit der Bevölkerung zustande gekommen und von den Westmächten oktroyiert worden, sondern ist genau genommen auch gegen das Potsdamer Abkommen zustande gekommen und daher völkerrechtlich bedenklich. Im Potsdamer Abkommen wurde festgelegt für ganz Deutschland: Entwicklung der Demokratie, Antifaschismus (vor allem Antinazismus),

Enteignungen der Großkonzerne, die am Krieg verdient hatten und so weiter. Das alles findet sich im Grundgesetz nicht wieder. Schon darin zeigt sich, dass dieses Grundgesetz nicht antifaschistisch-demokratisch zustande kam, aber auch nicht in Übereinstimmung mit dem geltenden Völkerrecht.

Wie positionierte sich die KPD zu dem Entwurf des Grundgesetzes?

Dazu gibt es eine ganze Menge Literatur. Bekannt ist insbesondere, dass die KPD grundsätzlich gegen das Grundgesetz war. Die zwei KPD-Vertreter im Parlamentarischen Rat haben das Grundgesetz auch in den Gremien nicht befördert. Max Reimann (KPD-Vorsitzender) hat viele der Sitzungen dann gar nicht mehr besucht. Andererseits war die KPD nur mit zwei Vertretern dort anwesend. Während der Ausarbeitung wurde Reimann auch kurzzeitig inhaftiert. Nach der Abstimmung des Grundgesetzes erklärte Reimann dann, dass die KPD zwar dem Grundgesetz nicht zugestimmt habe, aber die Erste sein werde, die es verteidigen müsse. Das, was in den ersten Jahren nach Annahme des Grundgesetzes geschah, verstieß schon gegen das Grundgesetz, wenn man es genau nimmt. Und heute erst recht.  

Die Bedenken der KPD gegen das Grundgesetz bestanden hauptsächlich darin, dass es nicht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und undemokratisch war sowie auf die Spaltung Deutschlands hinauslief. Im Prinzip hat sich diese Einschätzung bestätigt, vor allem, was die Verteidigung des Grundgesetzes angeht.

Wie ist das Grundgesetz anhand der Kriterien eines Rechtsstaates zu bewerten?

Was ist ein Rechtsstaat? Das klingt erst einmal gut und ist in aller Munde. Es gibt keine wissenschaftliche Definition dazu, zum Unrechtsstaat schon gar nicht. Aber das Grundgesetz formuliert etwas, was in deutschen Verfassungen schon seit Jahrzehnten stand: allgemein Menschliches. Von "die Würde des Menschen ist unantastbar" bis hin zu allgemeinen Regelungen, die die grundlegenden Bürger- und Menschenrechte betreffen. Das ist in etwa wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Solch eine Erklärung war zu dieser Zeit ein gewaltiger Fortschritt. Schon damals stimmten aber die Sowjetunion und andere der Erklärung nicht zu, aber nicht, weil sie dagegen waren, sondern ganz einfach deshalb, weil es sehr allgemein gehalten und nicht greifbar war sowie auch zu wenig das Selbstbestimmungsrecht der Völker beinhaltete.

Das, was im Grundgesetz an grundlegenden Menschen- und Bürgerrechten steht, ist im Wesentlichen so allgemein gehalten, dass es nicht greifbar ist und man alles damit machen kann. Das wird dann als Rechtsstaat bezeichnet, aber der wichtigste Aspekt eines Rechtsstaats ist, dass die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse rechtlich geregelt sind. Alles was geschieht, muss irgendwo in einer Norm, in einem Gesetz enthalten sein. Es muss alles rechtlich exakt geregelt sein, wie sich der Mensch wann, wo und wie verhalten soll oder nicht verhalten soll. Und er soll sich (auch gegen den Staat) wehren können, wenn er meint, dass seine Rechte verletzt wurden. Eigentlich ist das als Rechtsstaat zu verstehen.

Es bedeutet aber noch nicht, dass das, was in den Gesetzen enthalten ist, besonders menschen- oder bürgerfreundlich ist, oder dass man aus dem, was im Recht, in den Normen des Grundgesetzes steht, Ansprüche geltend machen kann. Arbeit zum Beispiel. Jeder muss arbeiten, um zu existieren. Das ist sehr wichtig, jedoch steht dazu überhaupt nichts. So auch die sozialen Rechte. Insofern fehlen ganz entscheidende Punkte im Grundgesetz, wenn man schon vom Rechtsstaat spricht, wenn man vom Inhalt den Rechtsstaat verstehen will. Da kann auch der bürgerliche Rechtsstaat ein Staat sein, der kein Recht oder gar Unrecht bietet. Das ist nicht formuliert. Das steht ja nicht drin, dass man keine Arbeit bekommt. So gesehen ist der Begriff Rechtsstaat schon problematisch. Die Diskussion muss also tiefer gehen. Was die DDR angeht: Wir wollten kein bürgerlicher Rechtsstaat werden. Wenn, dann ein sozialistisRechtsstaat, in dem Inhalt mit Form übereinstimmt.

 

 

 

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Deutschland

"Ich war gern DDR-Bürger!" – DDR-Popstar Tino Eisbrenner im Gespräch

3.10.2019 • 18:02 Uhr

 

 

Für Tino Eisbrenner war die DDR Ort und Zeit seines Karriereaufschwungs. Mit seiner Band Jessica tourte er durch fast alle Ostblockstaaten und sagt heute, dass die Wende für ihn den Verlust seiner Heimat bedeutete.

Margarita Bityutski hat sich mit ihm darüber unterhalten, wie es mit der Angst vor den Herrschenden und der Redefreiheit in der DDR aussah, warum er heute mit Kunst Brücken nach Russland baut und was Menschsein für ihn bedeutet.

https://youtu.be/gqb929Wg5Y0

 

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Meinung

Die DDR-Außenpolitik: Ein kleiner Staat auf der Bühne der großen Weltpolitik (Teil 1)

20.07.2019 • 09:15 Uhr

https://de.rt.com/1xpy

Quelle: Sputnik

Internationale Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien. Im Vordergrund: Erich Honecker (r.) und Walter Ulbricht (M.)

Trotz ihrer geringen Bevölkerungszahl zeigte die Deutsche Demokratische Republik eine beachtliche Aktivität hinsichtlich ihrer Außenpolitik. Wir sprachen mit dem Historiker und Politologen Prof. Anton Latzo, der selbst in der DDR lehrte, über die DDR-Außenpolitik.

Spätestens mit der Schließung der Grenze in Berlin im Jahre 1961 war die vornehmlich von der Westseite betriebene Spaltung Deutschlands zementiert. Wie wirkte sich das auf die Außenpolitik der DDR aus?

Angesichts eines bevorstehenden Jahrestages des 13. August 1961 mit allen zu erwartenden Argumenten zur einseitigen Delegitimierung der DDR und ihrer Politik möchte ich einige Aspekte in Erinnerung rufen, die den Hintergrund für die Maßnahmen der DDR bildeten. Eines der neuralgischsten Probleme der Nachkriegsperiode, das auch die Möglichkeit offen einschloss, den Status quo in Europa zu verändern, war die Nichtanerkennung des völkerrechtlichen Charakters der Grenzen zwischen beiden deutschen Staaten.

Die offene Grenze zu Westberlin und zur BRD war zu einer akuten Gefahr für die DDR geworden. Sie stellte zugleich die gesamte europäische Nachkriegsordnung in Frage.

Die DDR war jahrelang mit massiven, auf ihre Beseitigung gerichteten ökonomischen (Stahlembargo) und politischen (Handelsaustausch) Aktivitäten und Störaktionen (massiver Abgang von qualifizierten Arbeitskräften) seitens der BRD konfrontiert. Hinzu kamen die Anti-DDR-Kampagnen der westdeutschen Medien. Westberlin wurde systematisch zu einem Zentrum der Diversion und Spionage gegen die DDR, die Sowjetunion und die anderen Staaten der Warschauer Vertragsorganisation ausgebaut. Die DDR war mit einem gefährlichen Abfluss existenzieller ökonomischer und finanzieller Ressourcen sowie intellektuellen Potenzials und mit der Gefährdung des Friedens in Europa konfrontiert.

Es ging um Existenz und Selbstbehauptung der DDR. Es ging aber auch um die Stabilität der Entwicklungsbedingungen der anderen sozialistischen Länder und nicht zuletzt um die europäische Ordnung. Es ging um die Frage Krieg oder Frieden!

Während einer zweiwöchigen Reise in die USA (Juli 1961) verlangte Franz Josef Strauß, dass in der sogenannten Berliner Krise der gesamte Westen einbezogen werden müsse. Er erklärte, dass die BRD ihrerseits entschlossen sei, "diese Krise bis zur letzten Konsequenz zuzuspitzen". Auf einer Pressekonferenz wies er laut der Deutschen Presse-Agentur am 1. August 1961 darauf hin, "dass der Westen auf eine Art Bürgerkrieg vorbereitet sein müsse".

Solche Entwicklungen bildeten den Hintergrund für die von der Warschauer Vertragsorganisation sanktionierte Entscheidung der UdSSR und DDR, am 13. August 1961 die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten und vor allem die Grenze zu Westberlin zu schließen. Der "Mauerbau" war für die DDR-Führung ein aus Sorge um den Frieden und die Sicherheit in Europa, um die Stabilität der DDR und um eine gesicherte Westgrenze der Warschauer Vertragsstaaten geborener Akt. Er lieferte wesentliche Impulse für eine Entwicklung hin zu einer politischen Entspannung in Europa.

Der anerkannte westdeutsche Historiker Christoph Kleßmann fasste es so:

Außen- und deutschlandpolitisch erschienen der Mauerbau und die ohnmächtigen westlichen Reaktionen als ein Höhepunkt des Kalten Krieges. Ex post ist jedoch erkennbar, dass er auch das Scheitern der bisherigen 'Politik der Stärke' und der konsequenten Isolierung der DDR durch die Hallstein-Doktrin bedeutete und den Beginn einer langfristig angelegten Strategie, die in Berlin mit der 'Politik der kleinen Schritte' begann und die Egon Bahr mit der berühmten Formel 'Wandel durch Annäherung' umriß. Sie gab das Drehbuch ab für die zehn Jahre später realisierte neue Ost- und Deutschlandpolitik." (Christoph Kleßmann, "Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte". Das Parlament, Bd. 29-30 vom 16. Juli 1993, S.36)

Die Schließung der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin und zur BRD wurde so zu einem tiefen Einschnitt in der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte. Sie brachte neue Rahmenbedingungen für die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und auch in der Außenpolitik der DDR generell.

Die Bemühungen der Adenauer-Regierung, eine internationale Verurteilung der Maßnahmen der DDR zu erreichen, scheiterten. Ihr Vorschlag an die Belgrader Konferenz der Nichtpaktgebundenen zum Beispiel (23. August 1963), ein Memorandum zu verabschieden, in dem diese Maßnahmen verurteilt werden sollten, fand keine Zustimmung. Ein negatives Resultat brachte auch ihr Versuch ein, die XVIII. Tagung der UNO-Vollversammlung dazu zu bewegen, die DDR zu verurteilen.

Die Unantastbarkeit des Status quo musste durch die Regierungen der BRD und ihrer Verbündeten akzeptiert und als Grundlage der Beziehungen zwischen den Staaten sowie der Sicherheit anerkannt werden, worauf später auch das Helsinki-Dokument aufbauen sollte.

Mit dem Ringen um ihre Anerkennung als gleichberechtigter Partner im Staatensystem, durch ihren Beitrag zur internationalen Anerkennung der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, des friedenserhaltenden Status quo in Europa wirkte die DDR als Friedensfaktor. Sie trug dazu bei, unabdingbare Voraussetzungen für politische und militärische Entspannung und Sicherheit in Europa zu schaffen. Ihre internationale Autorität hatte auf dieser Grundlage bedeutend zugenommen.

Insgesamt entstanden günstigere Bedingungen für die Fortsetzung der Bemühungen der DDR, der UdSSR und der Warschauer Vertragsstaaten, ihre Initiativen um Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa fortzusetzen. Die folgenden Jahre haben zu Ergebnissen geführt, die die Behauptung widerlegen, dass die Maßnahmen vom 13. August 1961 die deutsche und europäische Spaltung zementiert hätten. Sie haben – sogar auch aus westdeutscher Sicht – realistische Perspektiven für ihre Überwindung geschaffen!

Wie wirkte sich der Übergang von Ulbricht zu Honecker auf die Außenpolitik der DDR aus?

Walter Ulbricht und Erich Honecker waren zweifellos – wie das auch generell so ist – zwei Persönlichkeiten mit unterschiedlichen individuellen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften. Als Politiker aber haben sie ihre Erkenntnisse aus den gleichen ideologisch-theoretischen Quellen bezogen. Auch ihre Lebensläufe haben bedeutende Ähnlichkeiten. Sie waren als Politiker von der Zugehörigkeit zur Arbeiterbewegung, von den revolutionären Zielen dieser Bewegung, vom aktiven Kampf gegen Faschismus und Krieg, von der in den Kämpfen erlebten nationalen und internationalen Solidarität geprägt. Außerdem handelten sie unter inneren Bedingungen, die sie selbst bewusst mitgestaltet hatten. Ich gehe davon aus und nicht von Überlegungen, die manch einer anstellt, oft auch, um sich selbst interessant zu machen oder um "anzukommen".

Deshalb stelle ich in den Grundzügen der Außenpolitik der DDR eine große Kontinuität – auch beim Übergang von Ulbricht zu Honecker – fest. Für beide Persönlichkeiten der DDR und der deutschen Nachkriegsgeschichte hatte der gesellschaftliche Fortschritt im Sinne der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer Begründer auf dem Weg zum Sozialismus oberste Priorität. Deshalb vertraten sie eine Außenpolitik, die günstige internationale Bedingungen für die Verwirklichung dieser Ziele schaffen sollte. Frieden, Sicherheit und gleichberechtigte internationale Zusammenarbeit waren in dem Sinne eine Existenz- und Entwicklungsbedingung.

Sie wollten beide die DDR als souveränen Staat, der entsprechend seinen gesellschaftlichen Verhältnissen die Außenpolitik als Bestandteil und Instrument zur Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele betrachtet. Hier war auch die "deutsche Frage" eingeordnet.

Das schließt ein, dass in bestimmten historisch verschiedenen Situationen auch unterschiedliche Lösungen gefunden werden mussten. Die Diskussion darüber betraf aber nicht das Wesentliche: die Entwicklung und Politik der DDR im Bündnis mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten zu sichern, einen aktiven und konstruktiven Beitrag der DDR für Frieden zu schaffen und die Beziehungen zwischen den Teilen Deutschlands ebenfalls unter der Prämisse zu behandeln, den Frieden zu erhalten, zu festigen und zu schaffen.

Die DDR war in den 1970er und 1980er Jahren diplomatisch in Afrika, Asien und Lateinamerika überaus präsent – mehr, als man es von einem so kleinen Land erwarten würde. Wie ist das zu erklären, und welche Ziele verfolgte die DDR-Diplomatie in diesen Ländern?

Die Entwicklung der Beziehungen zu den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas war eine wichtige Richtung in der Außen- und Friedenspolitik der DDR. Sie ging davon aus, dass der nationale Befreiungskampf zu grundlegenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen in den sich befreienden Ländern, im internationalen Kräfteverhältnis und in den Staatenbeziehungen führt und die Bedingungen für Friedenserhaltung verbessert. Die DDR vertrat den Standpunkt, dass der Kampf dieser Staaten um ökonomische Unabhängigkeit keineswegs ein Kampf um "rein" ökonomische Fragen ist. Sie unterstützte vor allem jene Länder, die davon ausgingen, dass der Aufbau einer selbständigen nationalen Wirtschaft nur möglich ist, wenn die herangereiften sozialen und politischen Umgestaltungen durchgeführt werden.

Auf dieser Grundlage war von Anfang an Solidarität ein Kennzeichen der Politik. Am Anfang, in den 1950er Jahren, galt sie besonders dem koreanischen und vietnamesischen Volk. Es folgte die Solidarität mit Sansibar und danach Tansania, die Unterstützung des Befreiungskampfes des algerischen Volkes.

Nach der Durchbrechung der diplomatischen Blockade gegen die DDR Ende der 1960er Jahre, die mit der Hallstein-Doktrin der BRD-Regierung die internationale Anerkennung der DDR verhindern wollte, erreichten auch die Solidaritätsleistungen der DDR eine neue Stufe. Durch den Staat wurden diese Länder vor allem bei der Verwirklichung industrieller Projekte, durch Kreditgewährung, im kulturellen Austausch usw. unterstützt. Gleichzeitig organisierten gesellschaftliche Organisationen der DDR Solidaritätsaktionen in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen in den Entwicklungsländern. Und schließlich wurde Solidarität über zentrale Solidaritätsausschüsse und das Solidaritätskomitee der DDR verwirklicht, die aus dem zentralen Solidaritätsfonds der DDR finanziert wurden, der wiederum durch die Spenden der Massenorganisationen und ihrer Mitglieder gespeist wurde.

Eine der nachhaltigsten solidarischen Leistungen der DDR erfolgte auf dem Gebiet des Bildungswesens. Das bezog sich z.B. auf die Ausbildung junger Menschen aus diesen Ländern in der DDR, auf die Errichtung von Ausbildungsstätten in den Ländern oder auf die Entsendung von Pädagogen aus der DDR. Bis 1990 erhielten ca. 200.000 Bürger aus Entwicklungsländern ihre berufliche Aus- und Weiterbildung. Außerdem durchliefen Zehntausende von Vertragsarbeitern aus Vietnam, Mosambik, Algerien und anderen Ländern eine Ausbildung in der DDR. Über 30.000 junge Menschen haben ein Hochschulstudium in der DDR absolviert. Umfangreiche Lehr- und Lernmittel für die Bildungssysteme in den Ländern wurden zur Verfügung gestellt. Alphabetisierungskampagnen, auch zusammen mit der UNICEF, wurden gefördert und sogenannte Alphabetisierungs-Sets zur Verfügung gestellt.

Ein weiterer Bereich war das Gesundheitswesen. Kranke und Verwundete aus den Ländern wurden in der DDR behandelt. Krankenhäuser und Gesundheitszentren in den Ländern wurden errichtet. Die Ausbildung von Ärzten und medizinischem Personal nahm einen breiten Raum ein.   

Mehrere Zehntausend Experten der DDR waren in diesen Ländern tätig. Eine besonders positive Rolle spielten die Jugendbrigaden der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Insgesamt war die Solidarität zu einem gesellschaftlichen Anliegen und zu einer gesamtgesellschaftlichen Aktion geworden.

Wie wurde die DDR von den Entwicklungsstaaten wahrgenommen?

Hohe Anerkennung fand die DDR in diesen Ländern, weil sie ihre Solidaritätsleistungen konsequent auf der Grundlage der Achtung der Selbstbestimmung der Völker und der Souveränität dieser Staaten erbrachte. Dies erfolgte auf der Grundlage übereinstimmender politischer Interessen und auch ideologischer Positionen, vor allem hinsichtlich der Gegnerschaft zu Kolonialismus und Imperialismus der westlichen Staaten sowie der Übereinstimmungen im Kampf um Frieden und Sicherheit. Auf dieser Grundlage hatte sich im Prozess der Zusammenarbeit ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das die Grundlage für eine "antiimperialistische Solidarität" bildete, die z.B. auch der DDR half, die diplomatische Blockade als Folge der Hallstein-Doktrin zu durchbrechen.

Hohe Würdigung durch die Vertreter dieser Länder und auch in breiten Kreisen ihrer Bevölkerung erfuhr der direkte materielle und ideelle Beitrag der DDR für diese Länder in ihrem Streben nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Die Haltung und die politische Praxis der DDR waren in Übereinstimmung mit dem eigenen Sicherheitsbedürfnis dieser Saaten und ihrer Bevölkerung. Gleichzeitig fanden, vor allem bei den jungen Menschen, die in der DDR die Möglichkeit erhielten, sich auf ein sinnvolles Leben vorzubereiten, die Leistungen der DDR und die entwickelte Lebensweise der Bevölkerung hohe Anerkennung, was bis in unsere Tage nachwirkt.

 

Wie wirkte sich die neue Ostpolitik von Bahr und Brandt  auf die außenpolitische Ausrichtung der DDR aus?

Sie änderte nicht die Grundsätze und auch nicht die strategische Ausrichtung der Außenpolitik der DDR. Bahr selbst hat ja zugegeben, das die "neue Ostpolitik" auf die DDR und ihre Maßnahmen zurückzuführen war. Die Maßnahmen der DDR vom 13. August 1961 schufen eine neue Lage, die erst die Transformation der Bonner "Befreiungspläne" hin zum Konzept der neuen Ostpolitik beförderte. Golo Mann sprach vom "Ende der Bonner Illusionen".

Unter diesen Bedingungen wurde eine "neue" Ostpolitik formuliert. Sie enthielt die Hauptaussage vom "Wandel durch Annäherung". Diese Aussage war zwar quer zu damals vorherrschenden Vorstellungen in Bonn und anderswo, aber Otto Winzer, Außenminister der DDR, nannte sie realistisch "Aggression auf Filzlatschen" und deckte damit die subversiven Absichten dieser "neuen" Politik auf. Sie entsprach dem Verlangen von Bundeskanzler Kiesinger (CDU), "dass das, was heute noch nicht sein kann, vielleicht morgen oder übermorgen möglich werden wird".

Die "neue" Ostpolitik von Brandt und Bahr war jedoch nicht nur Ergebnis bundesdeutscher Überlegungen. Sie war auch eine Reflexion der von der Kennedy-Regierung eingeleiteten veränderten Sicht auf das Verhältnis der Supermächte, knüpfte an die von Charles de Gaulle eingeleitete aktive Ostpolitik in Europa an und ordnete sich in die von US-Präsident Johnson im Oktober 1966 verkündete "Brückenschlag"-Strategie ein.

Die wesentlichen Aspekte der europäischen und internationalen Wandlungen berücksichtigend, die Risiken und Probleme der "neuen" Ostpolitik benennend, griff die DDR, bilateral gegenüber der BRD und im Warschauer Vertrag, zugleich jene Elemente auf, die Aussicht auf positive Ergebnisse in Bezug auf die Durchsetzung des Status quo und für gleichberechtigte Beziehungen zwischen den Staaten aufwiesen und Chancen für Fortschritte im Bemühen um Frieden, Sicherheit und Abrüstung in Europa boten. Es ging vor allem darum, einen Modus vivendi zu suchen, bei dem die unterschiedlichen Interessen und Ziele der Hauptmächte gewahrt blieben, jedoch die Lage in Europa und in den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten berechenbarer gemacht und auf der Grundlage des Status quo stabilisiert werden konnte. Dazu wurden von der DDR Vorschläge in Bezug auf Europa und Abrüstung, aber auch mit Blick auf die Normalisierung der Lage zwischen beiden deutschen Staaten und in Bezug auf Westberlin unterbreitet.

Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow

 

 


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Gesellschaft

"Deutsche Einheit war zentrale Frage der DDR-Außenpolitik" - Historiker im Interview

14.04.2019 • 13:50 Uhr

https://de.rt.com/1v83

Quelle: RT © RT Deutsch

Osteuropa-Experte Prof. Anton Latzo im Interview mit RT Deutsch.

Der Historiker und Osteuropa-Experte Prof. Anton Latzo bespricht im ersten Teil des Interviews mit RT Deutsch die Wesenszüge der DDR-Außenpolitik. Zudem geht er auf die Unterschiede zur Außenpolitik der BRD ein. Auch die Spaltung Deutschlands ist ein Thema.

 

https://youtu.be/6OBDEu-WFUs

 

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Meinung

Die DDR-Außenpolitik: Ein kleiner Staat auf der Bühne der großen Weltpolitik (Teil 2)

21.07.2019 • 08:30 Uhr

https://de.rt.com/1xq0

Trotz ihrer geringen Bevölkerungszahl zeigte die Deutsche Demokratische Republik eine beachtliche Aktivität hinsichtlich ihrer Außenpolitik. Wir sprachen mit dem Historiker und Politologen Prof. Anton Latzo, der selbst in der DDR lehrte, über die DDR-Außenpolitik.

Welche Rolle spielten Friedensfragen, speziell im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluss, in der Außenpolitik der DDR in den 80er Jahren?

Anfang der 1970er Jahre konnte ein Durchbruch zu einer ersten Phase einer politischen Entspannung in den Ost-West-Beziehungen erreicht werden. Für die DDR führte das zu wesentlichen positiven Veränderungen ihrer internationalen Wirkungsbedingungen. Dies war in hohem Maße auch ein Ergebnis der Politik der Warschauer Vertragsstaaten, die davon ausgegangen waren, dass Entspannung, Sicherheit und gleichberechtigte Zusammenarbeit in Europa nur möglich waren, wenn die europäische Nachkriegsordnung anerkannt und die DDR gleichberechtigt einbezogen wurde.

Es ging also nicht nur um den Doppelbeschluss der NATO, der sowohl Stationierung neuer Raketen als auch Verhandlungen vorsah.

Es wurde eine Reihe bilateraler Verträge zwischen der BRD und der UdSSR sowie den anderen sozialistischen Staaten abgeschlossen. Ein wichtiges Element war der Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der BRD. Die deutsche Zweistaatlichkeit wurde weltweit als Faktor der Stabilität in Europa und des politischen Ost-West-Gleichgewichts, was auch ihre weltweite diplomatische Anerkennung und ihre Aufnahme in die UNO einschloss, anerkannt. Das Vertragssystem ebnete auch den Weg für die Einberufung und Durchführung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, wozu die DDR einen beachtenswerten Beitrag leistete.

In diesem Prozess verstärkte sich die Notwendigkeit, die politische durch die militärische Entspannung zu ergänzen. Das heißt, substantielle Schritte auf dem Weg der nuklearen und konventionellen Abrüstung wurden notwendig.

Dies umso mehr, als es Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre erneut zu einer Zuspitzung zwischen den Großmächten kam und die militärische Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR, zwischen der NATO und dem Warschauer Vertrag zunahm.

Als zentrales Problem erwies sich die sogenannte Raketenkrise. Ende 1983/Anfang 1984 erreichte sie ihren Höhepunkt. Nach dem Scheitern der INF-Verhandlungen haben die USA und die NATO – mit Zustimmung des Bundestages – mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II und Cruise Missiles in Westeuropa, vornehmlich in der BRD, begonnen. Die UdSSR, mit Zustimmung der DDR und der CSSR, antwortete mit der Stationierung neuer operativ-taktischer Raketen auf deren Territorium. In dieser Zeit, die in der Sowjetunion zunehmend von einer gewissen "Sprachlosigkeit" befallen war und die amerikanisch-sowjetische Konfrontation zunahm, ging es der DDR darum, einen Rückfall in den Kalten Krieg nicht zuzulassen, die Grundlagen der Entspannung zu sichern und auszubauen. Sie wollte verhindern, dass die DDR zu einem Hauptdislozierungsgebiet wird.

Wie entwickelte sich das diplomatische Verhältnis zwischen der DDR und der Sowjetunion in den 70er und 80er Jahren? Gab es schon erste Anzeichen für Spannungen, die dann ans Tageslicht traten, nachdem Gorbatschow die Führung der KPdSU übernahm?

 

 

Eine Differenzierung der außenpolitischen Interessen beider Staaten wurde in Zusammenhang mit dem genannten NATO-Doppelbeschluss öffentlich besonders sichtbar. Dazu gehörten aber auch die Widersprüche zwischen der DDR und der UdSSR in Zusammenhang mit dem geplanten Honecker-Besuch in der BRD 1983/1984.     

 

Es war eine der kompliziertesten Phasen in den Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion, zwischen den Führungen der SED und der KPdSU. Die DDR plante den Besuch als Schadensbegrenzung zur Rettung der erreichten Entspannungsergebnisse. Sie war der Auffassung, dass unter Tschernenko die sowjetische Führung zwar eine militärische, aber zu wenig eine adäquate politische Antwort auf der entstandenen Situation in Europa und gegenüber der BRD bzw. den USA hatte. Die Sowjetunion befürchtete, die DDR mache Bonn gegenüber unangebrachte Zugeständnisse. Offensichtlich auch unter dem Eindruck der Aussage Honeckers, dass die DDR das "Teufelszeug" nicht will, befürchtete man in Moskau, dass der Besuch Entwicklungen begünstigen würde, die die Sicherheit der UdSSR berührten. Die Sowjetunion betrachtete den Besuch als Herausforderung und Brüskierung ihrer Politik.

Die Diskussionen zwischen den beiden Seiten verliefen aber – und das wird in den meisten Darstellungen nach 1989 verdrängt – vor dem Hintergrund, dass sowohl die UdSSR als auch die DDR sich bewusst waren, dass die in der BRD herrschende politische Klasse an ihrem Ziel festhielt, die Existenz der DDR aufzuheben. Beide vertraten auch den Standpunkt, dass die Westgrenze der DDR auch die Berührungslinie zwischen NATO und Warschauer Vertrag darstellte. Es gab keine Einschränkungen bei der Erfüllung der Verpflichtungen im Warschauer Vertrag. Dazu gehörte für die DDR auch die Akzeptanz sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der DDR.

Bezüglich der internationalen Sicherheitspolitik strebten beide Seiten nach Ergänzung der politischen durch Schritte der militärischen Entspannung.

Spannungen und Differenzen gab es also schon vor der Phase, die nach der Amtsübernahme von Gorbatschow eingeleitet wurde. Die Widersprüche und die Bemühungen zu ihrer Lösung vollzogen sich vor 1985 auf beiden Seiten vor dem Hintergrund des gemeinsamen Willens zur Sicherung des Sozialismus und zur Gewährleistung von Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entsprechend den Vereinbarungen im Helsinki-Prozess.

Mit Gorbatschow setzte eine Periode ein, in der die Bedeutung der gemeinsamen sozial-ökonomischen und politischen Grundlagen für die Außenpolitik und für die Suche nach übereinstimmenden Lösungen für Frieden, Sicherheit und Zusammenarbeit erst relativiert und dann immer mehr eliminiert wurden.

War das Verhältnis der DDR zu den anderen sozialistischen Staaten in Europa wirklich immer so gut, wie zumindest nach außen versucht wurde, das darzustellen? Welche Reibungspunkte gab es?

Die Zusammenarbeit der sozialistischen Länder war eine Lebensfrage, ihre Bündnisse waren eine Schicksalsgemeinschaft. Die Notwendigkeit dazu ergab sich aber nicht nur aus den inneren Erfordernissen im Prozess der Errichtung einer neuen Gesellschaft. Die Zusammenarbeit war ein entscheidender Faktor für die Sicherung der Existenz der Länder unter den konkreten Bedingungen der internationalen Auseinandersetzung. Sie war ebenso ein entscheidender Faktor des Friedens in Europa und in der Welt.

Die Durchsetzung der Anerkennung der europäischen und internationalen Nachkriegsordnung ist ein Ergebnis dieser Zusammenarbeit. Ohne die Unterstützung durch die sozialistischen Staaten hätte die DDR nicht ihre internationale Anerkennung durchsetzen können. Wenn man diese unvollständige Aufzählung aufschlüsselt, ergibt sich ein beeindruckendes Bild von Gemeinsamkeiten.

Die Bedeutung ihrer Zusammenarbeit zeigt sich auch in der Tatsache, dass nach der Niederlage des Sozialismus in Europa Kriege und Veränderung von Staatsgrenzen nach dem Motto "Teile und herrsche" nicht nur in Asien, Afrika und Lateinamerika, sondern auch in Europa wieder zum Alltag gehören.

Es wäre falsch, einseitig über Fehler und Mängel zu sprechen, ohne die positive Seite dieser Zusammenarbeit zu berücksichtigen. Festzustellen, dass sie gut und notwendig war, heißt jedoch nicht, dass sie ohne Probleme und Widersprüche verlief. Lösungen aber konnten und wurden durch gemeinsame Bemühungen erreicht. Die gesellschaftspolitischen und ökonomischen Grundlagen in den Ländern waren kein Hindernis, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Sie förderten geradezu Lösungen zum gegenseitigen Vorteil und im Sinne des Friedens und der Sicherheit für alle Völker. Die Widersprüche zwischen den sozialistischen Ländern waren keine Ursachen, die notwendigerweise zu Anwendung gewaltsamer Mittel der Lösung führten!

Das Feld, auf dem die meisten Probleme auftraten, waren die Ökonomie und die Wirtschaftsbeziehungen. Im RGW, aber auch im bilateralen Bereich, war man sich grundsätzlich darüber einig, dass das Prinzip des gegenseitigen Vorteils regierendes Prinzip sein muss. In der Praxis traten aber immer wieder Tendenzen in Erscheinung, die sich aus nationalem Egoismus, aber auch nationalistischen Bestrebungen ergaben. Sie waren aber zumeist subjektiv bedingt. Es waren nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu Konkurrenzkampf und einseitigem Vorteil bei Benachteiligung der Partner führen mussten, wie es Beziehungen sind, die auf privatkapitalistischem Eigentum beruhen.

Im politischen Bereich schuf der Wunsch nach Ausbau der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der Länder zur BRD zum Teil beträchtliche Probleme. Sie waren am Ausbau der Beziehungen (Know-how) interessiert. Seinem Ausbau stand jedoch die Verweigerung der BRD entgegen. Sie forderte z. B., Abstriche bei den Hauptvoraussetzungen (Grenzen, Westberlin u. a.) vorzunehmen, die die Warschauer Vertragsorganisation in Zusammenhang mit dem Programm für Frieden und Sicherheit in  Europa formuliert hatte und deren Erfüllung für den Bestand der Nachkriegsordnung in Europa von größter Bedeutung war.

Wie wirkte sich der Aufstieg Gorbatschows auf die außenpolitische Orientierung der DDR aus?

Es ist eine Tatsache, dass die Außenpolitik der Sowjetunion sehr wesentlich die Außenpolitik der DDR beeinflusst, ja geprägt hat. Der Einfluss der DDR auf die der Sowjetunion war naturgemäß weitaus geringer.

Die Praxis zeigt, dass die DDR sich in all den Jahren ihrer Existenz in die Außenpolitik der Sowjetunion als Hauptmacht im Bündnis bewusst eingeordnet hat. Sie hat sie mitgetragen, aber auch mitbeeinflusst. Wichtig erscheint aber die Feststellung, dass diese Gemeinsamkeit, Einbindung oder auch Unterordnung der DDR und ihrer Außenpolitik ihr in der Regel nicht aufgezwungen wurde. Grundlage, Ausgangspunkt war eine gemeinsame ideologische  und politische Grundhaltung, waren gemeinsame Interessen und – darauf beruhend – grundsätzlich gleiche Einschätzungen. Daraus entstand der Gleichklang in der Politik. Die Interessen der Hauptmacht galten als Leitlinie, wollte man das Bündnis erhalten und nicht destabilisieren. Deshalb bringt es wenig, diese Beziehungen unter der Frage zu behandeln, ob Fremdbestimmung für die Außenpolitik der DDR bestimmend war.

Die Lage änderte sich mit dem Aufstieg Michail Gorbatschows in höchste Funktionen Mitte der 1980er Jahre. Bis dahin ging die Sowjetunion davon aus, dass ihre Sicherheitsinteressen am besten durch die Existenz von zwei deutschen Staaten geschützt werden können. Ihre Vereinigung stand in dieser Zeit nicht auf der Tagesordnung. Am Anfang war sie auch keine beabsichtigte Folge von Perestroika und der veränderten Außenpolitik der Sowjetunion.

Die Lage begann sich mit dem "Neuen Denken" und auch Handeln von Gorbatschow und seinen politischen Begleitern zu verändern. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob die Vereinigung bewusst in Betracht gezogen wurde oder ob sie eine Folge bestimmter Umstände als Folge seiner widersprüchlichen Vorstellungen und Handlungen zum Bestandteil der Politik wurde.

 

 

Auffällig ist, dass Gorbatschow vom Dezember 1987 bis Juli 1988 fünf Treffen mit führenden Politikern der BRD (Strauß, Genscher, Vogel, Späth, Bangemann) hatte. Allein das deutet darauf hin, dass die Bundesrepublik in dieser Phase einen ganz neuen Stellenwert in der sowjetischen Politik erhielt. Am 24. Oktober 1988 kam es dann zum ersten offiziellen Besuch von Bundeskanzler Kohl in Moskau. Es folgten der Ausbau der politischen Beziehungen und umfangreiche vertragliche Abschlüsse auf wirtschaftlichem, wissenschaftlich-technischem und

kulturellem Gebiet.

Im Juni 1989 folgte der Besuch Gorbatschows in Bonn. Unterzeichnet wurden eine "Gemeinsame Erklärung", die die deutsche Frage nicht erwähnte, und elf weitere Abkommen, die den Rahmen für eine auf lange Sicht angelegte Zusammenarbeit schuf.

Schon auf der Parteikonferenz der KPdSU von Ende Juni/Anfang Juli 1988 wurde von Gorbatschow die "Freiheit der Wahl" als wichtigstes Element des "Neuen Denkens" verkündet. Für die DDR wurde damit eine schwierige, eine für sie unüberwindliche Situation geschaffen – nicht nur im Bereich der Außenpolitik! Sie war zunehmend damit konfrontiert, dass in dieser "ideologiefreien" Sicht die Beziehungen der Sowjetunion zur DDR und zur BRD zu einer Frage der Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile wurden. Der sowjetische Diplomat J. Kwizinski meinte aufgrund eigener Erfahrungen, dass sich das Schicksal der DDR irgendwann im Spätsommer 1989 entschied. Zu diesem Zeitpunkt hatte man es "mit einem ganz anderen Moskau, mit einer ganz anderen Sicht auf die DDR zu tun".

In einem Gespräch Gorbatschows mit Genscher am 5. Dezember 1989 bestätigte der Generalsekretär der KPdSU:

Da es nur ein deutsches Volk gibt, gibt es grundsätzlich auch nur ein Selbstbestimmungsrecht. Die DDR-Bevölkerung kann dies aber auch getrennt ausüben."

Damit hat er die früheren Positionen der Sowjetunion verlassen! Einer der engsten Berater von Gorbatschow, A. Tschernajew, formulierte:

Auch in der DDR wurde oben und unten verstanden, dass in der sowjetischen Außenpolitik jetzt die Bundesrepublik Priorität haben werde."

Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow

                  

 

 

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Gesellschaft

Höhen und Tiefen des DDR-Kulturlebens: Interview mit Hartmut König

13.07.2019 • 07:30 Uhr

 

 

 

Der Liedermacher und DDR-Kulturpolitiker Hartmut König hat uns gegenüber seine Ansichten über die Stärken und Schwächen des Kulturlebens in der DDR gesprochen. Die DDR habe auf vielen Gebieten Erstaunliches geleistet. Doch auch an Kritikwürdigem mangelte es nicht.

Im Westen wird von der DDR oft das Bild einer grauen, trostlosen Gesellschaft gemalt, in der Kunst ständig gegängelt wurde. Wie haben Sie die Kulturszene der DDR erlebt?

 

 

Gleich mal zur Gängelei. Ein Großteil der DDR-Künstler legte Wert auf die Hinterfragung des gesellschaftlich Erreichten. Es gab Einverständnis wie Streit. Dabei konnte selbst ein verbesserungsbesessener künstlerischer Gestus mit hemmenden kulturpolitischen Dogmen kollidieren, was als Gängelei empfunden wurde. Wobei wahrlich nicht jede Hervorbringung, die in der DDR-Gesellschaft ihre Beachtung verfehlte, ein Opfer sinisterer Dogmatik war. Minderbegabungen wollen das gelegentlich glauben machen.
Wer von einem grauen, trostlosen, kultur- und kunstfeindlichen Alltag der DDR-Gesellschaft redet, malt ein Zerrbild der Wirklichkeit. Das tun unbelehrbare Hard-Core-Delegitimierer, die die zunehmende Wut so vieler Ex-DDR-Bürger über die Diffamierung ihrer einstigen Lebensleistungen und Milieus als östlichen Undank abtun.

Kalkulierte Rücksicht auf verärgerte Ostwähler, mehr noch: versachlichter, unvoreingenommener Kunstverstand korrigieren nun immer öfter solche Ansichten und bewirken, dass Kulturleistungen aus der DDR nach fairen historischen und ästhetischen Maßstäben bewertet werden. Da ist, seriös unleugbar, ein Reichtum parat für jeden, der ihn sehen und hören will. Der Osten hat ihn in die deutsche Nationalkultur eingebracht. Nun mag er da mit seiner Zeitzeugenschaft reiben und gelegentlich auch an den Futtertrögen des altbundesrepublikanischen Kunstbetriebes stören. Deshalb ja die gelegentlichen Bezichtigungen des DDR-Kunstschaffens als peinlich angerötete, wertlose Staatskunst.

Aber das Umdenken ist unterwegs. Nehmen wir den Bereich der bildenden Kunst. Bald nach der Wende haben denunziatorische Bilderschauen empörte Ostkünstler veranlasst, ihre Werke selbst wieder abzuhängen. Später waren in Potsdam, Dresden oder Halle viel besuchte Ausstellungen zu sehen, die DDR-Kunst einen achtungsvollen Raum boten und kaum noch gegen Zeit und Qualität bürsteten. Für Kenner waren sie gedankliche und sinnliche Wiederbegegnungen. Für neugierig Gewordene ein Start zu künftigen Entdeckungen. Ähnliches wünschte ich allen Genres.

Das 11. Plenum des ZK der SED (1965) gilt für westliche DDR-Historiker als Wende der DDR-Kulturpolitik, in der die vorher zumindest teilweise noch "liberalen" Tendenzen endgültig zu einer konservativen Erstarrung umschwenkten – so zumindest will es die offizielle Geschichtsschreibung. Wie haben Sie das 11. Plenum und die Jahre danach erlebt?

Zur Zeit des 11. Plenums war ich ein Teenager, der sich mit frühen Liedern und Gedichten äußerte. Ich kriegte die Anwürfe und Verbote zwar mit, aber mir fehlte die Vorstellungskraft, welche aktuelle Sprengkraft und schädliche Langzeitwirkung von ihnen ausgehen würden. Auch manche Zusammenhänge enthüllten sich mir erst später. Etwa, dass Walter Ulbricht mit seinem frappant modernen Jugendkommuniqué, den wirtschaftlichen Versuchsanordnungen im NÖS (Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung) und anderen "tauwetter"artigen Gesellschaftsvisionen nach dem Ende der Chruschtschow-Ära von seinen Opponenten innerhalb der SED-Führung gestoppt werden sollte.

Richtungskämpfe in der Partei lenkten das 11. Plenum, das ursprünglich zu ökonomischen Fragen geplant war, auf das ideologisch und jugendpolitisch stark tangierte Feld von Kultur und Kunst. Erich Honecker startete einen Generalangriff auf "schädliche Tendenzen" in einzelnen Kunstgenres, und Walter Ulbricht empfand nun auch, dass die unter seiner Führung gewährte künstlerische Freiheit von Teilen der Kunstschaffenden als Aufruf zu "Nihilismus, Halbanarchismus, Pornografie oder anderen Methoden der amerikanischen Lebensweise" missverstanden worden sei. Dem Jugendkommuniqué zuwider bekam jetzt die "Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah", immerhin Signum der welterstürmenden Beat-Musik, ihr Fett weg. Eine Jahresproduktion von DEFA-Filmen wurde unveröffentlicht ins Archiv geschickt.

Das Verdikt des Plenums traf u. a. Arbeiten von Kurt Maetzig, Frank Beyer, Heiner Müller und Stefan Heym. Auch gab es Auseinandersetzungen um Wolf Biermann, dessen spätere Ausbürgerung das intellektuelle Klima in der DDR zusätzlich belastete. Kulturfördernde Organisationen wie die FDJ wurden wegen ihrer vermeintlich ideologischen Sorglosigkeit gerügt. Einsam wagte Christa Wolf im Plenum eine Widerrede: Sie wollte das in der Vergangenheit erworbene "freie Verhältnis zum Stoff" nicht aufgeben und befürchtete, dass kritische Äußerungen fortan als parteischädigend gelten würden.

Dass derlei schwerwiegende Eingriffe der SED in die Kunstprozesse vor allem im intellektuellen Milieu als Entzug von Vertrauen und Freiräumen empfunden wurden und sich auch auf Stoffe und Stil künftiger Arbeit auswirkten, ist verständlich. Trotzdem war, was künstlerisch folgte, kein Distelfeld auf kulturellem Ödland. Kunst findet auch, manchmal gerade, in Krisen ihre Wege. Und auch die Verhältnisse öffneten sich wieder. Mit dem VIII. Parteitag, der sich maßgeblich an der Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung orientierte, erhielten Kultur und Kunst wieder ihren gebührenden Platz. Das erforderte ein Umdenken in Richtung Weite und Vielfalt.

Welche Rolle spielten fortschrittliche Personen in der Kulturszene, etwa Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Peter Hacks, Christa Wolf und andere im öffentlichen Leben der DDR?

So unterschiedlich ihre Biografien und künstlerischen Eigenarten waren, eines einte sie: Die DDR war für sie mehr als ein Aufenthaltsort. Sie banden sich ideell an dieses sozialistische Wagnis im Osten und nahmen dabei eben auch Konflikte in Kauf. Sie wollten wirken und bauten auf ein sensibles Publikum, das Kunst verstehen lernte. Brigaden hatten Theaterabonnements. Auftragswerke waren von Kunstgesprächen begleitet. Theater gastierten in Kultursälen von Betrieben und großen LPGen. Das Papier reichte nie für die Leselust. Woher wir kamen, wie wir lebten, welche Hoffnungen und Sorgen sich auf die Gegenwart und Zukunft richteten – das waren Themen, die Künstler vom Anbeginn bis in die Endzeit der DDR dialogbereit in die Gesellschaft, in ihr Publikum transportierten.

Und so, wie sie drängende Zeit-Fragen in ihre Kunst holten, griffen sie zuweilen mit aktuellen Statements in die Tagespolitik ein. Bertolt Brecht um den 17. Juni 1953, Christa Wolf, Stefan Heym, Volker Braun und andere 1989 mit dem Aufruf "Für unser Land". Weil Kunst auf ein generell gehobenes Bildungsniveau traf und eben auch ein allseits erschwingliches Vergnügen war, konnte sie jedem eine ganz individuelle Lebenshilfe sein. Prüft jemand heute seine Erinnerungen an die DDR und gerät an die Abwägung von Fehlern und Gewinn, kann er in der wieder befragten DDR-Kunst bedenkenswerte Maßgaben finden. Das macht sie nützlich für die Erinnerungskultur, aber auch spannend für die Spurensuche Nachgeborener, die in der DDR mehr als eine Fußnote deutscher Geschichte sehen.

Wie umfangreich war die Förderung der Kultur seitens des Staates in der DDR, und wie wurde Kunst an der gesellschaftlichen Basis wahrgenommen und praktiziert? Gibt es da signifikante Unterschiede zur Gesellschaft, in der wir heute leben?

Über die ideelle Förderung gibt es zuweilen Streit, wenn Probleme bei der Durchsetzung von Kunstwerken zur Sprache kommen. Was aber die materielle Seite, die kulturelle Infrastruktur, die Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe, die landesweiten Bedingungen für die Entwicklung der Berufskunst und des Laienschaffens, dabei auch die Heranbildung des künstlerischen Nachwuchses betrifft, einigt man sich wohl schnell auf ein günstiges Bild.

 

 

Schauen wir in die 1970er und 1980er Jahre. Eine deutliche Mehrheit der Arbeiter verfügte nun über eine abgeschlossene Fachausbildung, auch 63,5 Prozent aller in der Landwirtschaft Tätigen hatten eine solchen Bildungsgrad. 1970 besaßen 71 Prozent der Lehrlinge einen 10-Klassen-Abschluss der Polytechnischen Oberschule, jenes international beachteten Schultyps, der wegen seiner pädagogischen Fundierung und Praxisnähe keine PISA-Schelte zu befürchten gehabt hätte. Eine Dekade später waren es bereits 86,3 Prozent. Auch die Weiterbildung in den Betrieben, Genossenschaften und Volkshochschulen nahm zu.

Mit dem allgemeinen Bildungsniveau wuchs das kulturelle Interesse. Die große Mehrheit der Arbeitskollektive hatte einen Kultur- und Bildungsplan beschlossen, und der griff von der Kultur am Arbeitsplatz bis in die Freizeit. Das wirkt auf den heutigen Betrachter vielleicht dirigistisch. Aber wie oft brauchen kulturelle Erlebnisse einen kollektiven Ruck!

1971 war die Zahl der Museumsbesucher auf 20 Millionen und die der Klubs und Kulturhäuser auf 35 Millionen gestiegen. Mehr als 655.000 Bürger hatten die VII. Kunstausstellung der DDR im Dresdener Albertinum gesehen. Die Bezirksschauen der bildenden Kunst erreichten die zwei- bis dreifachen Besucherzahlen früherer Jahre. Im Haushalt einer DDR-Familie waren durchschnittlich 74 Bücher vorhanden. Immerhin verfügten 15 Prozent der Arbeiterhaushalte über mehr als 100 Bücher. Der Papierfonds für die Verlage stieg innerhalb von drei Jahren (1972 zu 1975) auf 130 Prozent, für schöngeistige Literatur sogar auf über 140 Prozent. Und trotzdem lag bei 70 Prozent der Belletristik-Bestellungen im Volksbuchhandel der Bedarf weit höher als die Auflagen wegen der begrenzten Papierimporte geplant werden konnten.

Gegen Ende der 1980er Jahre gab es in der DDR 68 Theaterbetriebe mit etwa 200 Spielstätten, die 700 jährliche Neuinszenierungen und fast 1.400 Übernahmen aus dem laufenden Repertoire auf die Bühne brachten. Jeder Theaterplatz war erklecklich subventioniert. Nur um den halben Groschen, der jeder Eintrittskarte aufgeschlagen wurde und in den Kulturfonds der DDR floss, kam man nicht herum. Mit dem Geld wurden das kulturelle Leben in den Städten und Gemeinden sowie zeitgenössische Kunst und Künstler gefördert.

Die Unterschiede zur Jetztzeit dürften sichtbar sein. Die einstige Infrastruktur ist weitgehend ruiniert. Kunsterlebnisse sind größtenteils auf einen Markt zurückgeworfen, der sich um eine für jedermann erschwingliche Teilhabe nicht scheren kann. Und so schrieb der Publizist Erich Kuby bereits Mitte der 1970er Jahre in der westdeutschen Illustrierten Stern: In der BRD "bezahlt über Steuern die überwiegende Mehrheit, die nie ins Theater kommt, weil sie die Karten nicht bezahlen kann oder ihr keine entsprechenden Bildungsvoraussetzungen vermittelt wurden, das Vergnügen einer dünnen Oberschicht. In der DDR sind 30 Prozent des Publikums Arbeiter …" Kunstfreiheit verlangt offensichtlich nicht nur die (innerhalb humanistischer Grenzen) unbeschränkte Wahl von Inhalt und Form, sondern auch die Möglichkeit für jeden in der Gesellschaft, sie sich geistig anzueignen.

Inwiefern konnte die Kulturpolitik der SED ab den 1970er Jahren Jugendliche erreichen? Wo lagen die Schwierigkeiten?

Das Deutschlandtreffen der Jugend 1964, das den beliebten Sender DT64 hervorbrachte und in dessen Folge erste deutschsprachige Beatmusik und Vorläufer der Singebewegung in der DDR entstanden, zeigte schon in der ersten Hälfte der 1960er Jahre Auflockerungen im Freizeitangebot. Begründet waren sie im 1963 verabschiedeten Jugendkommuniqué. Dass sie mit dem 11. Plenum weitgehend gecancelt, nach dem VIII. Parteitag aber wieder zugestanden wurden, lag an der gewandelten Politikkonzeption Erich Honeckers – hin zu einem steigenden Lebensniveau, das die kulturellen Interessen Jugendlicher einschloss. 1982 war die Zahl der Jugendklubs rasant auf annähernd 7.000 gewachsen, im komplexen Wohnungsbau waren sie eine geplante Größe. Es gab sie aber auch an Schulen, Unis und kulturellen Einrichtungen, wobei die Klubräte ihre Veranstaltungen weitgehend selbständig konzipierten. Jugendtanz spielte eine große Rolle.

Diskos hatten in der DDR jährlich 50 Millionen Besucher, über 6.000 Amateurdiskotheken legten auf. Die Gastronomie zog mit, und der Staat stützte allein 1981 die Eintrittspreise mit 23 Millionen Mark. Mitte der 1980er Jahre waren 70 Prozent der Kinobesucher Jugendliche, und zwei Drittel aller Kinder und Jugendlichen hatten sich in den Bibliotheken als Leser eingeschrieben.

Ich war zu jener Zeit Kultursekretär des Zentralrates der FDJ und erinnere mich, wie wir die neuen Möglichkeiten den diversen Interessen in den Altersgruppen und sozialen Milieus, in den urbanen und ländlichen Wohnumfeldern nutzbar machen wollten. Neben den Klub- und Tanzveranstaltungen gab es ja Werkstattwochen fast aller künstlerischen Genres, hochkarätig besetzte musikalische Events, Ausstellungen junger Künstler, Poetenseminare

im Schweriner Schloss, die Festivals des politischen Liedes, Leistungsschauen junger Theaterleute und überall im Land Begegnungen junger Leute mit DDR-Künstlern und deren Arbeiten.

 

Eine solche Agenda machte auch die Künstlerverbände und Ausbildungsstätten, die Künstleragentur mit ihren schönen Valutamitteln und andere Kulturveranstalter in der DDR zu aufgeschlossenen Partnern.

Viel jugendliches Interesse rankte sich um die von der FDJ veranstalteten internationalen Konzerte. Mit Bob Dylan, Joe Cocker, Bruce Springsteen, Bryan Adams oder Udo Lindenberg aus dem Rockbereich; mit Pete Seeger, Harry Belafonte, Mikis Theodorakis, Miriam Makeba, Mercedes Sosa oder León Gieco aus der politischen Liederszene. Weil man die Künstler nicht draußen erleben konnte, holten wir sie in die DDR. So öffnete sich ein Tor zur Weltkultur, aber man träumte längst von dem größeren Tor zur Welt und hatte innenpolitisch eine Hoffnung, die gerade russisch zu uns sprach. Die FDJ hatte keine Schwierigkeit, Jugendliche in ihre kulturellen Angebote zu holen, nur war das am Ende immer seltener eine politische Zustimmung. Damit teilte sie das Schicksal ihres Landes.

Wenn Sie noch mal die Gelegenheit hätten, an der Kulturpolitik einer sozialistischen Gesellschaft mitzuwirken, was würden Sie anders machen?

Ich würde von der Kunst keine geglättete, harmonisierte Widerspiegelung des gesellschaftlichen Status quo erwarten, sondern mir ein kräftiges Gespann von linker Politik und einer Kunst wünschen, die durch Vorschläge samt unbekümmertem Widerspruch und Streit den Gesellschaftsbau optimiert.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Hasan Posdnjakow.

 


 

Gesellschaft

Frauenrechte und die DDR – Interview mit Prof. Helga Hörz (Teil 1)

30.03.2019 • 07:15 Uhr

https://de.rt.com/1usi

Aufnahme während den Vorbereitungen für 10. Weltjugend- und Schülerfestivals in Berlin, DDR, am 1. Mai 1973.

 

Die Frauenrechts-Expertin Prof. Helga Hörz sprach mit RT Deutsch über den Kampf um Gleichstellung in der DDR. Sie wies auf die Möglichkeiten hin, die die DDR-Politik den Frauen bot. Die Übernahme durch die BRD habe sich negativ auf die Lage ausgewirkt.

Prof. Helga Hörz war Ethik-Professorin an der Berliner Humboldt-Universität. Sie arbeitete viele Jahre als Vertreterin der Deutschen Demokratischen Republik auf internationaler Ebene zu Frauen-Fragen, sowohl in der Internationalen Demokratischen Frauenföderation als auch bei verschiedenen UN-Gremien. Das Interview führte Hasan Posdnjakow.

 

 

Was hat Sie dazu motiviert, sich mit der Thematik der Frauenrechte zu beschäftigen?

Mein Gerechtigkeitssinn wehrte sich dagegen, die Arbeit von Frauen geringer einzuschätzen als die der Männer. Ursachen für diese Haltung fand ich in unwissenschaftlichen Wesensbestimmungen des Menschen, die oft ihre Sanktionierung in patriarchalischen Traditionen, Normen, Werten und Idealen fanden. Die Entwicklung von Frauen zur Persönlichkeit, die selbstbestimmt ihr Leben gestalten, wurde das Thema meiner Doktorarbeit. Sie erschien mit dem Titel: "Die Frau als Persönlichkeit" im Deutschen Verlag der Wissenschaften zu Berlin 1968. In Japan erschien eine Übersetzung. Inzwischen ist sie digitalisiert im Internet mit einem aktuellen Vorwort eingestellt. Später habe ich mich wissenschaftlich intensiver mit dem langen Weg zur Gleichberechtigung befasst. Das Buch erschien 2010 im trafo Verlag Berlin.

Wie war die Situation der Frauen zu Beginn der DDR? Wie war sie im Jahr 1989?

Das Erbe nach dem Zweiten Weltkrieg waren zerstörte Städte und Dörfer, politische Orientierungslosigkeit, Hunger, herumstreunende Heimatlose und verwaiste Kinder. Da Frauen 60 Prozent der Bevölkerung bildeten, übernahmen Frauengruppen in ganz Deutschland Verantwortung gegen den sozialen und politischen Notstand.

Nach der Gründung der BRD entstand 1949 die DDR. Sie hatte Reparationsleistungen für die Sowjetunion zu erbringen, war durch Embargo der BRD und anderer Staaten für notwendige Industrieerzeugnisse oft schwer betroffen. Sabotageakte gegen Einrichtungen wie Industrieanlagen, auch Bedrohung und Ermordung von Funktionsträgern, erschwerten die Umsetzung der bereits beschlossenen Gesetze, die den Frauen zu ihren Menschenrechten verhelfen sollten, zusätzlich. Es war ein Bildungsdefizit unter Frauen zu überwinden. Dafür gab es staatliche Bildungsprogramme und wichtige Initiativen des Demokratischen Frauenbundes (DFD). Dieser setzte sich ebenfalls für die umfassende Teilnahme von Frauen an Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen des neu gegründeten Staates ein.

Insgesamt herrschte in der DDR eine ungeheure Aufbruch-Stimmung  unter den Frauen. 1949 hatten nur fünf Prozent der Frauen in der DDR eine Berufsausbildung, 1957 waren noch 35 Prozent der weiblichen Bevölkerung Hausfrauen. Es war also unter einer großen Gruppe von Frauen, die das Patriarchat nicht in Frage stellten, Überzeugungsarbeit durch alle politischen Parteien und Organisationen sowie staatlichen Institutionen im Land, in den Ländern und den Kommunen zu leisten. Frauen sollten begreifen, dass sie nicht nur ein notwendiges Anhängsel von Männern sind, sondern eigenständige Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Familie einen wichtigen Platz im gesellschaftlichen Leben einzunehmen hatten. Verordnungen und Gesetze waren öffentlichkeitswirksam zu erklären, um Eigeninitiative für ihre Umsetzung auszulösen.

Am Ende der DDR verfügten 84 Prozent aller weiblichen Beschäftigten über eine abgeschlossene Berufsausbildung. 1989 waren 91,1 Prozent der arbeitsfähigen Frauen berufstätig, lernten oder studierten. In Wirtschaft, Bildungswesen, Wissenschaft und Politik nahmen Frauen bereits wichtige Entscheidungspositionen ein. Das wäre weiter auszubauen gewesen. Zu bedenken ist jedoch, dass jahrhundertelanges Unrecht gegen Frauen nicht in wenigen Jahrzehnten zu überwinden ist. Es dauert lange, traditionelle und verfestigte Rollenklischees auch in den Köpfen von Männern und Frauen zu überwinden. Doch der Prozess der Überwindung des Unrechts war in Gang gesetzt.

 

 

 

Welche Maßnahmen wurden eingeleitet, um die rechtliche Stellung der Frauen in der DDR zu verbessern?

Zu wichtigen Verordnungen und Gesetzen, die die Gleichberechtigung rechtlich fixierten gehörten: der schon am 17.08.1946 erlassene SMAD-Befehl 253, der gleichen Lohn für gleiche Arbeit forderte, das Kontrollratsgesetz Nr. 16, das das nationalsozialistische Ehegesetz vom 8. Juli 1938 aufhob sowie Eheschließung und Eheauflösung neu regelte. Anfang der 50er-Jahre wurden dann, unter starker Beteiligung von Frauen einschließlich der im DFD organisierten politischen Frauenbewegung, drei grundlegende Gesetzeswerke erarbeitet: 1. die DDR-Verfassung von 1949; 2. das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz sowie die Rechte der Frau von 1950 und 3. der Entwurf eines Familiengesetzbuches, das 1965 Gesetzeskraft erlangte. Männer hatten danach die gleiche Verantwortung wie Frauen für die Familie, einschließlich der Kindererziehung, zu übernehmen. Das Gesetz verlangte, dass Betriebe Kindertagesstätten, Waschanstalten, Nähstuben u.a. einzurichten hatten.

Das bisherige Alleinbestimmungsrecht des Mannes in allen Angelegenheiten des ehelichen Lebens war aufgehoben und es galt das gemeinsame Entscheidungsrecht beider Elternteile für das Wohl der Kinder. Die Realisierung  der Gesetze wurde durch zusätzliche Maßnahmen und ideenreiche Aktivitäten unterstützt, denn aus vielen Köpfen ließen sich, wie betont, die alten Rollenbilder bei Frauen und Männer nur schwer verdrängen. Leider wurde das international anerkannte und von Kennern der Problematik hochgelobte Familiengesetz  am 31. August 1990 durch den Einigungsvertrag dann aufgehoben.   

Wie sah es mit der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Maßnahmen aus? Gab es auch Kampagnen, um männliche Vorurteile gegenüber Frauen, aber auch mangelndes Selbstbewusstsein bei den Frauen selbst, zu überwinden?

Die Akzeptanz der Maßnahmen für die Gleichberechtigung der Frau war sehr hoch, vor allem bei Frauen und Männern, die das jahrhundertealte patriarchalisch geprägte Unrecht an Frauen endlich beseitigen wollten. Doch der Prozess verlief nie gradlinig. Auseinandersetzungen verschiedener Art fanden statt. Presse und Medien setzten sich mit solchen Auffassungen auseinander, die de facto auf eine Verteidigung des Patriarchats hinausliefen, weil der Wert eines selbstbestimmten Lebens von Frauen durch einige Frauen noch nicht begriffen wurde und von manchen Männern in Frage gestellt wurde. Eine breite gesellschaftliche Diskussion fand statt. So ging es in einer Zeitung um die Frage: "Ist der Beruf ein Notbehelf?" Es gab sowohl Frauen, die den Wert ihrer Arbeit noch nicht als persönlichkeitsfördernd und ihre ökonomische Unabhängigkeit garantierend begriffen, als auch Männer, die sich in ihrer selbstbestimmten höheren Wertschätzung von Talenten und Fähigkeiten nicht bestätigt fühlten.

 

Hemmnisse in den Köpfen wurden u.a. 1961 im Kommuniqué des Zentralkomitees der SED "Die Frau, der Frieden und der Sozialismus" einer kritischen Bilanz unterzogen. Männer, die die Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau noch nicht als ihre eigene Aufgabe begriffen hatten, sollten für diese Aufgabe weiter aktiviert werden. Der geringe Anteil von Frauen in Leitungsfunktionen wurde gerügt. Das setzte einen Prozess in Gang, in dem fähige Frauen in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik in höhere Positionen berufen wurden. Das führte dazu, dass in den letzten Jahren der DDR ein Drittel aller Leitungsfunktionen von Frauen besetzt war.

Von welcher Seite kamen die Initiativen für die Reformen – eher von der Basis oder von der Führung? In den westdeutschen Darstellungen heißt es oft, die Masse der Frauen sei gar nicht beteiligt gewesen an den Entscheidungen und Debatten, wie die Lage der Frauen verbessert werden könnte.

 

Es war ein Prozess, der von oben und unten vorangetrieben wurde. Gesetze und Verordnungen sind wichtig, aber sie bedürfen immer der Masseninitiativen, um sie durchzusetzen. Diese gab es, auch wenn sie heute manchmal ignoriert und verschwiegen werden. Meine Erfahrungen an der Basis stammen aus der Jugendarbeit in einem Betrieb, in dem vor allem Frauen beschäftigt waren. Als Vorsitzende der Frauenkommission der Gewerkschaft an der Humboldt-Universität Berlin verhandelte ich zum Beispiel mit dem Rektor über Frauenförderung. Es gab Frauenförderungspläne, an die sich Leiter/innen zu halten hatten.

Internationale Erfahrungen sammelte ich in der IDFF (Internationale Demokratische Frauenföderation). Deshalb  kann ich als Zeitzeugin über Aktivitäten von unten und oben berichten. Da waren vor allem die an der Basis wirkenden Frauenkommissionen der Gewerkschaft und der SED. Sie existierten in allen Betrieben, Einrichtungen und Institutionen. Man darf nicht die schon erwähnten Initiativen des DFD als einer politisch organisierten und anerkannten Frauenbewegung vergessen. An der Basis in Stadt und Land organisierte sie, unter Mitwirkung vieler Frauen, Bildungsarbeit, Solidaritätskampagnen, um Frauen in anderen Ländern zu helfen. Es gab interessante Freizeitangebote, darunter auch Handarbeit, wenn es gewünscht wurde.

Wie nahmen Frauen in der DDR die Situation der BRD-Frauen wahr? Bis in die 1970er konnten Frauen im Westen ja nicht allein entscheiden, eine Arbeit aufzunehmen, in eine eigene Wohnung zu ziehen oder einen Führerschein zu machen. Bis 1977 konnten BRD-Männer sogar den Arbeitsvertrag ihrer Frauen kündigen, wenn sie meinten, dass diese sich nicht genug um sie kümmerten.

 

 

Durch meine internationale Arbeit  kam ich in Kontakt mit vielen aktiven Kämpferinnen für die Rechte der Frauen aus der BRD. Es entstanden Freundschaften, die auch heute noch bestehen. Sie interessierten sich stets intensiv für den Kampf um Gleichberechtigung in der DDR, die erreichten Erfolge und selbstverständlich auch die Probleme, um Fehler zu vermeiden. Auch wenn Frauen aus der DDR sich nicht unbedingt mit den Verhältnissen in der BRD befassten, sondern auf die propagierte Scheinwelt des Konsums und der Reisen hereinfielen, nahmen sie die Förderung der Frauen in der DDR als selbstverständlich hin. Doch in meinem Kreis von Kolleginnen, Kollegen, Freunden, politisch und ehrenamtlich Tätigen stellte man entsprechende Vergleiche zur Lage der Frauen in der DDR und der BRD an. 

In den Westmedien wird gerne behauptet, die Frauen wurden in die Arbeitswelt nur deswegen aufgenommen, weil es in der DDR einen Mangel an Arbeitskräften gab. Was ist dran an diesem Mythos?

Frauen als Arbeitskräfte waren willkommen und wichtig. Im Vordergrund standen jedoch die Entwicklung der Persönlichkeit der Frau und ihre mögliche Selbstbestimmung durch ökonomische Unabhängigkeit vom Mann. In vielen der jetzigen Medienkampagnen zum angeblichen Zwang der Frau arbeiten zu müssen, werden meines Erachtens nur alte Rollenklischees neu aufgemotzt propagiert. Vergessen ist das jahrhundertalte Unrecht an Frauen mit Zwangsheiraten, Verbot von beruflicher Entwicklung, geringen Chancen für angemessene Bildung und anderen Ungerechtigkeiten. Damit wird, trotz schöner Reden, am Patriarchat festgehalten. Es zu überwinden ist kein Prozess von wenigen Jahrzehnten. Doch wichtige Schritte wurden in der DDR gegangen.

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DDR-Dämonisierung mit Grusel-Märchen, Meinungsmache mit „wahren Begebenheiten“ | Veröffentlicht am: 1. Februar 2019 | 1

NachDenkSeiten - DDR-Dämonisierung mit Grusel-Märchen, Meinungsmache mit „wahren Begebenheiten“ | Veröffentlicht am: 1. Februar 2019 | 1

Eine aktuelle Debatte um den Film „Das Leben der Anderen“, den Schriftsteller Christoph Hein und den Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck wirft ein Licht auf potenzielle Manipulationen durch „historische“ Filmstoffe: Die Übergänge zwischen Doku, Fiktion und Propaganda sind zunehmend fließend. Von Tobias Riegel.

„Nein, ‚Das Leben der Anderen‘ beschreibt nicht die 80er Jahre in der DDR – der Film ist ein Gruselmärchen“. Dieser kürzlich geäußerte Satz entlarvt in wohltuender Deutlichkeit sowohl den Film von 2006, als auch jene Medien, die den fragwürdigen weltweiten Kassenschlager in den Stand einer realistischen DDR-Darstellung erhoben haben. Aufgeschrieben hat die kritischen Worte der Schriftsteller Christoph Hein in einem Artikel für die „Süddeutsche Zeitung“. In dem Beitrag geht Hein mit dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck hart ins Gericht. Nach seiner Darstellung hat Donnersmarck Heins Biografie verzerrt und als klischeehafte Basis für den im Film porträtierten „typischen DDR-Dramatiker“ ausgebeutet: Alles, was Hein dem Regisseur in Interviews erzählt habe, sei von diesem „bunt durcheinandergemischt und dramatisch oder vielmehr sehr effektvoll melodramatisch neu zusammengesetzt worden“. Anlass für Heins Artikel sind auch aktuelle Vorwürfe, die der Maler Gerhard Richter gegen Donnersmarck wegen dessem neuen Film „Werk ohne Autor“ richtet – der Regisseur habe Richters Lebensgeschichte „missbraucht und grob verzerrt“. Unterhaltsame Anti-DDR-Propaganda „Das Leben der Anderen“ ist kurzweilige Unterhaltung auf hohem schauspielerischen Niveau – aber er ist auch reißerisch, klischeehaft und historisch an zahlreichen Stellen ungenau. Dennoch wurde er durch die zahllosen hymnischen Kritiken zur realistischen DDR-Darstellung verklärt. Durch diesen medialen Chor wurde auch die seit 2006 artikulierte Kritik übertönt und der Film entwickelte sich nahezu ungebremst zu einer bis heute höchst wirkungsvollen DDR-Dämonisierung. Es ist gut, dass Hein dem endlich etwas entgegensetzt. Er schätzt allerdings auch seinen Wirkungsgrad realistisch ein: „Der Film wurde ein Welterfolg. Es ist aussichtslos für mich, meine Lebensgeschichte dagegensetzen zu wollen. Ich werde meine Erinnerungen dem Kino anpassen müssen.“ Diese Resignation teilt Hein mutmaßlich mit zahlreichen DDR-Bürgern Aber man muss Hein leider Recht geben: Gegen die große Medien-Koalition, die dem Film eine historisch-politische Authentizität bescheinigte, war und ist kaum anzukommen: Die „Welt“ schwärmte, Donnersmarck treffe den Tonfall des DDR-Lebens, als hätte er es miterlebt. Die „Süddeutsche Zeitung“ unterstellte dem formal bemerkenswerten Film, dass die Schönheit der Bilder stets „der Wahrheitsfindung“ diene. Der katholische „Filmdienst“ lobte das Werk, für eine „präzise Darstellung der Milieus“: Die DDR erscheine „erschreckend authentisch“. Die „Zeit“ konnte den „bisher besten Nachwende-Film über die DDR“ gar nicht genug loben: „‚Das Leben der Anderen‘ ist politischer als ‚Sonnenallee‘, philosophischer als ‚Good Bye, Lenin!‘, sarkastischer als ‚Berlin is in Germany‘ – eine Kinonovelle, die deprimierende Einsichten in die Herrschaftsmechanismen der Diktatur gewährt.“ Der Film wurde Schülern als realistische Beschreibung der DDR in der 80er Jahren serviert und sowohl das Goethe-Institut als auch die Bundeszentrale für Politische Bildung widmen dem Film eigene, wohlwollende Materialien: „Eindringlich und dramatisch akzentuiert versucht „Das Leben der Anderen“ eine Zustandsbeschreibung der Kulturszene der 1980erJahre in einem repressiven Staat.“ Die Kritiker das Films hatten und haben keine Chance Treffende Analysen des Films wurden von den kritiklosen Beiträgen zugeschüttet – etwa die der „taz“, die urteilte , der Film scheitere an billigen Klischees. „Das leben der Anderen“ erhebe den Anspruch historischer Wahrhaftigkeit, leiste sich aber Ungenauigkeiten. Der gezeigte Hochstalinismus treffe für die DDR um 1985 nicht zu. Fazit: „Es sind diese Vermischungen von behaupteter Geschichtsschreibung und ungehemmter Kolportage, die ‚Das Leben der Anderen‘ letztlich scheitern lassen.“

Mit seinem aktuellen Versuch, den Film als die unterhaltsame, aber verfälschende Fiktion zu beschreiben, die er ist, tritt Hein sowohl den fundamentalistischen DDR-Gegnern als auch den medialen Unterstützern von „Das Leben der Anderen“ auf die Füße. Einigen Journalisten ist ihr damaliges kritikloses Wohlwollen inzwischen mutmaßlich peinlich. Entsprechend harsch wollte etwa Andreas Platthaus Hein in der „FAZ“ zurechtweisen, was aber nicht recht gelingen wollte. In dem Artikel wird auf allerhand Formalien hingewiesen, um Hein Falschaussagen zu unterstellen und um zu „beweisen“, dass der Film gar nicht auf den Gesprächen mit Hein beruhe. Auf den „gravierenden“ Vorwurf, eine von Hein angesprochene Stelle befinde sich im Abspann und nicht im Vorspann, hat Hein inzwischen entsprechend trocken reagiert: “In dieser ,Kernfrage’ will ich nach einem Jahrzehnt gern einen Irrtum einräumen”. Das Unbehagen im Zusammenhang mit dem Film aber bleibe, so Hein.

Einerseits „authentisch“ – andererseits „Fiktion mit künstlerischer Freiheit“ Bei der Beurteilung des Films als reales DDR-Bild wird stets eine Hintertür offen gehalten: Wenn konkrete historische Falschdarstellungen moniert werden, betonen die Journalisten und der Regisseur plötzlich den „fiktionalen Charakter“ und die künstlerische Freiheit der „authentischen“ Geschichte. Zusätzlich wird Kritik abgewehrt, indem genaue Analysen der realen DDR-Zustände als „zynisch“ und „verharmlosend“ diffamiert werden. „Das Leben der Anderen” hat aber durch die mediale Erhöhung den Stand der reinen Fiktion lange verlassen. Und wenn es reine Fiktion ist, dann darf man den Film auch als propagandistisches Märchen bezeichnen. Im Falle „Das Leben der Anderen“ konnte man ein ähnliches Phänomen wie bereits bei den Genres Western und Kriegsfilm feststellen: Geschickt gemachte Fiktion entwickelte sich durch fehlendes mediales Hinterfragen zur Hyperrealität. Die FAZ spricht in diesem Zusammenhang einen interessanten Punkt an: „Und nebenbei offenbart seine (Heins) Anekdote zum ‚Leben der Anderen‘ ein Fiktionsverständnis, das für einen Romancier in der Tat als Offenbarungseid gewertet werden muss.“ „Das Leben der Anderen“ sei ein Spielfilm, der nicht für sich in Anspruch nehme, nach einer wahren Geschichte gearbeitet zu sein: “Er ist eine qua Gattung ausgewiesene Fiktion.“ Manipulationen mit „historischen Stoffen“ – auch bei Netflix Das Phänomen einer medial ins angeblich Reale erhobenen Fiktion lenkt den Blick auf die zahlreichen Mischformen der historischen Betrachtungen in Filmen: Die Kontur zwischen Fiktion und „Dokumentation“ verschwimmt zusehends. Das ist vor allem bei sogenannten Dokudramen der Fall: TV-Serien, die auf „wahren Begebenheiten“ beruhen, etwa die Netflix-Produktionen „Narcos“, „O.J. Simpson“ oder „The Assasination Of Gianni Versace“. Diese „Dokus“ werden mit Fiktionen aufgepeppt und politisch aufgeladen. Für dieses Verfahren blenden die Produzenten vor den Filmen mittlerweile standardmäßig diesen Freifahrtschein für Manipulationen ein: „Nach wahren Begebenheiten. Einige Szenen, Namen, Charaktere, Vorfälle und Orte sind aus dramaturgischen Gründen fiktiv.“ Es sind dann aber gerade die fiktiven Szenen und Dialoge, in denen eine politische Tendenz gelegt wird. Etwa in der Serie „Narcos“ zum US-Drogenkrieg wird dieses Stilmittel exzessiv genutzt, um die historisch schwer belasteten DEA-Beamten in „privaten“ (historisch nicht belegten) Szenen als ums „Gute“ bemühte Agenten zu zeichnen. Diese Filme nach angeblich wahren Begebenheiten sind prinzipiell völlig anders gelagert als „Das Leben der Anderen“, dessen Fiktionalität bei Bedarf(!) sogar betont wird. Aber die Fälle hängen doch zusammen, da beide Varianten ein großes Potenzial für Kultur- und Geschichts-Propaganda bieten. Im Fall „Das Leben der Anderen“ wird eine Fiktion medial so lange als real dargestellt, bis Unstimmigkeiten zur Klassifizierung als Fiktion zwingen. Anschließend wird wieder zur Aussage von der „realistischen Darstellung“ zurückgekehrt. Im Fall „Narcos“ wiederum werden angeblich „wahre“ Doku-Dramen durch (kleingeredete) fiktive Elemente für Propaganda missbraucht. Dreiste historisch-politische Propaganda Zwei besonders dreiste Beispiele für Propaganda mit angeblich wahren Begebenheiten ist der Anti-Wikileaks-Film »Inside Wikileaks« von Bill Condon oder das Machwerk „U-571″, in dem Hollywood das Erbeuten der Enigma-Code-Maschine der US-Armee und nicht den Briten zuschlägt. Die Liste ähnlich gelagerter Filme ließe sich lange fortsetzen. Auch ist die Kollaboration zwischen US-Armee und Hollywood längst kein Geheimnis mehr. „Westdeutsche Fantasie“ dominiert DDR-Geschichtsschreibung Hein wird aktuell auch in Schutz genommen – vielleicht ist das Anzeichen für einen langsamen Paradigmenwechsel? So verteidigt ihn sein ehemaliger Lektor Thorsten Ahrend, und in diesem Gespräch mit dem „Deutschlandfunk“ werden auch endlich die richtigen Fragen gestellt:

„Im vergangenen Jahr wurde ja viel geredet über die Ostdeutschen, auch über die Anerkennung von ostdeutschen Biografien und Lebenserfahrungen. Geht es darum im Prinzip auch hier (…)? Ein ostdeutscher Christoph Hein erinnert sich an sein Leben in der DDR, er spricht über einen Film, der sich mit dieser Zeit, seiner Lebenszeit, beschäftigt, und dann haben wir einen westdeutschen Journalisten, eben Andreas Platthaus, der erklärt Christoph Hein, du erinnerst dich falsch, und dass du dich falsch erinnerst, das macht dich politisch verdächtig.“

Und auch die „Zeit“ wendet sich gegen die „Denunziation“ Christoph Heins:

„Vielleicht hat nicht mehr jeder in Erinnerung, dass Hein zu jenen Schriftstellern in der DDR gehörte, die sich der Diktatur mit einem Mut entgegenstemmten wie nur ganz wenige. Auf dem 10. Schriftstellerkongress der DDR mit einer DDR-Dämonisierung mit Grusel-Märchen, Meinungsmache mit „wahren Begebenheiten“ | Veröffentlicht am: 1. Februar 2019 | 5

NachDenkSeiten - DDR-Dämonisierung mit Grusel-Märchen, Meinungsmache mit „wahren Begebenheiten“ | Veröffentlicht am: 1. Februar 2019 | 5

aufsehenerregenden Rede die Abschaffung der Zensur zu verlangen, dafür brauchte man mehr Rückgrat, als die westdeutsche Fantasie heute hergibt.“

Zahlreiche Beispiele – etwa dieser Beitrag über „ostdeutsches Demokratieverständnis“ im Deutschlandfunk vom Donnerstag – belegen, dass diese „westdeutsche Fantasie“ die DDRGeschichtsschreibung noch immer in destruktiver Weise dominiert

 

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Jetzt rede ich Egon Krenz über Gorbatschow, Honecker und Merkels Fehler

  • Von

er

 

Als Krenz zum ersten Auslandsbesuch als Partei- und Regierungschef am 1. 11. 1989 bei Gorbatschow war, warnte der noch vor den Bonner „Nationalisten“.

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SZ Photo

Egon Krenz fließt über,  will Botschaften übermitteln, mahnen, Lügen korrigieren – erklären, wie es wirklich war. Der Mann ist 82. Jetzt geht es um sein Vermächtnis. In 30 Jahren als FDJ- und Parteifunktionär hat er viel erlebt, und es gibt viele Menschen, die hören und lesen wollen, was er mitzuteilen hat.

Etwa 500 Leute füllten am Donnerstagabend den  großen Saal im Russischen Haus an der Friedrichstraße, wo Krenz das jüngste seiner acht Nachwendebücher vorstellte. Das Thema „Wir und die Russen“ – für Deutschland eine seit Jahrhunderten schicksalbestimmende Frage – hochaktuell, und hochemotional, zumal  im Osten Deutschlands.  

Egon Krenz ist über Verhältnis zu Russland erschüttert

In den vorderen zwanzig Parkettreihen saßen auf reservierten Plätzen Weggefährten und -gefährtinnen,  darunter der Vize-Verteidigungsminister der DDR, Fritz Streletz,  der Ex-SED-Funktionär Siegfried Lorenz und der letzte Vorsitzende der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Bruno Mahlow. Die Haarfarbe Grau dominierte, doch wenn die  Genossen einander auf die  Schulter klopften, klang das kräftig.

Eigentlich sollte eine Buchvorstellung stattfinden, eine Lesung. Doch Krenz kennt diese Tonlage nicht, jeder Satz klingt nach Kundgebung: laut und dröhnend. Er will, dass man  das Buch als authentischen Bericht  versteht: „Was ich schreibe, habe ich nicht von anderen gehört oder mir von irgendwem angelesen“, sagt er. Alles  selbst erlebt oder aus originalen Unterlagen erarbeitet, „keine Vermutungen, alles Fakten“. Das Werk trage autobiografische Züge und sei „keine Abrechnung“.

 

Gut gelaunt Egon Krenz präsentiert im Russischen Haus an der Friedrichstraße sein neues Buch "Wir und die Russen" und winkt seinen Fans zu.

Foto:

Gerd Engelsmann

Krenz  beginnt mit einer klarsichtigen Feststellung vom 11. November 1948, die auf Rudolf Herrnstadt,  Chefredakteur des Neuen Deutschland, zurückgeht: „Ohne ein aufrichtiges Verhältnis der Deutschen zu den Russen gibt es keine gesicherte Zukunft des deutschen Volkes.“ Das wurde  DDR-Staatsdoktrin. Krenz ist erschüttert, „wie heutige Politiker das gute Verhältnis verspielen“. Der Kanzlerin legt er auf dem Sterbebett gesprochene Worte des Eisernen Kanzlers Otto von Bismarck nahe: „Nie, nie gegen Russland.“

Egon Krenz gibt Einblicke in seinen Eindruck von Gorbatschow 

Heute stünden Nato-Truppen wieder nahe der  russischen Grenze – wie am 22. Juni 1941, als Nazideutschland die Sowjetunion überfiel. Was   aus deren Sicht nie wieder geschehen sollte, sei auch mit Zustimmung Angela Merkels geschehen, und Krenz fragt: „Wie kann eine kluge Frau, die die DDR-Schule besucht und auch in der DDR studiert hat, zu einer so falschen Einschätzung kommen?“

Applaus brandet auf, als er ausruft: „Deutsche Panzer an der russischen Grenze sind eine Schande!“ Das sehen die anwesenden Vertreter der russischen Botschaft ganz genauso.

Dass die Sowjetunion an der Wiege der DDR stand  und an ihrem Totenbett – das bezweifelt  keiner. Spannender ist die Frage, wie Egon Krenz Michail Gorbatschow sieht, mit dem er häufig, auch vertraulich, gesprochen hat.  Die einstige DDR-Wirtschaftselite nennt den Führer der UdSSR umstandslos „Totengräber der DDR“.

So direkt wird Krenz nicht, seine Berichte aus den Kulissen der Macht, die Details und Stimmungswechsel, Gorbatschows Widerstand gegen Honeckers Annäherung an die BRD, sind äußerst aufschlussreich. Das Resümee allerdings fällt deutlich aus: „Als die Sowjetunion im Sterben lag, hatte die DDR keine Chance mehr.“

Egon Krenz schreibt sich den friedlichen Verlauf der Revolution zu

Jahre später besuchte Krenz den einstigen sowjetischen Außenminister und Gorbatschow-Mitstreiter Eduard Schewardnadse, inzwischen Präsident Georgiens,  und ließ sich von dessen Klarheit noch schockieren: „Wir mussten die Sowjetunion erhalten und mussten den Ballast DDR abwerfen.“ Krenz sagt: „Da war ich am Boden zerstört. Ballast! Wir waren die treuesten Verbündeten der Sowjetunion!“

Da spricht der leutselige Egon. Der andere, der Machtmensch,   findet, Gorbatschow oder Jelzin hätten eine Alternative gehabt: „Sie hätten den Weg der chinesischen Kommunisten wählen können!“ Das ruft die einzige Publikumsreaktion des ganzen Abends hervor: „Welchen Weg bitte?“, fragt ein Mann. Krenz:  „Die haben Hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt!“

Als Krenz zum Thema  Wende und Gewalt gegen Demonstranten kommt, dröhnt es noch leidenschaftlicher aus dem massigen Körper. Jetzt geht es um seine Ehre, sein Vermächtnis.   Dass die Revolution friedlich verlief, schreibt Krenz sich auch selber zu – und dem verantwortungsvollen Handeln der Sicherheitskräfte wie der Bürgerbewegung.

„Keine Demütigung kann eine Wahl der AfD rechtfertigen“ - sagt Egon Krenz

Tatsächlich kann Krenz zum Beweis ein starkes Dokument vorlegen: den Befehl Nr. 11/89 , unterzeichnet am 3. November 1989  vom Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, Egon Krenz. Darin folgender Absatz: „Die Anwendung der Schusswaffe in Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.“ So war man  – bei aller Polizei- und Stasigewalt – auch in den Wochen zuvor verfahren. Und: Die sowjetischen Streitkräfte blieben in den Kasernen.

Mit hochrotem Kopf weist Krenz die zahlreichen, von westdeutschen Politikern  in die Welt gesetzten, von Medien und weiteren Politikern immer wieder multiplizierten Fake News zurück. Bundespräsident Horst Köhler habe in einer Rede 2009 zum Mauerfall das Märchen erzählt, am Tag der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 hätten Panzer vor Leipzig gestanden, man habe Leichensäcke und Blutplasma bereitgehalten für mögliche Opfer von Polizeischüssen. Lüge!

Da hat der Egon  recht, wie auch in seinen zornigen Erinnerungen an die millionenfache Herabwürdigung von DDR-Biografien.  Aber, das muss dann doch sein: „Keine Demütigung kann eine Wahl der AfD rechtfertigen“, ruft Krenz ins Ost-Publikum.

Egon Krenz ist Zeitzeuge - und verkündet bedenkenswerte Teile historischer Wahrheit

Krenz selber war nach der Wende die Figur, an der man sich gut abarbeiten konnte – der Depp, der Dogmatiker, keiner nahm ihm die Reformer-rolle ab. Heute räumt er Fehler ein, verpasste Chancen, doch seinen Überzeugungen ist er treugeblieben. Die einen nennen das unbelehrbar, die anderen bewundern es. 

Von seiner Unfähigkeit, auf der Höhe der Zeit zu handeln, kündet der 9. November 1989 und die folgende Nacht. Dass Günther Schabowski zur Überraschung aller Welt die Grenzöffnung mit sofortiger Wirkung verkündete, erklärt Krenz heute mit „unkonzentrierter Vorbereitung der neuen Grenzregelung“.

Dass vom ersten Mann der DDR  über den Abend, als die Menschen  durch die geöffneten Grenzübergänge strömten,  nichts zu sehen und zu hören war, erklärt er so: „Ich habe in meinem Büro gearbeitet. Es war viel zu koordinieren. Es gab viele Anrufer. Um 0.30 Uhr bin ich nach Hause gefahren und habe geduscht.“

Heute langweilt es, Egon Krenz  routiniert als Witzfigur abzutun. Es bringt sicherlich  mehr, ihn kühl als den zu sehen, der er unbestreitbar ist: ein Zeitzeuge, der zwar nicht die historische Wahrheit verkündet, aber bedenkenswerte Teile davon.

 

 

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Anmerkungen:

 

Anbei erscheinen ein paar Literaturerscheinungen, Fakten usw. die alle Interessierten ein umfangreiches Wissen über die Geschichte DDR und deren Einverleibung durch die BRD 1990 geben. Natürlich erhebe ich mit diesen Hinweisen an Literatur nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Es wird ständig weitere Ergänzungen geben.

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Klaus Blessing: Wer verkaufte die DDR?

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Klaus Blessing

Wer verkaufte die DDR?

Buch

  • Wie leitende Genossen den Boden für die Wende bereiteten
  • edition berolina, 08/2019
  • Einband: Kartoniert / Broschiert
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-13: 9783958411074
  • Bestellnummer: 9216255
  • Umfang: 251 Seiten
  • Gewicht: 288 g
  • Maße: 208 x 123 mm
  • Stärke: 27 mm
  • Erscheinungstermin: 15.8.2019

Klappentext

Viele Spitzenkader der DDR haben gegen deren Ende selbst den Boden für den Übergang zum Kapitalismus bereitet - zu diesem provokanten Schluss kommt Klaus Blessing in seinem neuen Buch. Obwohl die ökonomische Abschlussbilanz der DDR von 1990 besser war als die von vielen entwickelten kapitalistischen Ländern heute, gab es den »Schürer-Bericht« vom 30. Oktober 1989 mit seiner falschen Behauptung der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit des Landes. Dem ging allerdings eine lange Reihe an Handlungen, Beschlüssen und Anordnungen voraus, die von einem grassierenden Misstrauen gegen die eigene sozialistische Wirtschaftsweise zeugen. Doch wann hörten Unkenntnis und Unvermögen auf, und wann begann das Kalkül? - Denn auch das, so zeigt der Autor eindeutig, ist Teil der Agonie der DDR, ein »planvolles Agieren gegen den Plan«, das schlussendlich zum weitgehenden Verschwinden einer ganzen Volkswirtschaft führte. Belegt mit einer Vielzahl an Akten und Dokumenten, liefert Klaus Blessing unangenehme Einsichten zum Verständnis der Wende.

Biografie

Klaus Blessing, Jahrgang 1936, Ökonomie-Studium an der Karl-Marx-Universität Leipzig, später noch Ingenieurstudium. Von 1968 bis 1970 Stellvertretender Ökonomischer Direktor im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO), danach Abteilungsleiter im Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali. Seit 1980 Staatssekretär, von 1986 bis 1989 Leiter der Abteilung Maschinenbau und Metallurgie im ZK der SED.

Anmerkungen:

Bitte beachten Sie, dass auch wir der Preisbindung unterliegen und kurzfristige Preiserhöhungen oder -senkungen an Sie weitergeben müssen.

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Klaus Blessing

Die Schulden des Westens

Was hat die DDR zum Wohlstand der BRD beigetragen?

Neue Zahlen, neue Fakten als der Westen die Zahlung der Reparationen einstellte, zu denen er 1945 in Potsdam verpflichtet worden war, blutete der Osten für ihn mit. Bis 1961 nutzte man das Arbeitskräftereservoir der DDR, nach dem Mauerbau musste man sich "Gastarbeiter" aus Südeuropa holen. Und als die DDR unterging, kamen Versandhäuser im Westen unter die Räder: Bis dahin hatten sie ihre Kataloge mit Schnäppchen aus dem Osten prall gefüllt ... Klaus Blessing stellt die Wahrheit auf die Füße. Nicht der Osten lag dem Westen auf der Tasche, sondern umgekehrt. Der Wirtschaftsfachmann rechnet vor,…mehr

Produktbeschreibung

Neue Zahlen, neue Fakten als der Westen die Zahlung der Reparationen einstellte, zu denen er 1945 in Potsdam verpflichtet worden war, blutete der Osten für ihn mit. Bis 1961 nutzte man das Arbeitskräftereservoir der DDR, nach dem Mauerbau musste man sich "Gastarbeiter" aus Südeuropa holen. Und als die DDR unterging, kamen Versandhäuser im Westen unter die Räder: Bis dahin hatten sie ihre Kataloge mit Schnäppchen aus dem Osten prall gefüllt ...
Klaus Blessing stellt die Wahrheit auf die Füße. Nicht der Osten lag dem Westen auf der Tasche, sondern umgekehrt. Der Wirtschaftsfachmann rechnet vor, wie und in welchem Maße die DDR zum Wohlstand in der BRD beitrug.

  • Produktdetails
  • Verlag: Edition Ost; Das Neue Berlin
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 127
  • Erscheinungstermin: 12. März 2010
  • Deutsch
  • Abmessung: 212mm x 126mm x 11mm
  • Gewicht: 166g
  • ISBN-13: 9783360018168
  • ISBN-10: 3360018168
  • Artikelnr.: 28079521

 

Was war die DDR wert? Taschenbuch – 1. Februar 2001

von Siegfried Wenzel

Die ökonomische Situation der DDR, die Aktiva und Passiva eines Staates, dessen Entwicklung von der Politik der Supermächte abhängig war, ist noch immer nicht abschließend erläutert, vorliegende Teiluntersuchungen sind zudem nicht selten aus politischen Gründen verzerrt. War die DDR 1989 wirtschaftlich am Ende? Eine emotional aufgeladene Diskussion ersetzt nicht die sachliche Analyse und die Benennung der Ausgangssituation. Die Auflösung des in der DDR praktizierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sowie die gewaltigen Transformationsprozesse und deren Hauptinstrument, die Treuhand und ihre Nachfolgeeinrichtungen, unterzieht Siegfried Wenzel einer kritisch-bilanzierenden Betrachtung.Das Buch liefert auch für Laien und Nichtökonomen aufschlußreiches Material.


 

Die Flachzangen aus dem Westen (Spotless) Taschenbuch

von Klaus Huhn

Die grauen Mäuse haben gut grinsen. Dort, wo sie herkamen, waren sie stets zweite oder dritte Wahl, weshalb sie kaum Aussicht auf Aufstieg hatten. Doch als die DDR unterging, schickte man sie aus der westdeutschen Warteschleife in den Osten, wo sie schon bald alle wichtigen Ämter in Politik, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, bei Medien und Militär, an Hoch- und Fachschulen besetzten. Als ihre Grenzen offenbar wurden, blieb das ohne Folgen. Wer hätte sie feuern können? Graue Mäuse sind wie schwarze Krähen: Keine hackt einem Artgenossen die Augen aus. Um die Unfähigkeit zu kaschieren, setzte die Rotation ein. So zogen sie weiter, von Amt zu Amt. Klaus Huhn hat einige Biografien von »Aufbauhelfern« untersucht und fand erstaunliche Karrieren vor. Ein Wessi kann eben alles, ist flexibel und natürlich durchsetzungsfähig in jeder Funktion. Eine Flachzange ist ein Werkzeug. Der Volksmund bezeichnet damit aber auch einen Menschen, der im Oberstübchen nicht sonderlich gut möbliert ist, sich seiner Einfalt jedoch nicht bewusst ist und auftritt, als sei er sehr bedeutend. Diese Differenz von Anspruch und Wirklichkeit mag hingehen, wenn diese Menschen kein Amt und keine Funktion haben. Wenn sie jedoch, wie nach 1990 massenhaft geschehen, in den Osten drängten und dort allein aufgrund ihrer Herkunft Immobilien, Unternehmen, Leitungs- und politische Funktionen an den Hals geworfen bekamen (oder mit krimineller Energie sich dieser bemächtigten), dann war das ein gesellschaftlicher Vorgang und keine lässliche Sünde. Klaus Huhn behandelt einige gravierende Fälle. Und zeigt, dass diese Flachzangen objektiv doch Werkzeuge waren: nämlich Instrumente einer bestimmten Gesellschaft.

 

Der deutsche Goldrausch: Die wahre Geschichte der Treuhand

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Gebraucht: Wie neu | Details

Verkauft von ThriftBooks DE

Zustand: Gebraucht: Wie neu

Wie die DDR abgewickelt wurde – und wer daran verdiente

Dirk Laabs erzählt die Geschichte der Treuhand, jener »Superbehörde«, die ursprünglich angetreten war, das Volkseigentum der DDR vor dem Ausverkauf zu retten und am Ende verantwortlich war für drei Millionen Entlassungen. Es ist eine Geschichte, die im Schatten der Wiedervereinigung stattfand. Laabs eröffnet uns einen neuen Blick auf die Wendezeit, sein Buch ist Wirtschaftsthriller und Geschichtsbuch in einem.

Die Treuhand ist das zentrale Symbol für eine in Teilen misslungene Wiedervereinigung. »Größtes Schlachthaus Europas« rief man ihr 1994 nach ihrer eigenen Abwicklung hinterher. Niemals zuvor in der Geschichte hat es einen derart großen Konzern gegeben. Die Treuhand war für 10 000 Betriebe und vier Millionen Angestellte zuständig.

Im Osten herrschte 1989 Aufbruchseuphorie, im Westen Goldgräberstimmung. Wie das Rennen ausging, ist bekannt. Wie es dazu kam, schildert Dirk Laabs und bringt die wichtigsten Insider erstmals zum Reden. Er beschäftigt sich mit einem der spannendsten und gleichzeitig wenig beleuchteten Kapitel der jüngsten deutschen Zeitgeschichte und wird Diskussionen auslösen: War die Arbeit der Treuhand wirklich unumgänglich für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten? Und war sie letztlich erfolgreich?

Raubzug Ost: Wie die Treuhand die DDR plünderte (edition ost)

von Klaus Huhn

Schon manches ist über die Abwicklung der Wirtschaft der DDR geschrieben worden. Dass dabei das Meiste zwar mit rechtsstaatlichen, aber keineswegs rechten Dingen zuging, räumten später sogar Politiker ein. Stets mit dem entschuldigenden Zusatz: »Es gab keine Alternative!« Doch, es hätte sie gegeben. Man wollte sie nur nicht. Klaus Huhn hat einige der schlimmsten Kriminalfälle und den Umgang der Obrigkeit mit diesen untersucht. Seine kurzweiligen Darstellungen öffnen nicht nur den Blick auf die hierzulande obwaltende Politik. Seine Berichte desillusionieren und ernüchtern.

Jetzt reden wir: Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist (edition berolina)

Immer wieder ist über die DDR-Wirtschaft zu lesen, ohne den 'Wendeherbst' von 1989 wäre unweigerlich ihr baldiger Kollaps eingetreten. Nur wenige stellen diese seit mehr als 20 Jahren kolportierte These infrage. Diese Anthologie rückt die wirklichen Verhältnisse in den Fokus. Wirtschaftstheoretiker wie Christa Luft und Klaus Blessing und Wirtschaftspraktiker dazu gehören die in diesem Buch versammelten Kombinatsdirektoren, in deren Verantwortungen ehedem zehntausende Beschäftigte arbeiteten berichten aus ihren Erfahrungen und zeigen die Realität in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Sie melden nicht nur begründete Zweifel an der grassierenden Kollaps-These an, sondern schildern auch mit viel Sachverstand, was auch heute noch aus diesem reichen Erfahrungsschatz zu lernen ist.

Jetzt reden wir weiter!: Neue Beiträge zur DDR-Wirtschaft und was daraus zu lernen ist

Nach dem überraschend großen Erfolg des ersten Bandes Jetzt reden wir. Was heute aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist mit über 10 000 verkauften Exemplaren liegt nun der zweite vor, in dem erneut Kombinatsdirektoren und Wirtschaftsexperten zu Wort kommen. Herausgeberin Katrin Rohnstock hat die einstigen Planwirtschaftslenker versammelt, um deren persönliche Geschichte und die ihrer großen Kombinate zu hören. Die daraus entstandene Anthologie nimmt die tatsächlichen Verhältnisse der DDR-Wirtschaftsgestaltung unter die Lupe und räumt auf mit dem verzerrten Bild vom »Pleitestaat DDR«. Durch die Erzählungen wird sichtbar, wie unterschiedlich die Ausgangs- und Interessenlagen waren, wie schwierig oft die Gratwanderung zwischen volkswirtschaftlichen, betrieblichen und sozialen Interessen. Ob aus der Energiewirtschaft, Automobilindustrie, Mikroelektronik, Kosmetik- und Pharmaindustrie, Schuhproduktion, Sportgeräteherstellung oder der Genussmittelbranche kommend die Beiträger in diesem Buch zeigen allesamt, wie spannend und lehrreich die DDR-Wirtschaftsgeschichte ist, die keine historischen Vorbilder kannte und sowohl in der Wirtschafts- als auch Strukturpolitik immer erst nach geeigneten Wegen suchen musste.
Ein ergreifendes Buch über ein großes Experiment, das sich lohnt genauer kennenzulernen, um zu realisieren, was auch heute noch aus der DDR-Wirtschaft zu lernen ist.

 

Aufholen, ohne einzuholen!: Ostdeutschlands rastloser Wettlauf 1965-2015. Ein ökonomischer Abriss

von Jörg Roesler (Autor)

Kein Land in Europa ist in den letzten 50 Jahren so durch den Wettbewerb mit seinem Nachbarn geprägt worden wie Ostdeutschland. Immer wieder wurden Strategien entwickelt, die den Lebensstandard des Ostens an den des Westens angleichen oder gar übertrumpfen sollten. Walter Ulbricht proklamierte das 'Überholen, ohne einzuholen', Erich Honecker verkündete die 'Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik' und Helmut Kohl versprach den Ostdeutschen 'blühende Landschaften'. Doch was haben diese Ein- und Aufholprogramme tatsächlich bewirkt?
Jörg Roesler durchleuchtet, wie sich die ostdeutschen Wirtschaftsverhältnisse unter den jeweils politisch dominierenden Kräften in DDR und BRD entwickelten. Dabei kommen überraschend andere Ergebnisse zutage als bundesdeutsche Politiker und Medien seit Jahren verbreiten. Das gern gezeichnete Bild von der bis 1989 ständig gewachsenen Diskrepanz des planwirtschaftlich leistungsschwachen Ostens zum marktwirtschaftlich organisierten Westen, dem seit Anfang der 90er Jahre ein kontinuierlicher Aufholprozess gefolgt sei, lässt sich nach Roeslers quellengestützter Analyse nicht aufrechterhalten. Er zeigt für das vergangene halbe Jahrhundert die Phasen der Annäherung ebenso wie die der Stagnation und der Auseinanderentwicklung. Eine fundierte innerdeutsche Wirtschaftsprüfung für 25 Jahre vor und nach der Wende.

 

Die verschwundene Arbeit: DDR-Betriebe, die es nicht mehr gibt

So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben', sprach Mitte der 1950er Jahre Frida Hockauf und wurde damit nicht nur für ihre eigene Arbeiterbrigade im VEB Mechanische Weberei Zittau eine Heldin der Arbeit. Wer den Plan erfüllte in einem der 1989 rund 8.000 Volkseigenen Betriebe und Kombinate, stärkte auch den Sozialismus im Arbeiter-und-Bauern-Staat.
Mit der Wende wurden die DDR-Betriebe vielfach abgewickelt Hunderttausende verloren ihre Arbeit, für viele war es schwer, im vereinten Deutschland beruflich noch einmal Fuß zu fassen. Umso sehnsüchtiger ist bei einigen der Blick zurück.
Dieser Bildband porträtiert rund 50 der wichtigsten DDR-Arbeitsstätten, die es heute nicht mehr gibt. Von den VEB Dieselmotorenwerken Rostock über die Interflug, das Kabelwerk Oberspree, die Leunawerke bei Halle, die Stadtbrauerei Leipzig, das VEB Stern-Radio Sonneberg bis hin zum Werkzeugkombinat Schmalkalden auf den Fotografien sind zudem die Hoffnungen und Erwartungen, aber auch der Schweiß und die Mühen der Menschen noch zum Greifen nahe. Mit ausführlichen Bildunterschriften versehen, geben die Bilder Zeugnis ab von einer Zeit des Aufbruchs hin zu einer besseren Welt, die heute mehr denn je in weite Ferne gerückt ist.

 

Exkursion durch volkseigene Ruinen: Vom Verschwinden einer ganzen Volkswirtschaft

von Klaus Huhn

Bundeskanzler Helmut Kohl versprach 1990, aus den neuen Bundesländern »blühende Landschaften« zu machen. Dass das »gelungen« ist, und zwar durch weitgehende Deindustrialisierung des Ostens mit der dazugehörigen Freisetzung von Arbeitskräften, zeigt Klaus Huhn in gewohnt scharfzüngiger und sarkastischer Art
und Weise. Er unternimmt eine virtuelle Exkursion quer durch Ostdeutschland und veranschaulicht anhand von Zitaten und Fakten den fast fl ächendeckenden Niedergang der ostdeutschen, einst volkseigenen, Industrie. In alphabetischer Reihenfolge geht der Streifzug von Angermünde und Apolda über Berlin und Eberswalde,
Hettstedt, Hoyerswerda und Ilmenau bis Weißwasser, Wismar, Wittenberge und Zschopau und durch viele andere Orte mehr. Eine Spurensuche der besonderen Art: Was bleibt, wenn eine ganze Volkswirtschaft verschwindet?

 

Verschwundene Orte der DDR

 

Die DDR ist ein Land, das es nicht mehr gibt. Mit ihr wurden nach 1990 viele Gebäude und Plätze beseitigt, die in 40 Jahren Deutscher Demokratischer Republik entstanden waren bzw. ihre Hochphase hatten. Es ist eine Binsenweisheit: Architektur hat nicht nur einen funktionalen oder ästhetischen Charakter, sie sagt auch immer etwas über ihre Zeit und deren Ideale aus, ist Träger von Geschichte. Insbesondere verschwundene Orte erzeugen in der Erinnerung ein eigentümliches Bild der Vergangenheit. Dieses Buch porträtiert zirka 100 verschwundene Orte der DDR in ihrer einstigen Blüte: von öffentlichen Bauten wie dem Palast der Republik oder der Gaststätte Ahornblatt in Berlin über Wohngebiete in Chemnitz, Cottbus und Hoyerswerda, Arbeitsstätten wie die Dresdner Süßwarenfabriken »Elbflorenz« und den VEB Halbleiterwerk Frankfurt/Oder bis zu Grenzmarkierungen wie der Mauer oder Intershops. Anhand ansprechender Fotografien und informativer Begleittexte bewahrt es sie in unserem kollektiven Gedächtnis!

DDR-Architektur

Unter oft schwierigen Bedingungen und mit großem Idealismus entstand in der ehemaligen DDR eine Vielzahl ästhetisch hochwertiger Bauten, deren architektonischer Wert – auch im Kontext des Mid-Century Revivals – inzwischen geschätzt wird. In den Jahren nach dem Mauerfall haben viele ostdeutsche Kommunen ihre Innenstädte allerdings generalüberholt und dabei auch zahlreiche architektonische »Altlasten« aus sozialistischer Zeit beseitigt. Der Fotograf Hans Engels dokumentiert die heute unter dem Stichwort Ost-Moderne berühmt gewordenen Relikte sozialistischer Baukultur zwischen Rostock und Zwickau, wie den Berliner Fernsehturm am Alexanderplatz, die Terrassenhäuser in Rostock-Evershagen, das Rundkino in Dresden oder den Teepott in Warnemünde – architektonische Zeugnisse einer Epoche ungebremsten Idealismus’ und hochfliegender Zukunftspläne.

Ost Places: Vom Verschwinden und Wiederfinden der DDR

von Andreas Metz (Autor

Was vom Osten übrig blieb: Ein Bildband über das Verschwinden und Wiederfinden der DDR
Dreißig Jahre nach der Wende ist Andreas Metz im Osten Deutschlands auf Motivsuche gegangen: Was ist noch zu finden aus den vierzig Jahren Lebens- und Alltagskultur der untergegangenen DDR? Was an DDR-Architektur wurde erhalten, was stillschweigend oder absichtsvoll dem endgültigen Verfall preisgegeben? Wo gab es Denkmalstürmerei, wo gibt es Denkmalpflege? Was fand selbstverständlichen Eingang in die gelebte Gegenwart? Sensibilität und Entdeckerlust prägen seinen fotografischen Blick. Der umfangreiche Bildband »Ost-Places« ist eine Spurensuche durch die ehemalige DDR, vom Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz, über den »Teepott« in Warnemünde und die Plattenbauten in Halle-Neustadt bis zum Karl-Marx-Kopf in Chemnitz. Dabei erzählen die Bilder auch von einem Wettrennen gegen die Uhr: Motive verschwinden, weil Gebäude abgerissen, eine Inschrift oder ganze Wandgemälde übermalt wurden. Ost Places werden zu Lost Places. Aber auch das: Da biegt überraschend eine »Schwalbe« um die Ecke, werden Jugendweihen gefeiert, treffen sich Alt und Jung bei der Traditionsdemo nach Berlin-Friedrichsfelde. Mit präzisen und zugleich ungeschönten Fotografien gibt der Bildband »Ost Places Vom Verschwinden und Wiederfinden der DDR« einen Einblick in eine untergegangene Welt, die bis heute nachwirkt. Die Bilder von Andreas Metz fangen Geschichte von gestern ein und erzählen Geschichten von heute.
Der gesamte Text des Buches ist zweisprachig verfasst (Deutsch und Englisch).

Treuhandverbrechen: Schon alles vergessen?

on: August 24, 20123 Comments

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Die Ostdeutschen zahlten die Reparationen, stärkten mit Fachkräften die Personaldecke, exportierten zu Dumpingpreisen Waren, die die Versandhauskataloge im Westen füllten. Quelle: krisenfrei
Nach 1990 wurde das DDR-Volksvermögen vom Westen geplündert, es war die größte Industriedemontage in der Geschichte der Menschheit und kein Volk auf Erden wurde so enteignet wie das Ostdeutsche, da 95% des Treuhandvermögens jetzt im West- Besitz ist.

Aus 600 Milliarden Treuhandvermögen wurde am Ende eine Schreckensbilanz von minus 237 Milliarden D-Mark. Eine selbsttragende Wirtschaft ist in Ostdeutschland nicht mehr möglich, es werden immer große Transferzahlungen von West nach Ost notwendig sein, woran die BRD langsam ausblutet. Die Treuhand nach dem Zerfall der DDR hatte den größten wirtschaftskriminalistischen Betrug in Deutschland zu verantworten und die Menschen wurden einfach nur verkauft. Wann werden die Treuhandverbrecher endlich vor Gericht gestellt?

Der Westen schuldet dem Osten mehr als 5 Billionen Euro, um diese Schuld abzutragen , müssten jährlich 25 bis 30 Milliarden Euro nach Ostdeutschland transferiert werden. Und das 150 Jahre lang…

https://youtu.be/WjcJ0NEdAYU

 

Filmhinweis:
DER GOLDRAUSCH, ab 30.8.12 im Kino
“Vier kurze Jahre nur gab es die Treuhand, dann wurde sie erfolgreich mit einem Verlust von 200 Milliarden Mark geschlossen. Der Dokumentarfilm ist ein differenziertes Porträt dieser Anstalt und zeichnet doch ein Bild, das viele immer schon hatten. Leider stimmt es nicht. Es ist schlimmer.”

Linkverweise:

Macht und Eigentum, Paffrath Constanze – Während der Zeit der Teilung Deutschlands bestand kein Zweifel: die entschädigungslosen Enteignungen 1945-1949 in der Sowjetischen Besatzungszone würden nach Beseitigung des SED-Unrechtsregimes wieder gutgemacht werden. Doch zur Überraschung vieler hob die Bundesregierung Kohl diese Unrechtsmaßnahmen im Prozess der Wiedervereinigung 1989/1990 nicht nur nicht auf, sondern legitimierte sie vielmehr, unter anderem durch eine Änderung des Grundgesetzes. Zur Rechtfertigung ihres Verhaltens berief sie sich auf eine angebliche Forderung der Sowjetunion und der DDR-Regierung, die damaligen Konfiskationen um den Preis der Wiedervereinigung nicht wieder rückgängig machen zu dürfen: ohne Erfüllung jener Forderung sei die Einheit Deutschlands nicht zu haben gewesen.§Dieser Wiedervereinigungslegende setzt die Autorin durch eine gründliche Auswertung aller verfügbaren Quellen ein Ende. hier weiter

Die große Enteignung – Volkseigentum – eine Kategorie, die dem bundesdeutschen Rechtssystem fremd ist. Deshalb rief man zur Wendezeit eilig die Treuhandanstalt ins Leben, um die VEBs der DDR auf marktwirtschaftlichen Kurs zu bringen – mit fatalen Folgen. §Otto Köhler hat gründlich recherchiert und deckt nicht nur massive Schlampereien auf, sondern die gezielte Ausschaltung von Ost-Betrieben durch West-Unternehmen in Allianz mit der Treuhand. Von wegen “Aufbau Ost” – eine erschütternde Bilanz. hier weiter

Die Rothschilds – Unglaublich, aber wahr: Es gibt eine unsichtbare Macht auf diesem Planeten, die seit mehr als zwei Jahrhunderten völlig unbehelligt am Rad der Geschichte dreht. Die Familie Rothschild kontrolliert aus dem Hintergrund die Knotenpunkte zwischen Politik, Wirtschaft und Hochfinanz. Lange konnten sie sich in behaglicher Sicherheit wiegen, denn die Geheimhaltung stand seit jeher im Mittelpunkt ihrer Strategie. Doch nun fliegt ihr Schwindel auf, die Mauer des Schweigens beginnt zu bröckeln, immer mehr Menschen wachen auf und erkennen die wahren Drahtzieher hinter den Kulissen des Weltgeschehens! hier weiter

Langzeitlebensmittel zur Krisenvorsorge – Was essen Sie, wenn die Geschäfte geschlossen oder leer sind? Im Krisenfall werden die Supermärkte binnen weniger Stunden leer sein. Ein Lebensmitteldiscounter schlägt sein Sortiment in der Regel alle zwei Tage komplett um. Das Bundesamt für Zivilschutz empfiehlt seit vielen Jahren, dass jeder Haushalt über einen Vorrat von mindestens zwei Wochen verfügen sollte.

 

Die Schuld der DDR? Alternative zu Kapitalismus und Krieg 23.10.2019 • 06:00 Uhr https://de.rt.com/20cw

 

lle: Reuters Der 30. Jahrestag des Mauerfalls wird schon im Vorfeld von den hiesigen "Eliten" mit großem Brimborium gefeiert. Der 70. Jahrestag der hoffnungsvollen Gründung der DDR, des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden, wurde hingegen pflichtbewusst ignoriert.

von Rainer Rupp In Großbritannien gibt die konservative Regierung für alles, was in Politik und Gesellschaft nicht funktioniert, den Russen und deren angeblichen Einmischung die Schuld. Auch in Frankreich neigt man dazu, die Schuld für die eigenen Versäumnisse und die daraus entstandenen Proteste (z. B. Gelbwesten) den Russen und deren angeblichen "hybriden Kriegsführung" gegen Europa in die Schuhe zu schieben.

Noch hysterischer als in London und Paris geht es in Washington zu, wo die Führer der Demokratischen Partei und Trumps Gegner aus dessen eigenen republikanischen Reihen die "böse Hand Russlands" in allen Lebensbereichen des Landes erkennen. Demnach sind auch im "Land des unbegrenzten Irrsinns" die Russen an allem Schuld, was dort schiefläuft. Aber die in Washington herrschende Absurdität geht sogar so weit, dass selbst "honorige" Politiker und Medienstars allen Ernstes Präsident Trump beschuldigen, ein russischer Agent zu sein, der von Präsident Putin mit Hilfe von Erpressungsmaterial am Gängelband geführt wird. Der Beweis: Trump strebe ein gutes Auskommen mit Russland an. Abwegiger geht es nicht mehr.

Auch in der Bundesrepublik Deutschland gab es einige zaghafte Versuche der Regierungsparteien CDU/CSU/SPD, die Schuld für ihr eigenes Versagen und die daraus resultierende Popularität der AfD auf angeblich "verdeckte" russische Einmischung abzuwälzen. Aber diese erbärmliche Ablenkung vom eigenen Unvermögen erntete bei der breiten Masse der Bevölkerung mitleidiges Lächeln. Daher entschieden die Propagandastrategen im Berliner "Ministerium für Wahrheit" auf das altbewährte Mittel zurückzugreifen und 30 Jahre nach ihrem Untergang weiterhin die DDR für alles verantwortlich zu machen, was in unserem Land den wachsenden Protest der Bevölkerung hervorruft. Aber auch diese Masche kann von dem offensichtlichen eigenen Missmanagement immer weniger ablenken, vor allem im Osten.

Die großen Parolen der Politiker und Medien über die "blühenden Landschaften", der verklärte Aufbruch in die leuchtende Zukunft der "Deutschen Einheit", wo angeblich "zusammenwächst, was zusammengehört", die vielen, den Menschen in Ost und West gegebenen Versprechen von einem sozial abgesicherten und materiell besseren Leben, in einer stabilen, von gegenseitiger Verantwortung und Respekt geprägten Gesellschaft haben sich inzwischen als genau das erweisen, was sie von Anfang an waren, HEIßE LUFT.

Seit dem Verschwinden der DDR und ihres indirekten Einflusses als soziales Korrektiv auf die BRD haben die aufeinanderfolgenden Bundesregierungen, egal welcher parteipolitischen Zusammensetzung, im neu vereinten Gesamtdeutschland einen zunehmend radikalen, neoliberalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kurs gefahren. Hatte in der Vorwendezeit, z. B. bei Tarifverhandlungen in der Bundesrepublik, "die DDR mit ihren sozialen Errungenschaften stets unsichtbar mit den Gewerkschaften am Verhandlungstische gesessen" (so Danela Dahn), so gab es nach dem "Mauerfall" für das Kapital kein Halten mehr. "Der Stärkere gewinnt, und der Gewinner nimmt alles", lautete ab jetzt das Mantra.

Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, sieht das erschreckende Resultat dieser bewusst betriebenen Politik an allen Ecken und Enden. Auch ohne Ostalgie oder unkritische Euphorie, die brutale gesellschaftliche Realität in unserer heutigen Zeit zeigt, was mit der DDR verloren ging, trotz all ihrer Fehler und Schwächen.

Über zweieinhalb Millionen armer Kinder, die von der gesellschaftlichen Teilhabe weitgehend ausgeschlossen sind, existieren heute in unserem reichen Land, in dem Leute wie Frau Merkel "gut und gerne leben". Mit ehrlicher Arbeit verdient heute kaum noch ein Malocher genug, um die ständig steigenden Mieten zu zahlen und zugleich seine Familie zu ernähren und die Bildung der Kinder zu gewährleisten. Hinzu kommt die ständige Angst um den Arbeitsplatz.

Der bereits so oft gehörte Satz, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, gilt heute noch genauso wie vor zehn, 20 oder 30 Jahren – mit dem Resultat, dass die Schere zwischen denen, die haben, und jenen, die nichts haben, in all den Jahren immer größer geworden ist. Die von unseren Politikern selbstgemachten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme häufen sich. Auf einer schiefen Ebene gleiten nicht nur Deutschland, sondern auch die meisten EU-Länder ständig weiter ins gesellschaftliche Chaos ab. Bei den schwachen und bereits neoliberal gewendeten Gewerkschaften und den in sich uneinigen linken Parteien ist von der Seite keine Korrektur zu erwarten. Und in den regierenden Parteien fehlt der politische Wille, diese Entwicklung zu stoppen und umzukehren, denn unkonventionelle staatliche Eingriffe in den geheiligten Markt sind tabu.

Viele Politberater und auch die Klügeren unter den Politikern haben bereits erkannt, dass es ohne einen radikalen Kurswechsel keine Lösung für die sich zuspitzenden Probleme gibt. Aber offen darüber zu reden, käme nicht nur dem Eingeständnis der Unfähigkeit der eigenen Parteien gleich, sondern auch dass über Jahrzehnte die falsche Politik betrieben wurde. Also heißt die Devise: Kopf einziehen und auf Zeit spielen, in der Hoffnung, dass man sich irgendwie durchwurschteln kann, obwohl man immer tiefer in die Sackgasse geht. Und damit die Wähler von all dem nichts merken, muss man sie natürlich mit neu erfundenen Themen wie der Gender-Debatte ablenken oder ihnen mit der Klima-Hysterie Angst vorm Weltuntergang einjagen, um sie opferbereiter zu machen, damit sie Verzicht üben und – um die Welt zu retten – höhere Energiepreise und Steuern zahlen, auch wenn sie dadurch noch weniger Kaufkraft in der Tasche haben.

Indoktrination der DDR-Schuld Und wer ist schuld an all diesen Problemen? Die DDR natürlich! Mit dieser angeblich unverrückbaren "Tatsache" werden die Bundesbürger anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls schon im Vorfeld mit einer gigantischen Medienlawine indoktriniert. Alles Böse und alles Schlechte, was uns heute zu schaffen macht, einschließlich der üblen AfD, haben ihre Wurzeln in der DDR. Das zumindest ist die Quintessenz der Berichte der PresstituiertenGemeinschaft aus den öffentlich-rechtlichen bis hin zu den privaten Medien.

Allerdings haben einige Politiker inzwischen mitbekommen, dass die ständige Dämonisierung der DDR in Ostdeutschland nicht gut ankommt, oder wenn die Wessis immer besser wissen, wie die Ostdeutschen in der DDR gelebt haben als die Ostdeutschen selbst. MecklenburgVorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) hat daher versucht, etwas zu bremsen. Frau Schwesig stört sich neuerdings an dem Begriff "Unrechtsstaat". Dieser werde von vielen Menschen, die in der DDR gelebt haben, als herabsetzend empfunden und wirke, "als sei ihr ganzes Leben Unrecht gewesen", so Frau Schwesig. Deshalb nennt sie jetzt die DDR lieber "Diktatur", was die DDR auch war, nämlich eine Diktatur der Arbeiterklasse statt einer Diktatur des Kapitals, wie sie bei uns herrscht.

Während der Mauerfall landauf, landab gefeiert wird, als gäbe es keine anderen Probleme, war der Jahrestag der Gründung der DDR unseren gleichgeschalteten Medien kein Wort und keine Zeile wert. Selbst die Führung der Partei Die Linke und deren Hauszeitung Neues Deutschland schwiegen zum 70. Geburtstag der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober. Das verwundert nicht. Denn Die Linke wird zunehmend als Partei wahrgenommen, die im bürgerlichen Politikbetrieb angekommen ist und dabei linke Grundpositionen aufgibt. Eine klare Position für eine sozialistische Alternative sei bei ihr nicht mehr erkennbar, erklärte

der Vorsitzende des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden (OKV) in Berlin bei einer Festveranstaltungen zum Jahrestag der DDR-Gründung, an der immerhin 500 Menschen teilnahmen. Um in Regierungsverantwortung zu kommen, habe sich die Linke stromlinienförmig angepasst und sei dazu übergegangen, ihre Wurzeln zu leugnen und die Geschichte der DDR zu diffamieren. Die DDR-Errungenschaften, im sozialen und gesellschaftlichen Bereich, in der Friedenspolitik, beim Antifaschismus, in Bildung und Kultur, würden verschwiegen oder kleingeredet. Die kritische Aufarbeitung der alles andere als blütenreinen Weste der BRDGeschichte werde dagegen weitgehend ausgespart, sagte der OKV-Vorsitzende und fügte hinzu: "Die Partei Die Linke verliert im Osten Deutschlands an politischer Akzeptanz bei vielen Bürgern." In der Tat lässt sich das unschwer am signifikanten Wählerwechsel von der Linken zur AfD erkennen.

Am Ende der Veranstaltung wurde eine Erklärung verabschiedet, dass die Maxime der DDR, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe, zur Maxime für ganz Deutschland werden müsse. Alle Kriegseinsätze der Bundeswehr seien zu beenden und alle Waffenexporte zu stoppen.

Die Entsorgung der DDR Fakt ist, dass nach der sogenannten Wende 80 Prozent der volkseigenen DDR-Betriebe von ihren westdeutschen und zehn Prozent von internationalen Konkurrenten für 'n Appel und 'n Ei aufgekauft wurden. Dann wurden kurze Zeit später die Filetstückchen an Grund und Boden für teures Geld verkauft, während die Kundenkarteien der DDR-Betriebe von den Aufkäufern übernommen wurden, um sie anschließend vom Westen aus zu beliefern. Die Belegschaften der DDR-Betriebe wurden in die aufblühende Massenarbeitslosigkeit entlassen. Heute, 30 Jahre später, stehen die inzwischen total vergammelten Ruinen der volkseigenen Fabriken immer noch in der Landschaft, wo sie immerhin noch einen Zweck erfüllen, nämlich die angeblich "marode DDR-Wirtschaft" zu bezeugen.

Dass in diesen Fabriken einst Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern der DDR gleichberechtigt und ohne Angst vor unsicheren Arbeitsplätzen und ohne Drangsalierung den Mehrwert für das Volk und nicht für die private Schatulle der Bosse und Aktionäre geschaffen haben, ist längst im offiziellen Gedächtnisloch der BRD entsorgt worden. Ebenfalls entsorgt wurden alle Erinnerungen an die vielen sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften, auf die die meisten DDR-Bürger auch heute noch stolz sind, vor allem vor dem Hintergrund der realen Lebenserfahrung in der Ellenbogengesellschaft des Siegerstaates BRD, wo das Prinzip gilt: "Der Gewinner nimmt alles."

Freiheit von wem oder von was? Damals allerdings, vor 30 Jahren, seien nicht wenige DDR-Bewohner auf "das Versprechen von blühenden Landschaften und den Konsum in Hülle und Fülle, ja und vor allem der Freiheit" hereingefallen. Das sagte Andreas Maluga, Vorsitzender des DDR-Kabinett-Bochum vor 300 Gästen in seiner Begrüßungsansprache anlässlich einer anderen, feierlichen Veranstaltung zum 70. Gründungstag der DDR. (Die vom DDR-Kabinett-Bochum organisierte Veranstaltung, die bereits im Vorfeld frühzeitig ausgebucht war, fand in Berlin-Marzahn am 10. Oktober statt.) Laut Maluga hätten sich leider viele DDR-Bürger nicht die Frage gestellt: "Freiheit von wem oder von was?" Die Antwort darauf sei nach der Wende prompt gekommen: "Quasi über Nacht wechselten Betriebe, soziale Einrichtungen, Wohnkomplexe und Agrarland ihren Besitzer: Volkseigentum, das jedem Bürger Ausbildung, Arbeit, Kultur und medizinische Versorgung garantierte, wurde jetzt privatwirtschaftlichem Kalkül unterworfen."

Die Tatsache, dass das Wirtschaftsprodukt pro Kopf der Bevölkerung in der BRD deutlich höher war als das in der DDR, soll hier nicht geleugnet werden. Da zeugt jedoch nicht zwingend für "marodes Wirtschaften". Wenn die BRD sich unter ähnlich schwereren Startbedingungen wie die DDR in den Nachkriegsjahren hätte entwickeln müssen (hohe Reparationszahlungen an die Sowjetunion in der DDR statt Marshallplan-Hilfen für die BRD), wenn sie wie die DDR mit dem COCOM-Embargo der NATO vom wissenschaftlich- technischen Fortschritt der westlichen Länder ausgeschlossen gewesen wäre, dann würde ein Vergleich ganz anders aussehen. Ungeachtet dessen haben die siegreichen BRD-Eliten weiter an der Legende der "maroden DDR-Wirtschaft" gearbeitet, wobei der Begriff "DDR" zu einem Synonym für "Mangelwirtschaft" geworden sei, betonte Maluga in Berlin-Marzahn und führte weiter aus:

"Es stimmt, verglichen mit der BRD war das Angebot an Konsumgütern bescheiden. Wer sich jedoch in der Welt umgesehen hat, hat einen anderen Maßstab. Hatte die DDR einen Bildungsnotstand? Erfroren im Winter Obdachlose? Starben in der DDR Menschen, weil sie sich keine medizinische Versorgung leisten konnten? Die DDR garantierte allen Bürgern die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die die Vereinten Nationen in einer Internationalen Konvention 1966 festgelegt haben. Diese Rechte waren in der Verfassung verankert und damit für jeden Bürger einklagbar. Das Grundgesetz kennt diese Rechte nicht. Sollen wir das vergessen?"

Tatsache ist, dass im vereinten Deutschland die in der UNO-Konvention verankerten "sozialen Menschenrechte", wie z. B. das Recht auf Arbeit oder das Recht auf ein Dach über dem Kopf,

systematisch unterschlagen werden, obwohl sie gleichrangig mit den sogenannten "bürgerlichen Freiheitsrechten" sind.

Vor diesem Hintergrund muss die seit 70 Jahren andauernde Hetze gegen alles, was auch nur nach DDR riecht, verstanden werden. Auch 30 Jahre nach ihrem Untergang stellt die DDR mit ihren sozialen Errungenschaften noch eine Gefahr für die Herrschenden dar, zumal sich in der politisch zunehmend instabilen Bundesrepublik die sozialen Probleme weiter zuspitzen. Daher bergen positive Erinnerungen an die DDR – trotz aller Rückschläge, Fehlentscheidungen und an manchen Stellen auch Ungerechtigkeiten – auch drei Jahrzehnte nach ihrer Zerschlagung für die Sieger gefährlichen Sprengstoff. Folglich versuchen die Herrschenden und deren Presstituierten mit allen Mitteln alle positive Erinnerungen auszulöschen und den Drachen der sozialistischen DDR ein für alle Mal zu töten. Das wird jedoch immer schwerer, wenn die realen Alltagserfahrungen der Menschen in zu offensichtlichen Widerspruch zu den Legenden der Drachentöter geraten.

Der ehemalige SED-Politiker Egon Krenz, der von Oktober bis Dezember 1989 knapp drei Wochen als Nachfolger Erich Honeckers SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR war, räumte in einer ostalgiefreien Rede als Höhepunkt der Marzahner Veranstaltung mit den wichtigsten Legenden der westdeutschen Drachentöter auf. Seine Rede mit dem Titel "Nicht das DDR-Erbe, sondern Nazis und Neonazis sind eine Gefahr für Deutschland" ist in ungekürzter Fassung samt Quellenangaben auf der Webseite des DDR-Kabinetts dokumentiert und über diesen Link zu erreichen.

 

"Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!" Dieser Schwur von Buchenwald sei das Fundament gewesen, auf dem die Deutsche Demokratische Republik am 7. Oktober 1949 gegründet wurde, so Krenz zu Beginn seiner Rede. Aber nach dem Anschluss der DDR befinden sich deren Bürger jetzt in einem Deutschland, "das wieder Kriege führt, erst in Jugoslawien, dann in Afghanistan und in weiteren Kampfeinsätzen mit mehr als 100 gefallenen deutschen Soldaten."

"In 40 DDR-Jahren habe nicht ein Soldat der Nationalen Volksarmee fremden Boden zu Kampfeinsätzen betreten. Undenkbar auch, dass ein Oberst der Nationalen Volksarmee wie jener der Bundeswehr in Afghanistan einen Befehl hätte geben können, in dessen Folge allein in einer Nacht mehr als 150 Zivilisten getötet wurden und der dennoch zum General der Bundeswehr befördert wurde. Niemand könne die Wahrheit aus der Welt schaffen, dass die DDR in der langen deutschen Geschichte der einzige Staat war, der nie einen Krieg geführt

hat. Allein das rechtfertigt, sich ihrer mit größtem Respekt zu erinnern", forderte der 82 Jahre alte, studierte Pädagoge Krenz.

Zurückgreifend auf die Gründung der DDR sagte er, es hätte die DDR nie gegeben, wenn nicht zuvor der Separatstaat Bundesrepublik geschaffen worden wäre. Unter dem Strich sei die DDR nach der Wiederbelebung kapitalistischer Verhältnisse in Westdeutschland und dem Aufstehen alter Nazis die einzig vernünftige Alternative zu einem Deutschland gewesen, das für zwei Weltkriege und die grausame faschistische Diktatur verantwortlich war.

Tatsächlich stamme das Szenario für den Umgang des westdeutschen Staates mit den Ostdeutschen seit der Wende "schon aus einer Zeit, als die DDR noch gar nicht existierte, als sie all die Untaten, die man ihr heute zuschreibt, noch gar nicht vollbracht haben konnte", so Krenz. Dabei nahm er unter anderem Bezug auf die Aussage eines der Väter des Grundgesetzes während des Verfassungskonvents vom Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948. Der hatte gefordert, dass jeder, der sich "der Heimholung (der Ostzone) mit allen Mitteln" wiedersetze, "als Hochverräter zu behandeln und zu verfolgen" sei. Später habe dann Adenauer verlangt: "Das Wort Wiedervereinigung soll endlich verschwinden. Befreiung ist die Parole." Daraus folgerte Krenz: "Die Geburtsurkunde des Hasses auf die DDR war und bleibt der Antikommunismus", den Thomas Mann schon im vergangenen Jahrhundert "eine Grundtorheit" genannt hatte.

Krenz erinnerte mit einigen Beispielen daran, wie die politische Spitze der BRD im letzten Jahrzehnt vor dem Ende des Kalten Krieges und dem Mauerfall sich gerne mit "guten Beziehungen" zur DDR-Führung geschmückt hatte. Schließlich sei es Helmut Kohl gewesen, der Honecker einen "zuverlässigen Partner" genannt habe, und sein Nachfolger Gerhard Schröder habe sich vom DDR-Staatsratsvorsitzenden regelrecht beeindruckt gezeigt. Hochrangige bundesdeutsche Politiker haben sogar nicht selten ein gemeinsames Foto mit dem SED-Generalsekretär als Hilfe in ihrem Wahlkampf genutzt. Das sei die Zeit gewesen, in der man dann "auch völkerrechtlich bindende Verträge geschlossen und 1987 gar das DDRStaatsoberhaupt zu einem offiziellen Besuch mit allen diplomatischen Ehren" empfangen habe.

Doch dann sei man 1990 zum irren Geschichtsbild der 1950er Jahre zurückgekehrt, das bis heute gilt und die politische Atmosphäre vergiftet. So habe der Ostbeauftragte der Bundesregierung in seinem Regierungsbericht auch dieses Jahr nur wiederholt, was seit 29 Jahren Standard ist, dass nämlich "an allem, was in der Bundesrepublik nicht funktioniert, die 'marode' DDR Schuld ist, die angeblich nur Verbrechen und Schulden in die Einheit

mitgebracht hätte", so Krenz, der im weiteren Verlauf seiner Rede die Behauptungen von einer bankrotten und zahlungsunfähigen DDR gründlich widerlegte, siehe diesen Link. Dieser Ostbeauftragte der Bundesregierung ist 1989 gerade einmal 13 Jahre alt gewesen. Dennoch erinnere er sich noch ganz genau daran, dass die Ostdeutschen das Pech gehabt hätten, "40 Jahre auf der falschen Seite der Geschichte gestanden" zu haben. Dieses Nachplappern geistloser Stereotype aus den Jahren des Kalten Krieges stimme nun aber keinesfalls mit den praktischen Erfahrungen sehr, sehr vieler Bürger aus der DDR überein, so Krenz. Wenn inzwischen nur 38 Prozent der Ostdeutschen die Vereinigung für gelungen halten und 57 Prozent sich gar als "Bürger zweiter Klasse" fühlen, müssten sich doch die Regierenden endlich mal fragen, wo dafür die Ursachen liegen.

Laut Krenz zeigen vorliegende Untersuchungen, dass nach 1945 in Westdeutschland lediglich 13 Prozent der Nazi-Kader aus Amt und Würden entfernt wurden. Nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik schickte die neue BRD-Herrschaft 85 Prozent der DDR-Eliten ins berufliche und damit nicht selten auch ins soziale Aus.

In seiner Rede ging Krenz noch auf viele weitere politische und geschichtliche Ereignisse über die Entwicklung der DDR zu einem der weltweit anerkannten Industriestaaten bis hin zu ihrem Untergang und den Folgen der Anschlusses 1990 bzw. ihrer feindlichen Übernahme durch die BRD, wie dieser Akt zunehmend von "gelernten" DDR-Bürgern bezeichnet wird.

Allerdings erkannte Krenz auch Fortschritte an, die seit dem Untergang der DDR gemacht worden sind. Er sagte: "Wir sind auch keine Ignoranten, die nicht sehen wollen, dass seit 1990 viel geleistet wurde. Wir glorifizieren die DDR nicht. Nein, wir sind wache Zeitgenossen, die Erfahrungen in zwei gesellschaftlichen Systemen haben und dadurch gut vergleichen können, was die DDR wirklich war und was ihr blinde Wut an Schlechtem andichtet."

Zum Ende bestand der letzte SED-Generalsekretär darauf, dass die DDR nicht gegen das eigene Volk regiert worden war. "Beim Werden und Wachsen der DDR gab es Siege und Niederlagen, Freude und Enttäuschungen, leider auch Opfer", stellte er fest. "So sehr ich diese bedaure, so bleibt es doch wahr: Die Geschichte der DDR ist keine Kette von Fehlern oder gar Verbrechen. Sie ist vielmehr die Geschichte eines Ausbruchs aus dem ewigen deutschen Kreislauf von Krieg und Krisen, eines Aufbruchs für eine tatsächliche Alternative zum Kapitalismus, eine Absage an Faschismus und Rassenhass, Antisemitismus und Russophobie!"

Die ungekürzte Rede von Krenz kann über diesen Link aufgerufen werden

 

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Aus: Ausgabe vom 18.02.2013, Seite 10 / Thema

Welle politischer Verfolgung

Über die ersten zwei Jahre nach der Annexion der DDR durch die BRD

Von Friedrich Wolff

ap

Politische Verteidigungen bildeten nach der Übernahme der DDR den Schwerpunkt der juristischen Arbeit: Friedrich Wolff mit dem 1992 von Rußland ausgelieferten ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in Berlin, 4.1.1993

Anfang März erscheint im Kölner Papy­Rossa Verlag nach »Verlorene Prozesse. Meine Verteidigungen in politischen Verfahren 1952–2003« (edition ost) ein zweites autobiographisches Buch von Friedrich Wolff. In »Ein Leben – Vier Mal Deutschland« gibt der Jurist und Kommunist Auskunft über sein Leben in der Weimarer Republik, im Faschismus, in der DDR und schließlich in der BRD. jW druckt einen Auszug aus dem Kapitel »Honecker-Anwalt 1990–1993« ab. Redaktionelle Zusätze sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet, Änderungen mit runden.






Im Januar 1992 hatten die Gerichte die zehn Jahre andauernden Prozesse begonnen, die als »Bewältigung« oder »Aufarbeitung« der DDR-Vergangenheit, »Verfolgung der Regierungskriminalität« oder des »SED-Unrechts« bezeichnet wurden. Es begann damit nach der strafrechtlichen Verfolgung der NS-Verbrechen, nach der Kommunistenverfolgung von 1949 bis 1968, nach der Verfolgung der RAF, die vierte Prozeßwelle politischer Strafverfolgung in der Bundesrepublik. Sieht man von der halbherzigen Verfolgung der NS-Verbrechen ab (selbst der BGH spricht von einer »insgesamt fehlgeschlagene[n] Auseinandersetzung mit der NS-Justiz«), so setzte sich nach dem 3. Oktober 1990 der seit Beginn des 19. Jahrhunderts andauernde, kaum unterbrochene Kampf der Justiz gegen die Linke in Deutschland fort. Das Landgericht Berlin fällte am 20. Januar 1992 das erste »Mauerschützen«-Urteil. Nach den Strafprozessen gegen Grenzer stellten Richter und Staatsanwälte der DDR die zweite große Gruppe von Angeklagten, denen »SED-Unrecht« zur Last wurden. Ihnen wurde Rechtsbeugung vorgeworfen.

An dem ersten Verfahren dieser Art war unsere Sozietät beteiligt, es endete mit einem Freispruch. Nicht alle politischen Prozesse waren verlorene Prozesse. Die Justiz mußte die Grenze des politisch und juristisch Machbaren bei der Verfolgung der DDR-Funktionäre finden. Allzu viel war schädlich, zu wenig sollte es aber auch nicht sein. Insgesamt wurden mehr als 100000 DDR-Bürger bis 1999 strafrechtlich verfolgt. Der Wille zur Verfolgung war also groß. Die Verfahren sollten bei ihrer Einleitung die Grundlage für die These vom »Unrechtsstaat DDR« liefern.

Der damalige Justizminister Klaus Kinkel hatte 1991 verkündet: »Das Unrecht in der früheren DDR darf und kann nicht verdrängt werden. Das System der Deutschen Demokratischen Republik muß auch in den Köpfen der Menschen delegitimiert werden.« Verurteilt wurden laut Generalstaatsanwalt [Christoph] Schaefgen bis 30. September 1999 jedoch nur 289 [ehemalige DDR-Bürger], davon wegen Rechtsbeugung 27, wegen »Gewalttaten an der Grenze« 98 und wegen »MfS-Straftaten« ganze 20. Das wurde den Ambitionen Kinkels nicht gerecht, das paßte nicht in die regierungsamtliche Konzeption der »Aufarbeitung« der DDR-Geschichte. Also verschwiegen es die unabhängigen Medien ebenso wie die Politik.

Man hat die Differenz zwischen der Zahl der Beschuldigten und der Zahl der Verurteilten als einen Beweis für die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren ausgegeben. Nur, selbst die geringe Zahl der Verurteilungen verstieß gegen elementare Rechtsgrundsätze wie das Rückwirkungsverbot oder den Grundsatz in dubio pro reo, im Zweifel zugunsten des Angeklagten. Die Mehrzahl der deutschen Straf- und Staatsrechtsprofessoren hielt deswegen diese Verfahren nicht für rechtsstaatlich. Die tatsächlich erfolgten Freisprüche und Verfahrenseinstellungen beruhten nicht auf rechtlichen Erwägungen, wie sie die Professoren angestellt hatten, sondern ausschließlich auf Beweisschwierigkeiten. (…)

Bahro: Anerkennung der DDR

Schon vor Beginn des Honecker-Prozesses, 1991, erhielt ich ein Schreiben von Rudolf Bahro, der in der DDR vom Stadtgericht Berlin 1978 wegen Geheimnisverrats zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden war. Sein Verteidiger war Gregor Gysi. Bahro war ein typisches Opfer der politischen Justiz der DDR. Er verhielt sich aber, wie man das von Opfern nicht erwartete. So schrieb er mir am 17. Dezember: »Schon irgendwann im Jahre 1990 hatte ich Rechtsanwalt [Wolfgang] Vogel, dessen Mandant Erich Honecker wohl damals war, erklärt, daß ich die eigentliche, die politische Verteidigung übernehmen möchte, wenn es zu einem Prozeß kommen sollte. Heute wäre ich noch tiefer als damals daran interessiert, in dieser Sache so öffentlich wie möglich das Wort zu ergreifen.« Dem Brief lag das Manuskript eines Beitrags bei, den Bahro am 28. November 1991 auf einer Diskussionsveranstaltung im Auditorium Maximum der Humboldt-Universität gehalten hatte und in dem er gegen die Anschuldigungen aufgetreten war, die gegen Heinrich Fink, den ehemaligen Rektor der Universität (1990–1992) erhoben wurden. Noch dezidierter machte Bahro seinen Standpunkt in einem Essay deutlich, den er am 21. Juni 1992 an den Spiegel schickte. (…)

Seine Meinung wollte der Spiegel nicht verbreiten. Halten wir nochmals fest, was Bahro erklärte: »Es geht um nichts anderes als die lange überfällige, aber nachträglich alles andere als überflüssige geistige Anerkennung der DDR, nämlich ihrer ganz unzweifelhaften historischen Legitimität.«

Bahro ist nicht das einzige sogenannte Opfer des DDR-Stalinismus, das sich gegen die Praktiken der strafrechtlichen Verfolgung der »DDR-Regierungskriminellen« aussprach. Herbert Crüger, zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren, Wolfgang Harich zu zehn Jahren und Walter Janka zu fünf Jahren verurteilt, verhielten sich entsprechend. (…)



Soweit die Meinungen von »Regimegegnern«. Das Mitglied des Politbüros Günter Schabowski wußte besser Bescheid. Ich sah und hörte ihn am 18. Oktober 1991 im Fernsehen und notierte: »Der Kapitalismus ist die bessere Gesellschaftsordnung, und der Untergang des Sozialismus wird helfen, ihn von den Makeln zu befreien, die er noch hat.« Die Opfer des Anschlusses wurden natürlich nicht gezählt, sie galten nicht als Opfer. (…)

Verteidiger Erich Honeckers

Die politischen Verteidigungen bildeten den Schwerpunkt meiner Arbeit. Das politische Umfeld hatte sich inzwischen dramatisch verändert. Am 23. August hatte ich in meinem Tagebuch notiert: »Die Welt steht Kopf. Was wird aus Erich Honecker, fragten mich Journalisten. Was wird überhaupt?« Jelzin war inzwischen Präsident Rußlands geworden, hatte 1991 die Kommunistische Partei der UdSSR verboten und schließlich die UdSSR aufgelöst. Die juristische Abrechnung mit der DDR und ihren Politikern brauchte keine außenpolitischen Rücksichten mehr zu nehmen. Ich sollte das bald zu spüren bekommen.

Noch im März 1991 war Honecker von der Sowjetischen Armee nach Moskau ausgeflogen worden. Ich kommentierte in meinem Tagebuch: »Es kam, wie es kommen mußte, der Prozeß gegen EH findet nicht statt.« Es kam wieder einmal anders, als ich dachte. Im November 1991 zeigte sich mir das eindrucksvoll, als ich nach einem Gespräch mit Rechtsanwalt Gunter Widmaier und Werner Großmann in Karlsruhe von dort unmittelbar nach Moskau fuhr, wo meine Westberliner Kollegen und ich uns mit Erich Honecker treffen wollten. Es war mein erstes Treffen mit Erich Honecker, nachdem er Beelitz verlassen hatte, es war überhaupt mein erster Besuch im neuen Rußland. Am Flughafen traf ich meine Kollegen. Margot Honecker holte uns mit zwei Wolga-PKW ab. Die Wagen befanden sich in einem maroden Zustand. Symbol für das ganze Land. Auch die Stadt selbst war verändert, kaum beleuchtet, heruntergekommen.

Wir fuhren in die Umgebung Moskaus, in eine Regierungsdatsche. Das Gelände war eingezäunt, das Haus, in dem Honeckers wohnten, für eine Datsche sehr geräumig. Eine Wachmannschaft wohnte wohl im Untergeschoß. Mittags wurden wir mit einem warmen Essen bewirtet. Es gab sogar, anders als sonst bei Honeckers, russischen Weinbrand. In unseren Gesprächen ging es um die juristischen Mittel gegen eine drohende Auslieferung. Wir hatten uns alle vorbereitet und entsprechende Ausarbeitungen mitgebracht, die wir übergaben. Das waren für mich neue Rechtsprobleme. Nie hatte ich zuvor mit solchen Fragen des Völkerrechts zu tun gehabt, wie der Immunität von Staatsoberhäuptern oder dem Asyl für politische Flüchtlinge. Nach unserer Unterredung wurden wir in ein neugebautes Hotel gebracht, ich glaube, es war ein Hotel der Lufthansa. Nach meinem Eindruck waren wir wohl die einzigen Gäste. Die Preise hatten Weltniveau. Genutzt haben unsere juristischen Bemühungen unserem Mandanten nicht. Politik ging vor Recht.

Politisch motivierte Urteile

Daheim in Deutschland liefen die ersten Prozesse wegen der »Regierungskriminalität« an oder standen unmittelbar bevor. Sie interessierten auch die Wissenschaft, denn sie warfen grundsätzliche rechtliche Probleme auf. Am 4. und 5. April 1992 veranstaltete die Fritz Thyssen Stiftung in Moritzburg ein Kolloquium mit dem Thema »Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung«. Durch Vermittlung des Professors der Humboldt-Universität, der meine Dissertation betreut hatte, erhielt ich dazu eine Einladung. Ich war neben einem leitenden Ministerialrat der einzige Praktiker im Kreis der Professoren oder Assistenten. Von den 25 Teilnehmern waren nach meiner Meinung sechs oder sieben Ossis. Alle lasen ihre ausgearbeiteten Vorträge vor. Ich las jedoch meinen Text nicht vor, sondern sprach, wohl entgegen dem mir unbekannten Komment, frei zu den von mir eingereichten Thesen. Während meine ehemaligen DDR-Kollegen sich zurückhielten, was ich ihnen nicht verübelte, da sie im Gegensatz zu mir alle hoffen mußten, in der BRD wieder verwendet zu werden, sagte ich meine Meinung offen. In der Publikation über dieses Kolloquium wird mein Beitrag wie folgt in dritter Person wiedergegeben:

dpa/Oliver Berg

Justizminister Klaus Kinkel (FDP, sitzend) legt 1991 den regierungsamtlichen Umgang mit der DDR fest: »Das System der Deutschen ­Demokratischen Republik muß in den Köpfen der Menschen delegitimiert werden.« (mit den CDU-Minister


»Er habe den Eindruck gewonnen, daß die unterschiedlichen Meinungen zu Fragen der ›Regierungskriminalität‹ auf unterschiedlichen Grundhaltungen beruhten, die wiederum bestimmte Intentionen hätten. Dabei verwende man teilweise ausgefallene, nicht nachvollziehbare Begründungsversuche, um zu bestimmten Ergebnissen zu gelangen. Die Diskussion leide häufig an fehlender Tatsachenkenntnis: So sei die Behauptung bestritten, Honecker habe 1974 angeordnet, bei Grenzdurchbrüchen von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch zu machen. Es sei daher illegitim, insoweit von einer unstreitigen Tatsache auszugehen. Auch habe er, der mehr als 30 Jahre als Strafverteidiger tätig gewesen sei, keinen Fall von Virusinfizierungen (so das Referat von Lüderssen) oder Folter erlebt. Überzogene Kritik dieser Art sei stets mit der Gefahr verknüpft, das Gegenteil zu bewirken.«

Anschließend an meinen Vortrag, der hier nur auszugsweise wiedergeben ist, hieß es laut Diskussionsbericht: »Hillenkamp dankte auch für diesen pointierten und provozierenden Vortrag.« Im Diskussionsbericht hieß es dann unter anderem weiter: »Justizsenatorin Prof. [Jutta] Limbach (Berlin) konstatierte einen deutlichen Unterschied zwischen dem Nazi-Unrecht und demjenigen der ehem. DDR. Gleichwohl lasse sich eine Ähnlichkeit der Verteidigung Wolffs mit derjenigen bei NS-Verbrechen nicht leugnen. Klarzustellen sei, daß es hier um keinen politischen Prozeß geht. Der Strafprozeß werde nicht für bestimmte politische Ziele mißbraucht, was im übrigen infolge des Untergangs der DDR auch nicht mehr möglich sei. Für die Kritik Wolffs, es habe den Anschein, ein Blinder urteile über die Farbe, habe sie durchaus Verständnis. Es gebe aber Möglichkeiten, sich sehend zu machen. Nicht billigen könne sie den Vorwurf, es finde eine übersteigerte Vorverurteilung statt. Sie habe vielmehr den Eindruck gewonnen, man sei noch zu naiv gewesen. Sie habe eine Vielzahl gravierender Unrechtsurteile kennengelernt. Allein in Berlin seien bereits (mit stark steigender Tendenz) 6804 Prüfungsverfahren wegen Rechtsbeugung anhängig.«

Aus heutiger Sicht kann ich hinzufügen, Frau Limbach hat später selbst anerkannt, daß es sich bei der Verfolgung von Regierungskriminalität um politische Prozesse handelte. Aus der »stark steigenden Tendenz der Rechtsbeugungsverfahren« sind bis 1999 wie erwähnt nur 27 Verurteilungen geworden. Auch sie halten rechtsstaatlichen Maßstäben nicht stand. Was die Möglichkeiten anbelangt, »sich sehend zu machen«, so hat die Politik den Bürgern diese Möglichkeiten nicht gegeben, denn sie hat keine Resultate der gerichtlichen Abrechnung mit der DDR publiziert, da diese sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht sehen lassen konnten. Jedenfalls nicht als Beleg für das Urteil »Unrechtsstaat«.

Selbstmorde von Riege und Fuchs

Das für meine berufliche Tätigkeit wie für mein damaliges Leben überhaupt bestimmende Ereignis des Jahres 1992 war natürlich die Auslieferung Honeckers von Rußland an die Bundesrepublik. Parallel dazu liefen die gleichfalls politisch herausragenden Verfahren gegen Werner Großmann und Hans Modrow. Überdies nahm mich auch der Prozeß gegen Markus Wolf anfangs noch in Anspruch. Hatten meine Westberliner Kollegen Becker und Ziegler sich mit mir in der ersten Jahreshälfte bemüht, die Auslieferung Honeckers zu verhindern, so stand die zweite Jahreshälfte im Zeichen unserer Bestrebungen, die Einstellung des Verfahrens zu erreichen.

Die neue Rechtssicherheit zeigte sich mir von einer unerwarteten Seite. Im Januar 1992 rief mich Vogel an. Nach der Mitteilung, daß gegen ihn 18 Ermittlungsverfahren liefen, sagte er auch, daß der Spiegel gegen mich sowie gegen einen mir bekannten Anwalt recherchiere. Derartige Vorwürfe waren an der Tagesordnung. Je bekannter eine Persönlichkeit aus der DDR war, desto mehr war sie dem Stasivorwurf ausgesetzt. Andere Vorwürfe gab es nicht, Mißbrauch von Kindern wurde nicht vermutet. Auch die Vorwürfe des Amtsmißbrauchs und der Untreue waren verschwunden.

Stasiverdacht wurde gegen Lothar de Maizière, Gregor Gysi, Manfred Stolpe und das Bundestagsmitglied Gerhard Riege geäußert, der sich deswegen das Leben nahm. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: »Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben. Sie ist mir mit der neuen Freiheit genommen worden. Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird und gegen die ich mich nicht wehren kann. Ich habe Angst vor dem Haß, der mir im Bundestag entgegenschlägt, aus Mündern und Augen und Haltung von Leuten, die vielleicht nicht einmal ahnen, wie unmoralisch und erbarmungslos das System ist, dem sie sich verschrieben haben. Sie werden den Sieg über uns voll auskosten. Nur die vollständige Hinrichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen.«

Die eingeleiteten Strafverfahren forderten gleichfalls Todesopfer. Der ehemalige Vorsitzende einer großen Strafkammer in der DDR, Otto Fuchs, der wegen seiner Mitwirkung an den Waldheim-Prozessen – 1950 wurden in Waldheim über 3300 Angeklagte wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der NS-Zeit verurteilt – der Rechtsbeugung beschuldigt wurde, nahm sich zusammen mit seiner Frau am 13. Februar 1992 durch Sturz aus dem Fenster das Leben. In einem Abschiedsbrief schrieb er seinem Verteidiger: »Ich versichere Ihnen, daß wir in meiner Strafkammer nur Kriegsverbrecher verurteilt haben, und bin mir sicher, daß wir uns über kein Urteil schämen müssen. Alle Zeichen deuten aber darauf hin, alles ins Gegenteil zu verkehren und in einem Schauprozeß mich zum Verbrecher zu stempeln. Ich glaubte, auch diesen Vorwürfen widerstehen und sie entkräften zu können. Leider habe ich feststellen müssen, daß ich sowohl körperlich als auch geistig diesen Anforderungen nicht mehr gewachsen bin. Ich muß auch die gesamte Situation berücksichtigen, wie sie sich in der Presse widerspiegelt, in der eine Vorverurteilung schon programmiert ist. Heute, nach einer langen Periode der Naziverbrechen, fühlen sich doch alle – und sind sie auch noch so schwer belastet – als völlig unschuldige Menschen. Die Verdrängung ging und geht ja so weit, daß Auschwitz als Lüge hingestellt wird. Wie einfach ist da eine individuelle Schuld zu leugnen. Zumal jetzt die Tendenz überall bemerkbar wird, alles nachzuholen, was man 1945 hätte aufarbeiten müssen. Unter solchen Bedingungen und der Vermutung, daß die Richter aus den alten Bundesländern kommen, wo die Nichtverfolgung von Naziverbrechen übliche Praxis war, ist für unsere Beurteilung solcher Verbrechen wenig Verständnis zu erwarten. Sie sind vermutlich auch junge Menschen, die den faschistischen Krieg mit seinen scheußlichen Verbrechen sich kaum vorstellen können. Nach gründlichen Überlegungen sind wir beide, meine Frau und ich, uns einig geworden, über uns selbst zu entscheiden. Wir haben gemeinsam unser bisheriges Leben gestaltet und wollen es auch weiter tun. Fuchs«

DDR gleich Faschismus

Die DDR war vor mehr als zwei Jahren untergegangen, aber die Verdammung des »Unrechtsstaats« nahm eher zu als ab, die Politiker, die Medien beschimpften ihn, als wäre er noch lebendig. Besonders die »Stasi« war (und ist bis heute) Ziel und Mittel der Schmähungen. Ständig wurde und wird die DDR mit Nazi-Deutschland verglichen. Spitze blieb bisher die Gleichsetzung von Bautzen und Auschwitz durch den damaligen Justizminister Kinkel. In Auschwitz wurden – so berichtet die Onlineenzyklopädie Wikipedia 1,1 Millionen Menschen umgebracht. In dem »Stasiknast« Bautzen sind weder nach Wikipedia noch nach der Stiftung Sächsische Gedenkstätten Häftlinge ermordet worden. Aber alles gleich. Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß die Institutionen des untergegangenen »Dritten Reichs« durchweg korrekt, also nie mit allgemein gebräuchlichen diffamierenden Abkürzungen bezeichnet wurden. »Nazi« kam nicht vor, Gestapo blieb Gestapo, Nationalsozialismus hieß weiter so und galt manchem als Beweis für die Verderblichkeit des Sozialismus.

Nichts war zu primitiv. Unglaubliche Lügen waren und sind an der Tagesordnung. Musterbeispiel: das »Stasi«-Gefängnis Hohenschönhausen. Keine einzige Verurteilung wegen Folter, nicht einmal eine Anklage, aber ganzen Schulklassen wird Hohenschönhausen auf Staatskosten als Beweis für Folter präsentiert, und es wird geglaubt. Fast jeder, der in der DDR gelebt hatte, stand – oder steht noch immer – unter Stasiverdacht. Ein bekannter Liedermacher aus der DDR, Reinhard Lakomy, sang: »Alles tutti, alles frutti, alles Stasi außer Mutti«. Von der Anwaltskammer war zu erfahren, daß 150 »Diplomjuristen« – so die Bezeichnung für die DDR-Juristen, die ihr Studium mit einem Diplom abgeschlossen hatten – auf Tätigkeit für das MfS überprüft werden sollten. Ein spezielles Gesetz wurde zu diesem Zweck am 24. Juli 1992 erlassen, das Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter.

Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Anwaltsvereins Busse bemerkt dazu, es stünde »in einem gewissen Widerspruch zu der im Einigungsvertrag getroffenen Entscheidung, im Gegensatz zu Justiz und öffentlicher Verwaltung die Fortführung der Tätigkeit der DDR-Anwälte nicht von einer Überprüfung ihres Verhaltens während der DDR-Zeit abhängig zu machen, sondern es bei vor den vor dem 3.10.1990 ausgesprochenen Zulassungen zu belassen«.

In Berlin wurden von 727 Ost-Berliner Anwälten 636 überprüft, ich natürlich auch. Ergebnis: in vier Fällen wurde die Zulassung widerrufen. Große Unsicherheit, große Unruhe, kleines vertragswidriges Ergebnis. Mir wurde übrigens am 26. September 1994 von der Senatsverwaltung für Justiz mitgeteilt: »Die hier vorliegenden Erkenntnisse über Ihre Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR geben keinen Anlaß zu Maßnahmen nach dem Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen, Notarbestellungen und Berufungen ehrenamtlicher Richter.« Ich las ein gewisses Bedauern aus der Mitteilung.




 

Friedrich Wolff: Ein Leben – Vier Mal Deutschland, PapyRossa-Verlag Köln, 248 Seiten, 15 Euro – auch im jW-Shop erhältlich

 

 

RTDeutsch

Gesellschaft

Kirche und Religion in der DDR: Gespräch mit einem Experten

28.10.2019 • 06:15 Uhr

https://de.rt.com/20gr

Wie sah das religiöse Leben in der DDR aus? Wie waren die Beziehungen zwischen Staat und Kirche? Wir sprachen mit einem DDR-Experten für Kirchenfragen über das Verhältnis von Staat und Kirche im, wie er es nannte, "ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat".

von Hasan Posdnjakow

Manfred Manteuffel war zu DDR-Zeiten Referent für Kirchenfragen in der Stadt Rostock. Dabei handelte es sich sich um eine staatliche Funktion auf Kreisebene. Geboren wurde er in Danzig. In den Wirren des Krieges zog er nach Wismar, wo er auch die Schule besuchte. Er lernte den Beruf des Stahlschiffbauers und war in seiner Jugend in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) aktiv. In den 1950er-Jahren wollte die DDR angesichts der Gründung der NATO und der Wiederbewaffnung der BRD eigene Streitkräfte aufbauen. Also wurde Manteuffel zur Marine abkommandiert. Dort wurde er für die Offiziershochschule geworben. Er war als leitender Ingenieur tätig und nahm an Minenräumarbeiten teil, unter anderem vor Rostock. Danach war er auf Raketenschnellboten tätig. Anschließend studierte er in Greifswald Philosophie, wo er sich intensiv mit Religionsfragen auseinandersetzte. In Rostock zurückgekehrt arbeitete er anschließend als Philosoph bei der Marine. Nach 38 Dienstjahren wurde er seitens des Rostocker Oberbürgermeisters zum Referenten für Kirchenfragen in der Hansestadt berufen. 

Mehr lesen:Die Schuld der DDR? Alternative zu Kapitalismus und Krieg

 

Die Kirche in der DDR war an sich, das sagte Gysi* als Staatssekretär für Kirchenfragen sehr deutlich, in Europa eine vorbildliche Kirche. Das Verhältnis von Politik, Staat und Kirche funktionierte in der DDR gut", sagt Manteuffel. "Gysi sagte, Staat und Kirche in der DDR müssen zwar getrennt sein, aber miteinander funktionieren. Das hat auch gut funktioniert. Die DDR-Regierung hatte in den Kreisstädten Leute, die für Kirchenfragen zuständig waren, sie nannten sich Referenten für Kirchenfragen."

*Der Vater des späteren Linken-Politikers

Manteuffel pflegte das Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Er hatte "keine Probleme mit Rostocker Pastoren" – von denen es über 50 gab. Er bemühte sich, sagt er, sicherzustellen, dass die Kirchenvertreter eine enge Beziehung zur Stadt und zum Bezirk hatten. Man traf sich einmal im Monat mit ihnen im Rathaus und unterhielt sich über die Probleme der Stadt. Die Pastoren seien davor immer etwas auf Distanz gegangen. Durch diese regelmäßigen Treffen wurde dies Manteuffel zufolge überwunden. Er nahm auch Außentermine gemeinsam mit Kirchenvertretern wahr. Sie besuchten etwa zusammen die Rostocker Werft oder das dortige Fischkombinat. Ziel solcher Termine sei es gewesen, den Pastoren zu zeigen, wie das Leben der Kirchenmitglieder – in erster Linie Arbeiter – außerhalb der Kirche aussieht.

 

Besonderen Wert habe man darauf gelegt, dass Staat und Kirche sich nicht anfeindeten, sondern zusammenarbeiteten, wo sich Möglichkeiten boten, etwa in der Frage des Friedens. In anderen sozialistischen Staaten, etwa in Polen und Ungarn, hätte es andere Ansätze gegeben. Manteuffel sei stets für diese Fragen zugänglich gewesen. Man habe aber dennoch darauf geachtet, eine gewisse Distanz zwischen Staat und Kirche zu wahren. Mit den evangelischen Pastoren habe Manteuffel ein gutes Verhältnis gepflegt. Die katholischen Pfarrer hingegen hätten keinen engen Kontakt zum Staat gesucht.

Hasan PosdnjakowWelche Rolle haben die Religionsgemeinschaften im öffentlichen Leben der DDR gespielt?

Manfred Manteuffel: Es kam darauf an, worum es ging. Der Staat hielt sich aus den kirchlichen Angelegenheiten raus, und die Kirchen wiederum aus dem Staat. Wir in Rostock haben zum Beispiel viel für den Kirchenbau in Rostock getan. Wir hatten aber wenig Geld. Die Westkirchen waren dagegen steinreich. Die haben Zuschüsse gezahlt. Wir haben die Kirchen aber nicht außer Acht gelassen. H. P.: Welches Verhältnis hatte die Regierungspartei SED zu den Kirchen?

M. M.: Es war sehr differenziert. Im Ostseebezirk hatten wir ein gutes Verhältnis zu den Kirchen und Pastoren. Hier gab es keinen großen Streit. In der DDR insgesamt war das sehr unterschiedlich. Wenn ich mit Leuten zusammenkam, die eine ähnliche Funktion hatten wie ich, da haben sie nur gesagt: "Der Manteuffel muss ja nicht richtig laufen, weil er sich fast mit der Kirche verbrüdert." Ich habe mich nicht mit der Kirche verbrüdert. Wir sind alle unsere eigenen Wege gegangen. Aber im Interesse der DDR haben wir vor allem in Hinblick auf die Frage zu Krieg und Frieden zusammengearbeitet. Das hat uns geeint. Da ließen wir keinen ran. Es gab aber auch Leute, die sagten: "Ich bin Marxist-Leninist und habe mit der Kirche nichts gemeinsam." Das gab es auch. Für mich ist die Bibel eine interessante Geschichte. Das Neue Testament habe ich intensiv verinnerlicht, ohne daran zu glauben. Bei vielen anderen war das aber anders. Sie konnten mit der Bibel nichts anfangen.

 

H. P.: Wie wirkte sich die Teilnahme von Kirchenvertretern am Kampf gegen die Nazi-Diktatur auf die Beziehungen zwischen der DDR-Führung und den Kirchen nach 1945 aus?

M. M.: Das ist eine komplizierte Frage. Es gab zwischen Kommunisten und der Kirche während der Zeit des Faschismus gute Verhältnisse. Es gab aber auch Negatives, wie den Pakt zwischen dem Vatikan und Hitler. Sonst war das Verhältnis allgemein gesehen jedoch gut. Es gab zum Beispiel Anhänger des lutherischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der im April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet wurde, die sehr von den Kommunisten angetan waren. Für sie war der Kommunismus auch ein Ideal, eine Lebensart. In Wismar gab es zum Beispiel einen Vertreter von Bonhoeffer, Robert Lansemann. Er zum Beispiel sagte: "Für mich gilt die Kirche, die Religion, aber ich akzeptiere auch die Marxisten." Er wird noch heute in Wismar sehr verehrt. Es gab aber auch nicht wenige Pastoren, die gegen den Kommunismus waren.

H. P.: Vielen Dank für das Gespräch!

 

 

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Samstag, 09. November 2019, 12:00 Uhr
~12 Minuten Lesezeit

Das Geschichts-Projekt

„Erzähl mir deine Geschichte!“, lautet der Appell eines ost-west-deutschen Erinnerungsprojektes.

von Andrea Drescher, Katrin McClean
 

Foto: evadeb/Shutterstock.com

Die Autorinnen Katrin McClean und Andrea Drescher sammeln Geschichten von Menschen aus Ost und West, die vor 1989 im geteilten Deutschland gelebt haben. Hier schreiben sie, wie es dazu kam und was sie damit erreichen möchten.

Katrin

Erst vor wenigen Tagen habe ich es wieder erlebt: Mein Mann und ich gehen in Hamburg essen, am Nebentisch zwei Frauen, die das Programm eines Filmfestivals vor sich liegen haben, neugierige, offene Menschen — so scheint es. Sie reden über dies und das und landen schließlich bei ihrer Sorge über „die Rechten im Osten“ und nun beginnt die eine der anderen — für uns gut hörbar — zu erklären, dass es aufgrund der Allgegenwärtigkeit der Stasi in der DDR nie zu einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gekommen sei. Sie hat das mehrfach gehört und gelesen, und deshalb muss es ja stimmen.

Vergessen die Tatsache, dass die Überwindung des Faschismus die grundlegende Ideologie des DDR-Sozialismus war, und dass fast alle Nazis vor den strengen Entnazifizierungsprogrammen im Osten geflohen waren.

Geleugnet, dass unsere Erziehung und Schulbildung zutiefst geprägt waren von der Erinnerung an die Opfer des Faschismus und an die Gräueltaten der Nazis, und dass man früher einmal genau das der DDR als „Propaganda“ vorwarf. Ignoriert, dass die Aufarbeitung der Nazi-Zeit zum DDR-Kulturgut gehörte, dass auch die Frage des Mitläufertums wieder und wieder Thema berühmter DEFA-Filme war. Nichts davon gab und gibt es für diese Frau an unserem Nachbartisch, für sie gibt es nur noch diese angelesene Behauptung, die sie mit wichtiger Miene wiederholt — und die mir die Sprache verschlägt, weil sie mit wenigen Sätzen mein ganzes Selbstverständnis für null und nichtig erklärt.

Solche und ähnliche Situationen erlebe ich als gebürtige Ostdeutsche wieder und wieder. Sie machen empfindlich, sie werden irgendwann unerträglich und sie fangen an, mein Verhalten zu prägen.

So geschehen auch in meiner ersten Begegnung mit Andrea Drescher beim ersten Pax-Terra-Musica-Festival. Wir kannten uns vorher schon über Facebook und kamen nun erstmals ins Gespräch.

Kaum hörte ich ein „Aber bei euch Ossis war das doch bestimmt so und so …“ von ihr, war ich schon fast „auf der Palme“, konterte aufgeregt: „Was weißt du schon …“. Und Andrea sagte: „Ja, woher soll ich es denn wissen? Erzähl es mir doch.“

Da war plötzlich ein ganz anderer Ton. Andrea will wirklich Fragen stellen. Sie will mir nicht erklären, was ich erlebt habe, so wie es so viele Westdeutsche immer wieder versuchen. Sie will es wirklich wissen, das Fragezeichen ist echt.

Das war unsere erste Begegnung. Und für mich der Anfang unseres Projektes, das wir hier dem Rubikon-Leser vorstellen wollen. Und weil es ein Projekt ist, in dem es ums Erzählen und um die Verständigung zwischen „Ossis und Wessis“ geht, wollen wir gemeinsam davon erzählen.

Andrea

„Unser Projekt“ ging für mich eigentlich in drei Schritten los — wobei Katrin erst ab der zweiten Phase eine Rolle gespielt hat. Phase 1 war mein eigener „Aufwachprozess“, der nun schon einige Jahre andauert. Als mir bewusst wurde, dass ich seit meiner Jugend bei sehr vielen politischen Themen durch Politik und Medien bestenfalls die halbe Wahrheit erfahren hatte, fing ich an, alles zu hinterfragen. Und wenn ich sage alles, dann meine ich alles. Eigentlich blieb nirgendwo mein altes Bild der Wirklichkeit erhalten. Alles stellte sich „irgendwie anders“ dar, nie ganz falsch, aber eben auch nie wirklich richtig. Seitdem bin ich überzeugt davon, dass es ganz viele Perspektiven der Wirklichkeit gibt — selbst wann man nicht belogen wird, was häufig genug auch der Fall war und noch ist.

Man sieht nur den Ausschnitt der Welt, den man gezeigt bekommt beziehungsweise den man, auf Basis der eigenen Erfahrungen und Lebenswelt, überhaupt bewusst zur Kenntnis nimmt.

Darum war ich bei Pax Terra neugierig auf Katrins Ausschnitte der Welt. Ich hatte inzwischen ja schon einige ostdeutsche Kontakte über Facebook näher kennengelernt und es war mir klar, dass da vieles war, was ich nicht kannte.

Phase 2 war für mich Katrins Rezension meines Buches „Wir sind Frieden“. Als sie schrieb, es gefiele ihr nicht, dass ich so wenige Ostdeutsche interviewt hätte, dachte ich: „Spinnt die?“ Ich bin ein Piefke in Ösiland. Ich denke doch nicht in solchen für mich „historischen“ Strukturen wie Ossi oder Wessi. Dieser Gedanke wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich wollte Menschen vorstellen, die etwas für den Frieden tun und wäre nie auf die Idee gekommen, dabei auf die Herkunft zu achten. Erst im Laufe unseres daraus resultierenden Mailverkehrs wurde mir klar, dass Katrin als „Ossi“ eben völlig anders sieht als ich und aufgrund ihrer Lebenserfahrung und Perspektive auf so etwas achtet.

Als wir dann eine Diskussion auf Facebook zu einem ähnlichen Thema hatten, schien es mir einfach wichtig, diesen Austausch auf etwas konkretere Füße zu stellen, eben Phase 3, zunächst nur unter uns. Wir fingen an, zu bestimmten Arbeitsthemen wie „Kindheit“, „Schule“ oder „Freizeit“ unsere Erinnerungen aufzuschreiben und einander zu schicken.

Ein Buch hatte ich natürlich schon im Hinterkopf, da ich ja schon mehrfach über Books on Demand publiziert habe. Dann kam die Idee, aus unserem Briefwechsel eine Lesung bei Pax Terra 2019 zu machen, in der wir die Besucher des Festivals einbeziehen könnten …

Ja und der Rest ist sozusagen eine „gemahte Wies‘n“, wie man in Österreich sagt. Ein Selbstläufer, einfach eine logische Konsequenz aus allem vorher. Wir machen die Einladung zum Mitschreiben nun öffentlich und suchen aktiv nach AutorInnen aus Ost und West.

Was ich aber witzig fand: In unserer Vorbesprechung zum Buch sagte Katrin, sie vermute, dass sie persönlich mehr Wessis als Ossis als Mitwirkende gewinnen würde.

Katrin

Ich bin 2001 nach Hamburg gezogen. Hier leite ich seit fast 20 Jahren Kurse für kreatives Schreiben und habe darüber sehr viele Menschen kennengelernt, die sich in ihrer Freizeit dem Schreiben widmen. Und das sind in Hamburg nun mal zum größten Teil Menschen mit westdeutscher Biografie. Es sind gerade diese Kurse, die für mich die Erfahrung bestätigen, dass jede Wahrheit mehrere Seiten hat. Und vor allem, dass alles Erlebte subjektiv ist.

Was man in Geschichtsbüchern liest, kann immer nur eine sehr grobe Darstellung von gesellschaftlichen Verhältnissen sein, in denen sich der Einzelne mit seinem Schicksal oft nur zum Teil, oder manchmal sogar nur zu einem ganz kleinen Teil wiederfindet. Trotzdem glaube ich, dass es wiederum nur die persönlichen Geschichten sein können, mit denen die große historische Geschichte jenseits von Zahlen, Daten, Fakten spürbar wird.

Und hier haben Andrea und ich schnell gemerkt, dass wir beide auch nur zwei ganz spezielle und eher untypische Vertreter aus Ost und West sind. Und das hat uns ziemlich bald auf die Idee gebracht, andere Menschen zu unserem Erinnerungsexperiment einzuladen. Schon jetzt hat unser Austausch meine Sichtweise auf den ehemaligen „Westen“ verändert und erweitert.

Mit den persönlichen Geschichten von Andrea werden mir Facetten und Brüche in der ehemaligen westdeutschen Gesellschaft deutlich, die ich bisher kaum wahrnehmen konnte. Vor allem wird mir deutlich, dass auch die BRD, in der Andrea gelebt hat, längst vergangen ist — fast genauso, wie die DDR vergangen ist.

Und natürlich finde ich, dass unser heutiger Medien- und Kulturbetrieb eine starke Selektion betreibt, wenn es um Erinnerungen an die DDR geht. Es geht fast immer um Stasi und um die Grenze oder vielleicht um Mangelwirtschaft.

Es ist ja richtig, dass davon erzählt wird, aber es gäbe so viel mehr über die DDR zu erzählen. Etwa vom Idealismus vieler Menschen in der DDR, die sich leidenschaftlich und aus vollster Überzeugung für eine bessere Gesellschaft einsetzen wollten. Überhaupt einmal davon, was Leben in einer Kollektivgesellschaft eigentlich bedeutete.

Ich habe neulich jemanden getroffen, der wusste nicht mal, wie man in einer entprivatisierten Wirtschaft einen Betrieb führen kann, also dass es da natürlich auch eine Betriebsleitung gab. Nur haben Betriebsdirektoren in der DDR eben kein Jahresgehalt in Millionen erhalten wie heute etwa ein Vorstandsmitglied, sondern ein Gehalt, das höchstens doppelt so hoch war wie das eines Arbeiters.

Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, warum die positiven Seiten der DDR nicht dargestellt werden, und warum alles daran gesetzt wird, sie zum „Unrechtsstaat“ zu erklären. Solche Bewertungen nützen vor allem denjenigen, die als Firmen- oder Anteilseigner über ein enormes Privatvermögen verfügen. Ihnen kommt es sicher entgegen, dass man eine Gesellschaft, die der Privatisierung von Gewinnen den Hahn abgedreht hatte, so düster und negativ wie nur möglich darstellt.

Gibt es eigentlich in Bezug auf die ehemalige BRD Dinge, an die man heute auch eher wenig erinnert? Momentan kann man ja fast das Gefühl bekommen, die BRD hat es vor 1989 überhaupt nicht gegeben oder zumindest hat sich nicht das Geringste verändert. Alles, was an Beiträgen zum bevorstehenden Jahrestag des Mauerfalls kommt, sind doch fast nur Geschichten über den Osten.

Andrea

Da muss ich dir leider zustimmen. Irgendwie ging in den vergangenen Jahren „meine“ alte Bundesrepublik verloren — mit ihren guten, aber auch mit ihren Schattenseiten. Ersteres bemerke ich immer in Diskussionen mit Ostdeutschen, die im heutigen neoliberalen Wahnsinn genau das wiederfinden, wovor sie immer gewarnt worden waren. Eine asoziale Leistungsgesellschaft, in der nur die Reichen ein sicheres Auskommen haben, die Masse der Beschäftigten aber bessere Lohnsklaven sind und durch den Druck von drohender Arbeitslosigkeit und Hartz IV keinen Widerstand wagen. Aufstiegschancen für die, die ganz unten sind: nicht vorhanden. Ausgrenzung, Obdachlosigkeit — die hässliche Fratze des Kapitalismus eben.

Aber das kannte ich bis zur Maueröffnung auch nicht — beziehungsweise nur in sehr geringem Ausmaß. Aus welchen Gründen auch immer — mir hat sich die BRD bis 1989 völlig anders dargestellt. Vielleicht auch nur, um den Menschen im Osten eine Illusion vorzuspielen, um das westliche System möglichst attraktiv zu präsentieren, um damit den Sozialismus zu Fall zu bringen. Ich sage „vielleicht“, weil ich das nur vermute, aber nie beweisen kann — auch wenn ich inzwischen überzeugt davon bin.

Die BRD vor 1989 war eine Gesellschaft, die mir — aus finanzschwachen Verhältnissen kommend — den sozialen Aufstieg problemlos ermöglicht hat. Zwar mit viel Arbeit — aber gut, das Leben ist bekanntermaßen kein Ponyhof. Aber es gab in meiner Vorstellungswelt keine wirklichen Grenzen meiner Möglichkeiten, während die Perspektiven für Hartz-IV-Kinder heute bestenfalls als düster zu bezeichnen sind. Einmal unten, immer unten. So fühlt sich Deutschland heute für mich an.

In einer Diskussion mit einer Ostdeutschen hörte ich vor ein paar Monaten: „Ich will mein ,Sozial‘ aus dem Sozialismus wieder haben“. Ihr konnte ich nur erwidern: „Und ich will mein ,Sozial‘ aus der Sozialen Marktwirtschaft wieder haben.“

Was mir aber auffällt: Viele „Wessis“ haben die Schattenseiten der BRD ziemlich gut verdrängt. Vom KPD-Verbot über den Radikalenerlass und Berufsverbote bis hin zu Alt-Nazis in den Parlamenten und Regierungsämtern bis in die 80er Jahre hinein. Dann die ganzen Neo-Nazis, gegen die man Widerstand leisten musste. Ob Republikaner oder DVU — das war alles andere als lustig. Wenn man heute so tut, als ob es Faschos nur im Osten gäbe, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Faschos stellten für mich in Hessen, wo ich groß wurde, in den 70ern und 80ern eine richtige Bedrohung dar. Mit 16 war ich auf meiner ersten Demo gegen Rechts, 1979 gab es das erste Rock-gegen-Rechts-Festival — wenn ich mich richtig erinnere. Und diese Rechten gibt es immer noch „hüben“ wie „drüben“. Thematisiert wird aber — meinem Empfinden nach — nur der „böse rechte Osten“.

Etwas, was mir erst in den letzten Jahren wirklich bewusst wurde: Man bot uns im Westen die „Möglichkeit“, Dinge zu verändern, im Gegensatz zum „bösen Osten“, wo der Staat angeblich alles vorgab. Aber heute denke ich, das war doch nur eine Illusion. Ändern konnten wir wenig bis nichts. Die damalige Öko- und Antikriegsbewegung führte zwar zur Gründung einer grünen Friedenspartei, die den Namen noch verdient hatte — aber was hat es letztlich gebracht?

Heute stehen grüne Politiker wie Joschka Fischer oder Marieluise Beck für Krieg beziehungsweise für einen kriegerischen Konfrontationskurs und es gibt eine grüne Machtelite, die sich über Pöstchen freut, Spenden von Rüstungskonzernen annimmt und die Rodung des Hambacher Forstes genehmigt. Die Demos gegen AKWs haben letztlich auch zu nichts geführt; zum Ausstieg kam es erst nach Fukushima — Jahrzehnte später — und nicht aufgrund der Proteste. Die Betreiber der Anlagen wurden und werden massiv subventioniert, auch die finanziellen Risiken wie etwa für die Atommüllentsorgung hat jetzt ja wieder der Steuerzahler übernehmen dürfen.

Die Umweltsituation hat sich aber bis zum Mauerfall — meinem Eindruck nach — im Westen etwas positiver dargestellt als im Osten. Das war wohl ein Kotau an die Umweltaktivisten. Im Vergleich zu Bitterfeld und ähnlichen Umweltkatastrophen waren die BRD-Regierungen durch die Grünen und die Straße etwas unter Zugzwang. Oder sehe ich das falsch?

Katrin

Die Umweltbewegung in der DDR war eine wesentliche Kraft bei der Gründung des Neuen Forums in der DDR, denn hier lag wirklich vieles im Argen. Auch dazu gibt es vermutlich einige interessante Geschichten. Wir haben jetzt schon eine Menge Themen angerissen, die auftauchen, wenn man einen offenen und unbegrenzten Rückblick wagt. Da aber unser eigener Erfahrungshorizont auch nur einen Ausschnitt unserer jeweiligen Gesellschaft umfassen kann, ist es an dieser Stelle wohl am besten, den Leser einzubeziehen. Wie haben Sie, lieber Leser und liebe Leserin, die Zeit vor 1989 erlebt?

Wir sind sicher: Jeder, der im Osten oder im Westen des geteilten Deutschlands aufgewachsen ist, kann konkrete Geschichten darüber erzählen, wie sich die jeweilige Gesellschaft persönlich für ihn oder sie darstellte. Und so lange etwas persönlich erlebt wurde, kann man nicht darüber streiten, ob es wahr oder falsch ist, denn Erlebnisse sind keine Meinungen, sondern als persönliche Geschichte ein Teil der deutsch-deutschen Geschichte.

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Samstag, 09. November 2019, 15:00 Uhr
~28 Minuten Lesezeit

Enttäuschte Erwartungen

Die Ostdeutschen hatten sich die deutsche Wiedervereinigung ganz anders vorgestellt.

von Stefan Korinth
 

Foto: insideportugal/Shutterstock.com

Im Rubikon-Interview berichtet der Berliner Soziologe Uwe Markus über das Stimmungsbild der DDR-Bevölkerung im Wendeherbst 1989, über den Wissensstand des Politbüros und über die falschen Einheitshoffnungen ostdeutscher Arbeiter.

Rubikon: Herr Markus, Sie haben als Sozialforscher in der DDR gearbeitet. Ihre Kollegen und Sie haben in den 1980er Jahren in Umfragen und Studien die Stimmung in der Bevölkerung erfragt. Wie sah diese denn im Wendeherbst 1989 aus?

Uwe Markus: Wer die Wendezeit erlebt hat, der kann sich an die Stimmung von damals sicher gut erinnern. Es war eine ganz eigenartige Mischung. Auf der einen Seite hat man gemerkt, es gibt in der Bevölkerung einen massiven Vertrauensverlust in die politische Führung und in deren Fähigkeit, sich auf neue Realitäten einzustellen. Es gab damals dieses geflügelte Wort des „Realitätsverlusts der Greise im Politbüro“. Dafür gab es verschiedene Indikatoren. Dazu gehörte, dass das Politbüro Glasnost und Perestroika ablehnte, die Zeitung Sputnik verbot und viele andere Dinge. Man hat Erich Honecker und anderen Herren, die dort Jahrzehnte an der Spitze standen, nicht mehr getraut.

Zudem gab es eine ganz massive Entfremdung von diesem Gesellschaftssystem und vom Staat, weil die Leute gesehen haben, dass viele Dinge nicht so laufen, wie erwartet. Dass die Versprechen, die immer gemacht wurden, nicht eingehalten wurden.

Es gab einen Perspektivverlust, das heißt, man konnte nicht mehr erklären, wo es in dieser Gesellschaft eigentlich hingehen soll. Man hat überall Erosionserscheinungen gesehen. Die Lebensqualität ging zurück. Die Politik konnte keine Antworten mehr geben. Das alles hat zu einem massiven politischen Überdruss geführt. Niemand hat dieser Führung mehr zukunftsgerichtete Politik zugetraut.

„Überall herrschte große Ratlosigkeit“

1987 und 1988 habe ich Untersuchungen in zwei großen Unternehmen durchgeführt. Im damaligen Kombinat „Fritz Heckert“ in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz. Das war ein großer Werkzeugmaschinenbaubetrieb. Und in Radebeul beim Unternehmen „Planeta“. Die haben Druckmaschinen produziert und waren weltweit sehr gut aufgestellt. In beiden Standorten habe ich mich mit der Entwicklung der Lebensqualität beschäftigt. Da ging es sowohl um die Arbeitsbedingungen als auch um das städtische Umfeld. Und mir konnte damals bereits von den dortigen Leuten mit Entscheidungsbefugnis niemand sagen, in welche Richtung es politisch und ökonomisch gehen sollte.

Man hat überall nur den Mangel verwaltet und versucht, Lücken zu stopfen. Die Lücken in den Unternehmen sind vor allem dadurch entstanden, dass Leute Ausreiseanträge gestellt und diesem Land den Rücken gekehrt hatten. Es gab überall eine recht große Ratlosigkeit. Es war erkennbar, dass man mit diesen ständig wiederholten Parolen aus Parteitagsbeschlüssen in der Praxis relativ wenig anfangen konnte.

Das, was 1989 eskalierte, hatte natürlich eine Vorgeschichte. Der gesellschaftliche Erosionsprozess begann Mitte/Ende der 1970er Jahre. 1972 gab es noch eine gewisse Aufbruchsstimmung, als Erich Honecker auf dem achten Parteitag sein Programm von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ vorstellte. Man hatte kurz den Eindruck, nun kann es mit der Entwicklung der Lebensqualität im Alltag vorangehen. Ein paar Jahre später hatte sich diese Euphorie sehr abgeschwächt.

Die Enttäuschung war groß, dass viele der postulierten Ziele nicht eingehalten wurden. Das lag auch an äußeren Faktoren wie dem westlichen Technologieembargo, der veränderten Lage auf den Weltmärkten, den Funktionsdefiziten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und den zunehmenden wirtschaftlichen Problemen der UdSSR. Aber es gab auch innere Faktoren wo sich Behörden im Weg standen, wo Entscheidungsprozesse zu schwerfällig, wo Entscheidungsstrukturen verkrustet waren. Und die DDR hatte nicht die Wirtschaftskraft, den notwendigen technologischen Umbruch in der Industrie weitgehend auf sich gestellt zu bewältigen.

„Der Staatsführung war die schlechte Stimmung sehr wohl bekannt“

Sie sprachen vom „Realitätsverlust der Greise im Politbüro“. War denen die extrem negative gesellschaftliche Stimmung tatsächlich nicht bekannt?

Es gab in der DDR etliche soziologische Analysen, die diesen gesellschaftlichen Zustand richtig abbildeten. Oft kamen die vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig. Aber es gab auch entsprechende Untersuchungen an der Akademie der Wissenschaften, bei der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee (ZK) der SED oder der Akademie der pädagogischen Wissenschaften.

Die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen waren zumindest den Wissenschaftlern bekannt und wurden diskutiert. Und die Forschungsergebnisse wurden auch den politischen Entscheidungsträgern zur Kenntnis gebracht. Das war ja der erklärte Sinn solcher Forschungsprojekte — Fehlentwicklungen zu erkennen und im politischen Prozess zu korrigieren. Tatsächlich war es ein Umsetzungsproblem. Man wusste also innerhalb der politischen Führung durchaus oder konnte zumindest wissen, in welche Richtung sich die Stimmung der Bevölkerung entwickelt. Man hatte aber weder die Kraft noch den Willen, entsprechende Reformen umzusetzen. Die Dynamik der Entwicklung wurde offensichtlich unterschätzt. Es gab eine Stagnation im politischen Entscheidungsprozess.

Das heißt, diesen Realitätsverlust in der DDR-Führung, von dem man oft hört, gab es nicht? Oder haben die entsprechenden Studien die oberste Führungsebene vielleicht gar nicht erreicht?

Doch, ich denke, die haben das gewusst. Ich habe damals an der GW-Akademie gearbeitet. Von dort gingen entsprechende Zusammenfassungen der empirischen Studien rüber ans ZK. Es gab die sogenannten Politbürostudien. Die waren genau für den obersten Führungszirkel gedacht. Die waren natürlich an vielen Punkten weichgespült. Die gingen durch etliche Filter. Aber jeder, der durch das Land gefahren ist, hat gesehen, was los ist und gemerkt, dass es viele Probleme gibt, die einer Lösung harren.

Teilweise mag man auf der obersten Führungsebene die Brisanz nicht erkannt haben, aber hauptsächlich oft war es wohl ein Entscheidungs- und Handlungsdefizit. Ich habe mich damals auch immer gefragt, warum da nichts passiert. Wir als Sozialforscher sind ja davon ausgegangen, dass es ein prinzipielles Erkenntnisinteresse der Führung gibt. Das ist ja auch der Sinn von empirischer Forschung, Informationen und Handwerkszeug zu liefern, damit Politik der Realität angepasst werden kann. Genau an dem Punkt passierte aber fast nichts. In der Führung gab es Tabus, an die nicht herangegangen werden durfte.

Welche zum Beispiel?

Die Subventionierung der Mieten, die Subventionierung der Nahrungsmittel, die ganze Frage der Preispolitik. Diese Bereiche wollte man einfach nicht antasten. Man wollte die Mieten nicht differenzierter gestalten. Es wäre dabei noch nicht mal unbedingt um eine Erhöhung gegangen, sondern um eine Differenzierung der Mietpreise je nach Qualität und Zustand der Wohnung. Die Subventionierung von Nahrungsmitteln hat teils zu Fehlentwicklungen geführt.

Also wenn Brot billiger ist als Viehfutter und das dann stattdessen ans Vieh verfüttert wird, dann muss man politisch reagieren. Aber an diese „heiligen Kühe“ der Subventionierung wollte man in der Staatsführung nicht heran.

Wie gesagt, es gab kein Erkenntnisproblem der Entscheidungsträger. Es gab unzählige soziologische Untersuchungen auch zur Frage der Wohnungsbauprogramme, zur Frage der Stadtentwicklung und so weiter. Da haben sich Leute die Finger wundgeschrieben und sich bemüht, dort etwas zu bewegen. Es ist aber nichts passiert und so entstand ein Problemstau, der nicht mehr ohne weiteres aufgelöst werden konnte.

Bevor wir gleich konkret zu den Umfrageergebnissen kommen, erklären Sie bitte kurz, wie arbeiteten DDR-Soziologen konkret. Wie wurden die Umfragen damals gemacht? Wo haben Sie genau gearbeitet?

Ich habe in Halle studiert und dort waren wir vor allem auf empirische Untersuchungen und Datenauswertung in der Industrie orientiert. Nach dem Studium bin ich 1985 als wissenschaftlicher Assistent an die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED gegangen. Dort kam ich in den Bereich Sozialstrukturforschung, wo es darum ging, die Entwicklung der verschiedenen sozialen Gruppen und ihrer Lebenslagen abzubilden. Also eine zentrale Frage war zum Beispiel: Wie wirken sich technologische Veränderungen auf die strukturelle Zusammensetzung der Gesellschaft aus. Das war damals ein großes Thema. Eine weitere Forschungsgruppe befasste sich mit Stadtentwicklung, eine andere mit der Entwicklung sozialer Strukturen auf dem Lande.

Ich war eingebunden bei einer Untersuchung in den Betrieben, wo es darum ging, unterschiedliche Technologieniveaus zu identifizieren und die gesellschaftlichen Konsequenzen des beginnenden technologischen Umbruchs zu beschreiben. Wir hatten in der DDR auf der einen Seite total veraltete Betriebe, wo mit Technik fast noch aus der Jahrhundertwende gearbeitet wurde, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Dann gab es ein mittleres Niveau und auf der anderen Seite auch High-Tech-Betriebe. Und wir haben Vergleichsanalysen zur sozialen Lage in diesen Unternehmen durchgeführt.

Und mit welchen Forschungsmethoden haben Sie Ihre Informationen gewonnen?

Unser Vorgehen unterschied sich nicht von den etablierten Methoden der empirischen Sozialforschung, die auch im Westen üblich waren und bis heute üblich sind. Also es gab zum einen große Bevölkerungsumfragen über Stimmungs- und Meinungsbilder. Das geschah mit standardisierten Fragebögen, deren Ergebnisse rechentechnisch erfasst und anschließend ausgewertet wurden. Dann gab es Fallstudien, etwa in bestimmten Betrieben oder Verwaltungseinheiten. Da hat man sowohl quantitative Methoden wie standardisierte Fragebögen benutzt, aber auch qualitative Methoden wie narrative Interviews, Experteninterviews oder Gruppengespräche angewendet.

Über diesen Methodenmix hat man als Forscher einen durchaus objektiven Blick auf die tatsächliche Stimmungslage in der Gesellschaft bekommen. Die zusammengefassten Ergebnisse sind in den politischen Entscheidungsbereich weitergegeben worden. Darauf, wie das dort dann reflektiert wurde, hatten wir natürlich keinen Einfluss mehr.

„Die Menschen haben in Interviews mit uns Klartext geredet“

Wie offen und ehrlich waren die Leute Ihrer Ansicht nach in den Interviews? Haben die ihrem Frust freien Lauf gelassen oder haben Sie gemerkt, dass da etwas zurückgehalten wird?

Mein Eindruck war immer positiv, also die haben offen gesagt, was sie dachten. Wir haben den Gesprächspartnern vorher verdeutlicht, dass die Interviews anonymisiert werden. Das haben wir auch eingehalten. Das ist eine Frage der Berufsethik. Es ist so gewesen, dass die Leute dankbar dafür waren, dass mal jemand gekommen ist und sich für ihre Probleme interessiert. Das ist so eine Art Seelsorger-Effekt, den man aus der Umfrageforschung schon seit langer Zeit kennt.

„Endlich hört mir mal jemand zu! Endlich werde ich als Individuum mit meinen Problemen, Ängsten und Hoffnungen wahrgenommen und kann die Dinge so darstellen, wie ich sie sehe.“

Und das haben die Leute auch sehr offensiv gemacht und haben alles benannt, was an Problemen auftrat. Egal ob es um die Arbeitswelt ging, um das kommunale Umfeld, um die Anzahl von Restaurantplätzen, um die Freizeitmöglichkeiten oder das ganze Thema Reisen. Da ist Klartext geredet worden. Die Interviews hatten für die Leute natürlich eine gewisse Ventilfunktion. Sie hatten auch Hoffnung, dass das, was sie sagen, in politische Entscheidungen einfließt und das Land weiterbringt. Das war ja auch für uns Sozialforscher immer die Motivation. Wir hatten die Hoffnung, dass wir durch solche Erhebungen Einsicht in der Politik erzeugen und das System besser und menschenfreundlicher machen können.

Auch im Wendejahr 1989 war die DDR-Sozialforschung aktiv. Sie haben die Studien und Zahlen ja vorliegen. Deuteten sich die Montagsdemos und andere Proteste des Herbstes vorher konkret an?

Ja, es gab entsprechende Untersuchungen auch schon in den Jahren davor. Ich will das mal an einem Beispiel konkret machen. Ein Freund und Kollege von mir, Rainer Thieme, hatte seine Dissertation geschrieben zum Thema „Antragstellungen auf ständige Ausreise — Versuche einer Bilanz aus soziologischer Sicht“. Er weist darin auf die stark erhöhte Zahl der Ausreiseanträge hin. Und da gibt es folgende Kernaussage: Bei der Mehrzahl der Fälle liegt die Ursache in einem „zunehmenden Auseinanderfallen von sich verändernden individuellen Bedürfnissen und den stagnierenden, sich teilweise rückläufig entwickelnden Realisierungsbedingungen“ dafür. Also die Leute kehrten dem Land den Rücken, weil offizielle Selbstdarstellung des Landes und die Alltagsrealität weit auseinanderklafften. Die Menschen sagten: „Hier wird sich auf absehbare Zeit nichts ändern.“

„82 Prozent waren über die Umweltsituation besorgt“

Es gab zum Beispiel auch eine Untersuchung im Bezirk Dresden im Frühjahr 1989. Darin gibt es folgende Aussage: „Dass sich auf wichtigen gesellschaftlichen Gebieten überwiegend oder nur Rückschritte in den 1980er Jahren vollzogen haben“, äußerten in Bezug auf die Versorgung der Bevölkerung 50 Prozent der Befragten. Hinsichtlich der medizinischen Betreuung meinten das 32 Prozent der Befragten. Rückschritte bei der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen beklagten 29 Prozent. Und bei der Effektivität der zentralen staatlichen Leitung sahen 26 Prozent erhebliche Probleme. 82 Prozent haben sich über die Umweltsituation besorgt geäußert. Der Verschleißgrad der Maschinen in den Betrieben wurde thematisiert, genauso wie der Verfall der Altbausubstanz — besonders in den Städten Meißen, Görlitz und Riesa.

Eine weitere Studie hieß „Soziale Probleme der Entwicklung von Städten und Dörfern in der DDR“. Das wurde auch in der Akademie veröffentlicht. Zitat daraus: „Nach Auffassung eines beachtlichen Teils der Befragten haben sich wesentliche Lebensbedingungen, die das Wohlbefinden und die Lebensqualität in unserer Gesellschaft beeinflussen, in den letzten Jahren verschlechtert.“ Das betraf insbesondere das Warenangebot. Hier konstatierten damals über 63 Prozent der Befragten eine Verschlechterung.

Die Umweltbedingungen: Knapp über 60 Prozent sahen eine Verschlechterung. Bei der Möglichkeit, sich für sein Einkommen etwas zu kaufen, waren es 44 Prozent, beim Niveau der Dienstleistungen 30 Prozent. Unzufrieden mit der Einbeziehung in die Weiterentwicklung des Wohngebiets waren 43 Prozent der Probanden und mit den Einkaufsmöglichkeiten 47 Prozent. Mit den Dienstleistungen und Reparaturen: 46 Prozent. Mit der Umweltsituation: 58 Prozent. Rund 15 Prozent der Befragten wurden als potenzielle Ausreisekandidaten eingeschätzt. Auch diese Studie ist 1989 abgeschlossen worden.

Gab es bestimmte Orte, wo die Unzufriedenheit besonders hoch war?

Sehr problematisch war es in Klein- und Mittelstädten. Dort gab es viel weniger Investitionen, viel weniger Wohnungsbau, weil die Kapazitäten dafür nach Ost-Berlin beziehungsweise in die Bezirksstädte abgezogen worden waren. Die Klein- und Mittelstädte waren abgekoppelt und besonders stark verschlissen. Dort wurde auch schnell die Abrissbirne eingesetzt, weil man die hohen Kosten für die Sanierung von Altbauten nicht tragen wollte und konnte. Dort waren auch die sonstigen Versorgungsverhältnisse ausgesprochen schlecht. In der eben genannten Studie steht zu den kleinen und mittleren Städten: „59 Prozent der befragten Bürger sind unzufrieden mit der allgemeinen Wohnungssituation im Wohnort, 54 Prozent mit der Entwicklung des Wohnortes in den letzten zehn Jahren.“ In solchen Städten hielten 49 Prozent der Befragten ihren Wohnort für unsauber, 26 Prozent für hässlich und 50 Prozent für langweilig.

„An der DDR-Stagnation war auch der Wirtschaftskrieg des Westens schuld“

Sie reden immer wieder von der Stagnation in der DDR. Können Sie aus soziologischer Sicht mal erläutern, was konkret die Gründe dafür waren? So dass Menschen, die nicht in der DDR gelebt haben, sich in die Zeit und Situation hineinversetzen können. Welche Alltagsmechanismen waren verantwortlich für die Blockade und Perspektivlosigkeit der Gesellschaft?

Ja, die DDR ist ja in den 1950er Jahren tatsächlich als sehr dynamische Gesellschaft aufgebrochen. Aus meiner Sicht gibt es vier entscheidende Aspekte, um Ihre Frage zu beantworten. Das erste sind wirtschaftspolitische Ursachen. Schon in der Gründungsphase hatte es einen Wirtschaftskrieg des Westens gegen diesen Staat gegeben — verbunden mit der Unterbrechung vieler traditioneller arbeitsteiliger Beziehungen. Also mussten neue Wirtschaftsstrukturen aufgebaut werden, um sich gegen westliche Störversuche — etwa im Bereich der Stahlerzeugung — abzusichern. Das erforderte erhebliche Investitionen, die anderswo fehlten. Hinzu kamen die Reparationen, die bis Anfang 1954 an die UdSSR zu zahlen waren. In einigen Bereichen hat sich die DDR von dem damaligen Aderlass bis zu ihrem Ende nicht erholen können.

Ab Ende der 1960er blieb die DDR technologisch immer mehr hinter der Bundesrepublik zurück. Diverse westliche Technologieembargos verstärkten diesen Trend bis in die 80er. Was man im Westen nicht kaufen konnte, musste man selbst entwickeln oder unter Umgehung der Embargos beschaffen — ein extrem kostentreibendes Unterfangen. Auch die technologische Schwäche der Sowjetunion in der Zivilwirtschaft und die Mängel des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) sind äußere Gründe.

Zudem gab es einen ökonomischen Investitionsstau. In den 1980er Jahren gab es nur noch Re-Investitionen in die Wirtschaft von zehn bis zwölf Prozent des jährlichen Nationaleinkommens. Das war eindeutig zu wenig und führte zu einem Verschleiß der Produktionsmittel, der Infrastruktur und zu extremen Umweltproblemen. Letzteres bewirkte weitere Einschränkungen der Lebensqualität. Wenn Sie sich den Bezirk Halle in Erinnerung rufen, diesen Chemiebezirk mit unzähligen Betrieben und deren Verschmutzungen von Luft und Wasser, dann können Sie niemandem erzählen, dass das positive Bedingungen für ein gutes Leben sind.

„Die DDR hat ihre Leistungsmechanismen selbst ausgehebelt“

Die zweite Ursache war eine sozialstrukturelle. Die DDR wollte massive soziale Ungleichheiten hinsichtlich der Bildungs- und Lebenschancen beseitigen, was ihr auch weitgehend gelungen ist. Das gehörte zum Selbstverständnis dieses Staates und war ein wesentlicher Legitimationshintergrund. Und das bleibt eine enorme historische Leistung. In der Gründungsphase wurde gerade über die Bildungspolitik viel für die sozialstrukturelle Öffnung der Gesellschaft und für den sozialen Aufstieg bislang benachteiligter Gruppen getan.

Die DDR war aber auch eine Industrie- und Leistungsgesellschaft. Sie musste sich über die Steigerungen der Arbeitsproduktivität entwickeln. Individuelle Leistung musste also zumindest teilweise Maßstab für Einkommen und Konsum bleiben.

Leistungsabhängige soziale Unterschiede waren in dieser Phase der Entwicklung unverzichtbar. Die Politik hatte aber sozialpolitische Ausgleichsmechanismen eingeführt wie die Angleichung von Löhnen und Gehältern unterschiedlicher Qualifikationsgruppen und diverse Sozialleistungen, die unabhängig von der individuellen Leistung zugänglich waren. Das bewirkte sukzessive eine zunehmende Statusangleichung der verschiedenen sozialen Gruppen. In der Soziologie spricht man von Nivellierung.

Diese Mechanismen verhinderten häufig, dass sich individuelle Leistung für den Einzelnen auch lohnte. Das Einkommen wurde tendenziell von der individuellen Leistung oder Qualifikation abgekoppelt. Also wenn ich beispielsweise als Ingenieur weniger verdiene als ein Facharbeiter oder als Wissenschaftler keine größere Wohnung als die zugewiesene bekommen kann, um mir dort ein Arbeitszimmer einzurichten, dann hat man persönlich ein Problem, sich in so einer Gesellschaft produktiv zu verhalten und seine Fähigkeiten einzubringen.

Es war immer Thema bei uns an der Akademie, wie sich massive soziale Ungleichheiten verhindern lassen, aber gleichzeitig maßvolle soziale Abstufungen genutzt werden können, um die Gesellschaft produktiver zu machen. Die Menschen müssen Anreize haben, sich fortzuentwickeln, sich zu qualifizieren, aufzusteigen. Diese Mechanismen wurden nicht im erforderlichen Maß genutzt, weil die politische Vorgabe lange Zeit hieß: „Wir wollen letztlich die klassenlose Gesellschaft“ und weil man meinte, sich diesem Fernziel über sozialpolitische Umverteilungsmechanismen nähern zu können.

„Der Zugang zu guten Waren war nicht von der Leistung abhängig, sondern von Westverwandtschaft“

Das Problem ging noch weiter: Wenn der Ausdruck der individuellen Arbeitsleistung das Arbeitseinkommen ist, dann muss die Wirtschaft auch entsprechende Waren und Produkte bereitstellen, die die Leute für das Einkommen in ihrer (Binnen-)Währung kaufen können. Nur dann ist der individuelle Wohlstand abhängig von dem, was ich beruflich leiste. Wenn es aber — so wie in der DDR — eine zweite Währung gibt in Form der D-Mark oder in Form der Forum-Schecks, dann ist der Zugang zu bestimmten attraktiven Gütern, die man damals im Intershop kaufen konnte, nicht mehr von der individuellen Arbeitsleistung abhängig, sondern davon, ob man Verwandtschaft in Westdeutschland hat oder nicht.

Die DDR hat also durch ihre soziale Nivellierungspolitik und die inoffizielle Akzeptanz einer zweiten Währung das eigene Leistungsbewertungssystem ausgehebelt. Wenn die Leute gesehen haben, es gibt bestimmte Waren nur im Intershop gegen „harte Währung“ und dass sie dort keinen Zugang haben, egal, wie sie sich anstrengen oder wenn jemand sieht, dass er nach einem Studium materiell schlechter gestellt ist als ohne Studium, dann funktioniert das alles nicht. Diese Probleme hatten Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft.

„Die Konsummöglichkeiten wurden immer mit denen der BRD verglichen“

Und der dritte Grund für die Stagnation war?

Das waren die großen Defizite in der Lebensqualität — also etwa der Zustand der Umwelt, der Zustand der Wohnungen, das Stadtbild, die Freizeit- und Reisemöglichkeiten. Habe ich die Chance, mal nach Paris oder woanders ins westliche Ausland zu fahren? Wenn das auf Dauer verunmöglicht wird, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern weil Verantwortliche meinen, die Leute bleiben „drüben“ und das soll verhindert werden, dann schafft der Staat latentes Misstrauen und die Leute fühlen sich bevormundet.

Zur Lebensqualität gehört natürlich auch die Frage der Konsummöglichkeiten. Das war ein Riesenproblem in der DDR. Gerade daran haben die Menschen immer wieder bemerkt, dass diese Gesellschaft bestimmte selbst vorgegebene Standards nicht erfüllen konnte. Natürlich muss man dazu wissen, dass die DDR-Bürger als Referenzsystem immer die Bundesrepublik im Kopf hatten. Das heißt der Konsum in der BRD war der Maßstab für die Zufriedenheit mit dem Konsum in der DDR. Auch die DDR-Führung hat so gedacht. Da hat man immer mit dem westlichen System gewetteifert. Und wenn man diese Maßstäbe übernimmt, muss man sich nicht wundern, dass man diesen Wettbewerb wegen der anderen Voraussetzungen nicht gewinnen kann.

Und die vierte Ursache ist die politische Gängelung und Entmündigung. Es gab starke Demokratiedefizite. Offiziell wollte man die Menschen einbeziehen, aber stellte das immer unter diesen engen politischen Vorbehalt. Das ging den Leuten auf die Nerven.

Die ständigen Parolen, die ständige Agitation, die ständigen Aufmärsche, die einseitig berichtenden Medien. Die Menschen haben sich dann lieber über westdeutsche Medien informiert, weil sie den Eindruck hatten, dort gebe es objektive Informationen. Das alles führte zur Entfremdung und zur Abkehr von diesem Staat.

Aber wie schon gesagt, das war der politischen Führung alles bekannt. Es gab kleinere Versuche, gegenzusteuern. Zum Beispiel beim Jugendfernsehen „elf99“ oder dem Jugendradio DT64. Es wurde dort Ende der 80er versucht, die jungen Leute anders anzusprechen und die Dinge offener zu handhaben. Gleichzeitig gab es Glasnost und Perestroika. Das zeigte den Leuten, es ist plötzlich möglich, über Dinge zu sprechen, die bis dahin tabu waren. Aber eine DDR-spezifische Diskussion der immer schwieriger werdenden Systemrealität fand offiziell nicht statt. Die Leute haben also der DDR innerlich gekündigt und sich ins Private zurückgezogen. Deshalb gab es Resignation und Stagnation.

„Mindestens ein Drittel der Leute sah keine Perspektive mehr“

Wie hat sich denn diese Resignation in Umfragen konkret geäußert?

Zur Perspektivlosigkeit gibt es ein schönes Zitat aus einer der vorhin genannten Studien: „Gerade auch bei jenen Lebensbedingungen, die die Werktätigen am kritischsten beurteilen, denen nach ihrer Meinung in der Politik eine höhere Priorität eingeräumt werden sollte, erwartet etwa ein Drittel der Befragten bis zum Jahre 2000 keine spürbare Verbesserung. Das ist umso schwerwiegender, als es sich hierbei um Themen und Probleme handelt, die die sozialistische Gesellschaft ohnehin schon seit vielen Jahren begleiten.“ Das ist eine Aussage aus der Studie von 1989.

Ein Drittel der Bürger hat Ende der 1980er keine Perspektive in der DDR gesehen. Viele haben dann mit den Füßen abgestimmt und es eskalierte ab Sommer 1989. Auch nach Honeckers Entmachtung kamen mit Egon Krenz und den anderen ja keine neuen Leute an die Macht. Die waren auch moralisch verschlissen. Da war bei den meisten Menschen die Schmerzgrenze erreicht und sie haben gesagt: Ich will das alles nicht mehr. Friedrich Schorlemmer, der damals als Bürgerrechtler aktiv war, hat das 1990 sehr schön auf den Punkt gebracht.

„Nach dem Desaster die Gegenreaktion. Kein Sozialismusexperiment mehr! nur allzu verständlich. Wer gibt die Garantie, dass wir nicht gleich wieder Versuchskaninchen einer großen Idee werden, wobei der gute, große Zweck wieder die bösartigen und kleinlichen Mittel rechtfertigen könnte ...“

Und genau das war die Stimmung eines Teils der damaligen DDR-Bürger, die sofort den Anschluss an die Bundesrepublik wollten und dazu im März 1990 die Allianz für Deutschland gewählt haben. Das waren 48 Prozent der Stimmen. Die sagten: „Keine Experimente mehr, ich will meine Lebenszeit nicht weiter vergeuden!“

Und das hat die Aufrufe Ende 1989, die DDR zu erhalten und zu reformieren, damals schon illusorisch gemacht. Auch viele Leute in der Bürgerrechtsbewegung haben schnell mitbekommen, dass große Teile keinen erneuerten Sozialismus, sondern den scheinbar einfacheren Weg der Anpassung an das Erfolgsmodell BRD wollten.

Wie haben Sie und Ihre Kollegen des Instituts im Wendeherbst reagiert? Konnten Sie dann noch arbeiten und wenn ja, was haben Sie getan?

Also im Prinzip passierte in der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, weil wir eine Parteieinrichtung waren, empirisch nicht mehr viel. Wir, also einige jüngere Leute, haben uns dann zusammengeschlossen und gesagt: „Wir machen jetzt Meinungsforschung. Wir haben alle Möglichkeiten.“ Ab November 1989 haben wir regelmäßig demoskopische Analysen durchgeführt. Das wurde später auch als Sammelband veröffentlicht. Wir haben die Wahlen demoskopisch begleitet, aber auch danach Stimmungsbilder erhoben, also etwa: Welche Erwartungen hatten die Leute an die Einheit?

„Das Bild der Bundesrepublik speiste sich aus Werbung und Verwandtschaftsbesuchen“

Bleiben wir gern dabei. Welche Erwartungen hatten die Ostdeutschen denn an die Einheit?

Die Mehrheit der Leute wusste nicht, was auf sie zukommt. Das Bild der Bundesrepublik speiste sich bis dahin im Prinzip nur aus dem, was die Leute aus der Werbung kannten und aus dem, was sie bei Besuchen im Westen gesehen hatten. Diese Wahrnehmungen waren euphorisch und selektiv. Man sah das Warenangebot, das Bild der Innenstädte und die Kleidung der Westdeutschen. Das war natürlich alles anstrebenswert. Was man auf den ersten Blick aber nicht sah, war, dass es auch in dieser Gesellschaft soziale Verwerfungen und Armut gibt. Dass das Leben im Westen beziehungsweise sich diesen Konsumwohlstand individuell zu sichern, mit sehr vielen Anstrengungen verbunden ist. Die Ostdeutschen wollten den Wohlstand auch, hatten im Hinterkopf aber natürlich noch ihre DDR-Sozialisation.

„68 Prozent der Ostdeutschen wollten 1990 das Volkseigentum beibehalten“

Viele haben sich eingebildet, man könne wesentliche Elemente der DDR beibehalten. Wir hatten in unseren Befragungen da aus heutiger Sicht ganz viele eigentümliche Aussagen dazu. Zum Beispiel was mit dem Volkseigentum passieren soll. Interessant ist zum Beispiel unsere Untersuchung aus dem Februar 1990.

Da waren 68 Prozent der Befragten der Meinung, dass das Volkseigentum als dominierende Rechtsform der Volkswirtschaft weiter bestehen bleiben sollte. 74 Prozent sprachen sich dafür aus, das private Betriebe nicht über die Größenordnung kleiner und mittlerer Betriebe hinausgehen sollten. 61 Prozent der Befragten stimmten in vollem Umfang zu, dass kommunales und genossenschaftliches Eigentum an Wohnungen weiter durch staatliche Subventionen vor dem Zugriff privater Vermieter geschützt werden sollte. Nur 14 Prozent waren dagegen. Da hat es ganz eigene Vorstellungen im wirtschaftspolitischen Bereich gegeben.

Aber auch im politischen Bereich. In derselben Umfrage haben sich 48 Prozent der Wähler in der DDR dafür ausgesprochen, dass der Prozess des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten schneller als der europäische Einigungsprozess verlaufen sollte und dass beide Staaten den Prozess der Vereinigung gleichberechtigt gestalten müssten. Für den unverzüglichen Beitritt der DDR zur BRD und für die Übernahme des bundesdeutschen Systems im Osten waren in dieser Studie nur elf Prozent. Der Rest ging von einer Art mehrjährigem Übergangsprozess aus. So klar und einfach wie Medien und Politik das heute darstellen, war es nicht. Einige wollten die schnelle Einheit, aber viele haben auch die Risiken gesehen.

„75 Prozent wollten 1990 die Auflösung von NATO und Warschauer Pakt“

Zu diesem Zeitpunkt gab es noch sehr viele Unklarheiten. Das war vor der Volkskammerwahl und man wusste damals auch noch nicht, ob sich die UdSSR mit der Entwicklung so einfach abfinden würde. Zu dieser Zeit haben auch 75 Prozent gesagt, dass NATO und Warschauer Vertrag abrüsten und letztlich vollständig aufgelöst werden müssten.

Ende Mai 1990, also kurz vor der Währungsunion, haben wir eine Umfrage speziell zu deutschlandpolitischen Themen durchgeführt. Da haben wir unter anderem nach den Gründen der Vereinigungsbefürworter für ihre Meinung gefragt. Die Antworten widerlegen einfache Erklärungsmuster von heute.

Von denjenigen, die die Einheit wollten, begründeten das 33 Prozent damit, dass sie sich als Deutsche fühlen und in einem einheitlichen deutschen Staat leben wollten. Die DDR hatte diesen nationalen Aspekt jahrelang unterschätzt. 20 Prozent sagten, sie wollen einen Lebensstandard erreichen, wie er in die BRD üblich ist. Ein weiteres Fünftel befürwortete vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und gemeinsamer kultureller Werte die Einheit. Acht Prozent meinten, dass sie in einem einheitlichen Deutschland bessere persönliche Entwicklungsmöglichkeiten hätten.

Wir haben auch die Gegner der Einheit gefragt, warum sie dagegen sind. Dort dominierte die Angst vor den sozialen Härten und der Wunsch nach einem eigenen Weg der DDR, da die Vereinigung nicht gleichberechtigt verlaufen werde.

„40 Prozent wollten eine völlig neue Verfassung für das vereinigte Deutschland“

Wir haben auch die Meinungen zur Verfassung des vereinten Deutschlands erhoben. 40 Prozent aller Befragten wollten für das vereinigte Deutschland die Erarbeitung einer völlig neuen Verfassung. 23 Prozent wollten ein modifiziertes Grundgesetz. 19 Prozent wollten es unverändert lassen, aber einige Sonderregelungen für die neuen Bundesländer einfügen. Nur acht Prozent waren für eine komplette Übernahme des Grundgesetzes ohne Änderungen und fünf Prozent wollten, dass die vom Zentralen Runden Tisch der DDR neu ausgearbeitete Verfassung für ganz Deutschland gelten sollte. Große Teile wollten auch eine Volksabstimmung über die neue Verfassung.

Daran sieht man, dass die Vorstellungen im Vereinigungsprozess ganz andere waren, als es dann gekommen ist. Das große Erwachen kam danach. Da hat man gemerkt, jetzt gilt das Grundgesetz, alles ist anders. Von einem gleichberechtigten nationalen Diskurs über das zukünftige deutsche Zusammenleben war keine Rede mehr. Das hat ernüchtert.

„Gerade die Gruppe der Arbeiter, die mehrheitlich die schnelle Einheit wollte, wurde zuerst arbeitslos.“

Im seinem Buch „Die Übernahme“ zitiert der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ebenfalls eine Umfrage aus dem Frühjahr 1990 (1). Darin wurden die Hauptängste der DDR-Bürger abgefragt. Da nannten die Menschen vor allem Umweltverschmutzung und steigende Kriminalität. Erstaunlich für mich ist, dass Arbeitslosigkeit ziemlich weit hinten rangierte. Ist diese Unterschätzung der realen Gefahren der Wiedervereinigung auch auf die DDR-Sozialisation zurückzuführen? In der DDR war Arbeitslosigkeit ja keine reale Bedrohung.

Das ist sehr interessant und korrespondiert mit den Ergebnissen der DDR-Volkskammerwahl 1990. Damals fuhr die Allianz für Deutschland besonders hohe Wahlergebnisse in den Südbezirken, in den Mittelstädten und im grenznahen Bereich ein, also in besonders vernachlässigten Gegenden der DDR. Hinzu kommt, dass 60 Prozent der Arbeiter Parteien der Allianz für Deutschland wählten. Diese Gruppe hat bewusst so gewählt, weil sie einen schnellen Anschluss an die Bundesrepublik wollte. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wenn man diesen Leuten damals gesagt hat: „Bei dieser Wahlentscheidung müsst ihr aber auch Arbeitslosigkeit akzeptieren.“

Da haben die einen ausgelacht und gesagt: „Was denn? Wir sind produktiv tätig, wir haben uns immer angestrengt, wir sind leistungsbereit. Gebt uns die anständigen Maschinen! Gebt uns die Westtechnologie und wir werden keinerlei Probleme haben!“

Man war damals der Meinung, dass Arbeitslosigkeit eher diejenigen trifft, die zu den Funktionseliten gehörten. Also Ingenieure, Verwaltungsleute und so weiter. Aber als nach der Währungsunion die osteuropäischen Märkte für die ostdeutschen Betriebe wegbrachen, weil man nun die Löhne in D-Mark zahlen musste und die Kunden in Osteuropa keine Devisen für den Import der ostdeutschen Produkte hatten, da hat die Arbeitslosigkeit genau die soziale Gruppe der Arbeiter getroffen, die zuvor mit ihrer Wahlentscheidung den unverzüglichen Beitritt der DDR zur BRD herbeigeführt hatte. Das ist einerseits paradox, andererseits aber absehbar gewesen.Der Deindustrialisierungsprozess ist vor allem zu Lasten der Arbeiter gegangen. Ihre Leistungsbereitschaft war unerheblich.

Ich nehme an, dementsprechend haben sich auch die Umfrageergebnisse in den folgenden Jahren gedreht.

Ja, es gab eine starke Verschiebung hin zu den existenziellen Themen. Aber ich persönlich habe mich in dieser Zeit eher auf Marktanalysen für große Unternehmen konzentriert.

Wie ging es denn mit Ihnen und Ihren Kollegen aus der DDR-Sozialforschung nach 1990 beruflich weiter?

Ich habe die Wendezeit für mich persönlich als große Chance gesehen, weil es plötzlich eine neue Freiheit der Forschung gab. Ich musste mir nichts mehr genehmigen lassen. Mir wurden die Zahlen sozusagen aus den Händen gerissen — von den Medien beispielsweise oder westdeutschen Marktforschungsinstituten, die alle damit beschäftigt waren, „den Ossi“ zu ergründen. Das war ja sowas wie der Yeti. Wir haben damals ziemlich schnell Angebote von westdeutschen Instituten bekommen, mit denen gemeinsam Marktforschung zu betreiben. Das haben wir auch erfolgreich getan. Für mich persönlich war das also sehr positiv.

„Die DDR-Soziologie wurde gnadenlos abgewickelt.“

Wenn ich mich aber umschaue, welcher DDR-Soziologe und welche Einrichtungen da noch übrig geblieben sind, dann ist das sehr überschaubar. Im universitären Bereich hat man die Soziologen im Lehrbetrieb gnadenlos abgewickelt und die Institute, die häufig als Vereine oder Stiftungen weiterarbeiteten, mussten schwer um Fördergelder kämpfen. Den DDR-Sozialforschern wurde im Nachgang aus dem Westen oft Systemnähe und methodische Rückständigkeit vorgeworfen. Das war völliger Unfug. Wir waren wissenschaftliche Exoten, die mit ihren Erhebungen und deren Ergebnissen den politischen Entscheidern oft lästig fielen. Natürlich ging es darum, das DDR-System zu verbessern und effizienter zu machen. Das mag man als Systemnähe denunzieren, es wird aber der damaligen Situation der empirischen Forschung in der DDR nicht gerecht.

Und hinsichtlich der Forschungsmethodik hatten wir zum Westen keinen Rückstand. Wir konnten sofort mit unseren Westpartnern kooperieren. Ich habe in den letzten 30 Jahren mit vielen Marktforschungsinstituten aus der Bundesrepublik zusammengearbeitet und habe oft festgestellt, wir im Osten waren in vielen Punkten methodisch weiter.

Zum Ende noch ein interessanter Punkt: Ihr Institut hatte im November 1989 auch Mitarbeiter zu den offenen Berliner Grenzübergängen geschickt. Was haben die bei den Gesprächen mit den DDR-Bürgern damals erfahren?

Unsere Interviewer sind zu den Mauerdurchgängen gefahren und haben versucht, Stimmungsbilder einzufangen. Das waren keine repräsentativen Umfragen. Unsere Leute waren da mit kurzen Fragebögen. Und das Ergebnis, das sie mitbrachten, zeigte im Grunde, dass die Ostdeutschen mal rüberfahren wollten, um zu sehen, wie der Westen ist. Die haben das genossen und gesagt:

„Endlich können wir das mal machen. Aber wir bleiben trotzdem in der DDR.“

Das war der Tenor. Sie wollten nicht abhauen, sondern nur mal rüber gucken. Das heißt auch, der Druck, der in den Jahren zuvor auf dem Kessel war, den hätte die DDR schon viel früher abbauen können. Man hätte den Leuten sagen können:

„Ja, ihr dürft reisen. Guckt euch die Welt an. Dann könnt ihr das mit der DDR vergleichen.“

Die Ostdeutschen an der Mauer haben am 10. November völlig entspannt reagiert. Das Wochenende stand an. Sie fuhren rüber, haben geguckt und kamen euphorisch zurück. Sicher sind in den Monaten danach die Ausreisezahlen gestiegen, aber die allermeisten haben in der DDR ihr Leben weitergeführt und sind zur Arbeit gegangen. Es hatte überhaupt nicht diese Dramatik, dass nun alle wegrennen.

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Samstag, 09. November 2019, 15:00 Uhr
~23 Minuten Lesezeit

Wende-Episoden

Die Geschichte der Übernahme der DDR durch Westdeutschland ist eine Geschichte verpasster Chancen für wirklichen Wandel.

von Peter Frey
 

Foto: Animaflora PicsStock/Shutterstock.com

Der Autor — ein Kind des Staates DDR — ist der Ansicht, dass jene Zeit, die heute als Wendezeit bejubelt und verklärt wird, viel mehr eine Zeit der verpassten Gelegenheiten für eine wirkliche Wende war. Als die Menschen in der DDR die großartige Möglichkeit erhielten, selbst über ihr zukünftiges System zu entscheiden — einschließlich des einzuschlagenden Weges —, verzagten sie und wählten den bequemen Weg, „übernommen“ zu werden.

Die Opfer der DDR blieben auch später Opfer. Für sich selbst vertraten und vertreten auch heute oft wie unbewusst viele dieser Menschen diesen Anspruch, vor, während und nach der sogenannten Wende vor allem Opfer gewesen zu sein. Doch was für eine Art von Wende war das? War es nicht letztlich eine kollektive Hinwendung zu dem, das heute für Ausbeutung und Krieg verantwortlich ist?

Viele Details jener ereignisreichen Tage, in denen der Untergang der DDR — bis dahin geführt als zentralistischer Staat mit einer streng ideologischen Ausrichtung und dem absoluten Machtanspruch der „Partei der Arbeiterklasse“ — eingeleitet wurde, sind aus der Erinnerung und damit dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Aus diesem Grunde habe ich mir die Mühe gemacht, tief in meiner Erinnerung zu graben, um jene Zeit aus einer autobiografischen Sicht lebendiger zu machen.

Wenn von einer aufbegehrenden Zivilgesellschaft gesprochen wird, die als Ursache für den Sturz der SED-geführten DDR-Regierung auszumachen ist, dann geht das — so meine ich — ein Stück an der Realität vorbei. Das ignoriert keinesfalls das Engagement von Einzelpersonen und Gruppen aus der Friedens- und Umweltbewegung sowie der Kirche, die sich seit Jahren für eine andere DDR einsetzten. Doch waren diese politisch aktiven Menschen bis zum Oktober 1989 eine kleine Minderheit — und blieben es darüber hinaus auch. Eine Veränderung der DDR, dem ein Wandel im öffentlichen Bewusstsein voranging, stand trotzdem an und hatte bereits begonnen. Die Ereignisse ab Sommer 1989 gaben diesem Prozess allerdings eine andere Richtung, eine für die wir DDR-Bürger immer empfänglich waren.

Aufstand mündiger Bürger?

Am Mittwoch, dem 4. Oktober 1989, kehrten wir — ein Kollege und ich — spät abends von einer LKW-Fernfahrt zurück und durchquerten die Dresdner Innenstadt. Wir verstanden nicht wirklich, was da vor sich ging. Der Bereich zwischen Prager Straße und Hauptbahnhof war — nach 22 Uhr war das damals völlig ungewöhnlich — mit unglaublich vielen Menschen bevölkert. An in überbordender Menge auftretende Polizei oder andere Sicherheitskräfte kann ich mich nicht erinnern. Es gab auch keine Straßensperrungen. Wir fuhren direkt am Dresdner Hauptbahnhof vorbei und durch dessen beide Brücken hindurch.

Direkt am Bahnhof sahen wir Massen von Menschen — zum imposanten Bahnhofsgebäude hin eine überschaubare Anzahl Polizisten, davor „andere Leute“. Wie gesagt, war uns in diesem Augenblick unklar, was da vor sich ging. Als wir nach Passieren der Bahnbrücken links auf die Strehlener Straße abbogen, staunten wir nicht schlecht.

Auf der gesamten Straße waren Dutzende, wenn nicht Hunderte Fahrzeuge kreuz und quer, also wild geparkt. Dutzende Menschen liefen — nur mit Beuteln oder kleinen Taschen ausgerüstet — in Richtung Bahnhof. Sie und bereits früher Gekommene hatten die Autos so sinnfrei abgestellt, weil sie nicht beabsichtigten, diese jemals wieder zu nutzen. Hier lief etwas nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“ ab, etwas das an eine Massenpsychose grenzte. Wir wussten nicht, dass sich Ähnliches — in etwas kleinerer Dimension — am Abend zuvor schon einmal abgespielt hatte. Die „Demonstranten“ am Bahnhof hatten in diesen Tagen nur eine Losung auf den Lippen: „Wir wollen raus!“ (1).

In dieser massenpsychologischen Befindlichkeit war kein Platz für Rationalität, für Abwägen und Reflexion des eigenen Tuns. Die Ausweisewilligen waren im wahrsten Sinne des Wortes im — per se emotionalen — Fluchtmodus und sie waren bereit, fast jeden Preis dafür zu zahlen. Sie waren auch bereit, sich und andere Menschen zu gefährden. Sie waren nicht Herr ihrer selbst.

Lassen wir an dieser Stelle offen, wie und warum es so weit gekommen war. Doch was den 2. bis 4. Oktober 1989 in Dresden betrifft, kann von einer Bürger- oder Demokratiebewegung, gar einer „friedlichen Revolution“ — der Begriff allein ist schon durchaus ein Widerspruch in sich — mitnichten gesprochen werden. An diesem, den 4. Oktober, ja selbst am folgenden Tag wussten wir noch nicht, dass die Gewalt keinesfalls von Polizisten ausgegangen war (2). Der Historiker Clemens Vollnhas meinte zu den damaligen Antrieben der „Revolution“:

„Die Kirchen waren keineswegs der Motor der Revolution. Der enorme Ausreisewille so vieler Menschen mit der Wut und dem Mut der Verzweifelten war die eigentliche Sprengkraft — und das unverhältnismäßige Reagieren des Staates darauf“ (3).

Was als unverhältnismäßig eingeschätzt werden darf, ist ein zweischneidiges Schwert und eine Differenzierung tut auch hier dringend Not. Der Dresdner Hauptbahnhof wurde am 4. Oktober 1989 von 20.000 Menschen belagert, von dem ein Teil versuchte, diesen zu stürmen. Die Polizisten, die sich im Bahnhof verbarrikadiert hatten und auf die Tausende Pflastersteine geworfen wurden, fürchteten um ihr Leben. Neben 46 verletzten Demonstranten, Ausreisewilligen und Randalierern wurden folgerichtig auch 106 verletzte Polizisten gezählt. Bei solch einem Verhältnis darf man zumindest kurz innehalten, wenn es um die Frage geht, wer die Gewalt vorantrieb (4).

In blinder Wut warfen gewalttätige Randalierer Steine nicht nur auf Polizisten, sondern auch auf völlig Unbeteiligte, so auf die Insassen einer Straßenbahn (5). Wenn Emotionen durchbrennen, können sich rasch Verhältnisse einstellen, wie man sie zum Beispiel in den Wochen bis Ende Februar 2014 auf dem Kiewer Maidan erleben musste. Foto- und Filmdokumente der DDR-Staatssicherheit belegen eine Orgie der Zerstörung, statt Demonstrationen gegen die DDR-Führung (6).

Wie gesagt, geht es mir hier nicht darum, Schuldige zu präsentieren, sondern den Lesern die Möglichkeit zu geben, gedanklich und emotional in die damaligen Ereignisse in Dresden einzutauchen. Als ich am 5. Oktober erstmals auf die Straße ging, hatte ich ein Wissensdefizit, das ich mit vielen anderen Demonstranten teilte. Wir wussten nichts über das Ausmaß an Gewalt, die sich an den beiden Vortagen ganz in der Nähe ausgetobt hatte (7). Heben wir uns noch kurz die Begründung auf, warum das von so großer Bedeutung ist.

Wir glaubten der damaligen Systempresse nichts mehr, auch nicht als diese über die Ereignisse vom Vortag berichtete:

„Wie das Transportpolizeiamt Dresden informierte, kam es im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten von zeitweiligen Regelungen des Reiseverkehrs zwischen der DDR und ČSSR in den Morgenstunden des gestrigen Tages durch rowdyhaftes Verhalten von Personen zu Störungen der öffentlichen Ordnung auf dem Dresdner Hauptbahnhof (...). Dabei ereignete sich ein Unfall, bei dem eine Person durch einen ausfahrenden Leerzug schwer verletzt wurde“ (8).

Das entsprach den Tatsachen. Der Mann versuchte, auf den fahrenden Zug aufzuspringen — was bekanntermaßen lebensgefährlich ist — und kam dabei mit einem Bein unter dessen Räder. Die Hysterie, die damals bei vielen Menschen ausbrach, hatte verschiedene Ursachen, die keineswegs nur in den desolaten Verhältnissen der DDR zu suchen waren.

Gelernte DDR-Bürger nahmen ihre Medien nicht mehr ernst und informierten sich über Westmedien. Dafür hatte das System in der DDR gesorgt, dessen Propaganda — verglichen mit der heutigen — einfach nur dilettantisch war. Das größte Problem aus meiner damaligen Sicht war die fehlende Offenheit in Bezug auf die unübersehbaren Probleme des Landes. Das pausenlose Schönreden des Arbeiter- und Bauernstaates kontrastierte mit der verfallenden Infrastruktur, Umweltverschmutzung und einer sich zunehmend verschlechternden Versorgungslage.

Anfang Oktober 1989 schlug diese Art der Propaganda auf den Machtapparat und seine Medien zurück. Wir glaubten ihnen nichts, rein gar nichts mehr. Aber es war eben nicht alles erlogen und erstunken, was sie da berichteten.

Hinzu kam in jenen Tagen eine unglaubliche Arroganz der DDR-Führung, die nämlich darauf bestand, dass die Fluchtwilligen — jene, die seit Tagen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag campierten — „ausgewiesen“, „ausgebürgert“ werden und zu diesem Zweck über das Gebiet der DDR ausreisen müssten (9, b1).

Diese völlig von der Realität abgehobene Forderung der DDR — durchgesetzt in Verhandlungen mit den Außenministerien der BRD, der UdSSR und der ČSSR — machte die folgenden chaotischen Zustände an der Eisenbahnstrecke der DDR erst möglich. An jenem Abend, als ich eine ferne Ahnung beim Vorbeifahren am Bahnhof bekam, fuhren noch vier proppenvolle Personenzüge — aus Prag kommend, mit dem bundesdeutschen Ziel Hof — ohne Halt durch den Dresdner Hauptbahnhof. Auf diese Züge wollten Tausende aufspringen — völlig irrsinnig.

Extrem verschärfend kam hinzu, dass die DDR-Führung — um dem Strom an Ausreisewilligen in Richtung der bundesdeutschen Botschaft in Prag Einhalt zu gebieten — die Visa-Freiheit im Grenzverkehr zwischen der DDR und der ČSSR aussetzte. Das war zwar nachvollziehbar, doch verstärkte es in vielen Menschen — mich eingeschlossen — das Gefühl, im Staat DDR eingesperrt zu sein.

Zudem empörte uns — Kollegen, Freunde und Verwandte — fast einhellig die Selektierung in der Berichterstattung der DDR-Medien auf Gewalttäter sowie die Art und Weise des Umgangs mit dem Problem, dass Abertausende Menschen das Land verließen. Wenige Tage zuvor — nachdem die Entscheidung gefallen war, die in der Prager Botschaft der BRD ausharrenden Menschen in die BRD ausreisen zu lassen — hatte Staatschef Erich Honecker über die DDR-Nachrichtenagentur ADN verlauten lassen: „Wir weinen ihnen keine Träne nach!“ (10).

Das sagte dieser zunehmend senile Mann im Angesicht der Tatsache, dass die DDR in Massen das Wertvollste verlor: ihre Menschen. Doch gab es da noch mehr.

Die Tatsache, dass man den eigenen Medien nichts mehr glaubte und im Gegenzug westlichen Medien fast alles abnahm, blieb für unser Denken, Fühlen und Handeln nicht folgenlos.

Wir hatten — und für viele trifft das heute noch zu — keine blasse Ahnung, warum, wie und welche Informationen durch westliche Massenmedien verbreitet wurden. Das führte dazu, dass viele Menschen zunehmend Angst vor einer „chinesischen Lösung“ bekamen.

Wir — mich eingeschlossen — glaubten an die Berichterstattung über ein angebliches „Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens“. Für viele Menschen war diese Angst Grund genug, mit der ganzen Familie auf abenteuerlichem Wege die Flucht aus der DDR zu wagen. Oppositionelle Jugendgruppen, wie auch die Bewegung „Neues Forum“, die vom Repressionsapparat der DDR verfolgt wurde, verbreiteten aktiv die Mär vom Massaker in Peking (11). Inwieweit sie ebenfalls der westlichen Propaganda aufgesessen waren oder ob sie eine bewusste, aktive Rolle für Interessen auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenze spielten, ist für mich offen.

Dass ein Machtapparat, wenn er in die Enge getrieben wird, zur Gewalt greift, ist keine sensationelle Erkenntnis und gilt systemübergreifend. Eine solche Gefahr bestand also in der DDR des Herbstes 1989 zweifellos. Doch die westliche Propaganda zu den Unruhen in China — die auch von kirchlichen Gruppen verbreitet wurde — spielte eine erhebliche Rolle beim Schüren von Ängsten (12). Wir waren schon damals sehr empfänglich für Propaganda und unterschieden uns da nicht von den „Brüdern und Schwestern“ im Westen.

Auch wenn ich mich nicht mit den Ausreisenden solidarisieren konnte — ich beurteilte ein solches Verhalten bereits damals als Flucht vor der Verantwortung —, so war es doch trotzdem das Hauptmotiv für mich, am nächsten Abend in die Stadt zu gehen. Dazu gesellten sich an diesem, meinem ersten Demonstrationstag Neugier, ja vielleicht sogar ein Hauch von Ahnung, dass diese Tage von besonderer Bedeutung werden würden. Nicht zufällig habe ich deshalb bis heute diverse Ausgaben des Dresdner Regionalblattes Sächsische Zeitung aus jener Zeit in meinem Fundus aufbewahrt.

Demonstration der anderen Art

Trotz der Uninformiertheit über das dahin in Dresden Geschehene war ich durchaus nicht naiv und wusste, dass die Teilnahme an Demonstrationen „außer der Reihe“ mit einem respektablen Risiko behaftet war. Man musste ernsthaft damit rechnen, verhaftet und für unbestimmte Zeit an einen für die Nächsten unbekannten Ort gebracht zu werden. Damals waren unsere Kinder gerade vier Jahre alt geworden und wir suchten eine Lösung, die auch diesen Schatz angemessen berücksichtigte. Deshalb entschieden meine damalige Frau und ich, wechselweise demonstrieren zu gehen. Das zogen wir bis zum Sonntag, den 8. Oktober durch.

Aber ohne Frage öffnete sich hier ein Ventil, um sich zu artikulieren — so wie knappe 25 Jahre später im Frühsommer 2014, als ich das erste Mal wieder eine Montagsdemonstration besuchte. Wobei „artikulieren“ nicht so recht beschreibt, mit welchen Vorstellungen man damals demonstrieren ging. Bis in das Jahr 1988 hatte ich an jeder Demonstration zum 1. Mai teilgenommen, als sehr junger Mann bekennend, später aus Opportunismus. Es machten schließlich (fast) alle so. Danach konnte man ja noch gemeinsam ein Bier trinken gehen. Aktive politische Teilhabe sieht anders aus.

1989 fand ich es — ich kann mich an dieses Gefühl tatsächlich noch gut erinnern — einfach sinnlos und ließ das Ereignis weg. Auch die Kommunalwahlen ließ ich weg. Das war kein mutiger Schritt in die Opposition, sondern nur ein nüchterner Entschluss, angesichts der Tatsache, dass es schlichtweg keine Rolle spielte, ob man wählt oder nicht. Letztlich entschieden sich doch eh immer 99,8 Prozent aller Wähler für die Kandidaten der Nationalen Front. Ich fand dieses Spiel albern und stieg aus. Mehr war da nicht (a1). Auch erlebte ich in der Folge keinerlei Repressionen als Folge dieses Entschlusses.

Die Psychologie der Gewalt

Viele der Szenen jener Tage, die sich dauerhaft in meinem Kopf verankerten, hatten — sowohl damals, als ich sie erlebte, als auch jetzt in der Erinnerung — surreale Züge. Wie fragil und irrational das Alles war, ist mir erst Jahrzehnte später richtig bewusst geworden.

Am Abend des 5. Oktober war ich Teil einer Masse Tausender Dresdner, die an den Vortagen weder demonstriert noch zu flüchten versucht oder randaliert hatten. Das Publikum hatte sich gewandelt. Doch war das anfangs weder uns noch der „anderen Seite“ bewusst. Beide Seiten hatten also ein Informationsdefizit.

Um zu verstehen, benötigen wir Wissen und Empathie. Ohne Wissen lässt sich unsere Empathie verführen und neigt zur Ablehnung auf der einen oder zum Solidarisieren auf der anderen Seite. Ohne Wissen werden Objekte eher als fremd und gesichtslos wahrgenommen. Wir nehmen ihre Menschlichkeit reduziert wahr. Das ist sehr gefährlich, weil sie auf diese Weise schnell als Feindbild erkannt werden können.

Ganz sicher — und das ist eben auch kein Sonderfall der DDR — tobten sich in jenen Tagen auch ideologisch fest gebriefte Überzeugungstäter aus dem Sicherheitsapparat an friedlichen Menschen aus. Doch nach den Ereignissen der Vortage grassierte in Dresden die blanke Angst — und das eben nicht nur bei demonstrierenden Bürgern. Ein Offizier der Volkspolizei erzählte:

„Am Bahnhof haben junge Kollegen um ihr Leben gebangt. Da hat kaum einer daran gedacht: Ich rette hier den Sozialismus. Wir dachten nur: Wenn hier Zehntausende in den Bahnhof reinkommen, werden wir gelyncht. Drinnen waren wir nur 200 Polizisten. Die Steine, die von draußen flogen, haben wir zurückgeworfen. Es hat sich hochgeschaukelt“ (13).

Wie werden Einsatzkräfte und deren Führung sich auf den nächsten Abend vorbereiten, nach dem sie solche traumatischen Erfahrungen gemacht haben? Dort standen Hunderte blutjunge Menschen in Reih und Glied vor uns, bewaffnet mit Schlagstock, Helm und Schild — einer Ausrüstung, die ich bei DDR-Sicherheitskräften zuvor noch nie gesehen hatte —, denen diese Angst regelrecht ins Gesicht geschrieben stand.

Einige von ihnen versuchten, sich dem Einsatz zu entziehen. Sie wurden mit Gewalt und Gebrüll von Offizieren, die hinter dem Kordon standen, wieder zurückgetrieben. Wir Demonstranten quittierten das mit Gejohle und Pfeifen. Eigentlich hatte keiner von uns einen richtigen Plan. Man gab sich betont locker und fühlte sich in der Menge Gleichgesinnter stärker und damit sicherer. Das Gefährliche war die konsequente Trennung zwischen den Einsatzkräften und Demonstranten.

Dadurch wurde auf beiden Seiten die feindbetonte Haltung beibehalten und gepflegt. Der explizit ausgedrückte Wille zur Verständigung war am 5. Oktober 1989 für mich nicht erkennbar und wurde auch nicht durch mich selbst gepflegt.

Und so erlebte ich diverse Provokationen, von denen jede Einzelne genügte, um das Fass zum überlaufen zu bringen. An meinem ersten Demonstrationstag schätzte ich die Anzahl der Demonstranten auf vielleicht 5.000. Damit kamen die Sicherheitskräfte gut zurecht. Ihr Auftrag lautete wohl in etwa: Demonstration auflösen und Rädelsführer festnehmen. Systematisch filetierten sie die Menschenmenge, schnitten so große Gruppen voneinander ab und bildeten sodann Kessel mit einem Kordon, als quasi „Abfluss“, aus dem die Menschen aus dem Kessel entweichen konnten.

Wenn es so weit war — Kessel gebildet und der „Abfluss“ offen —, schlugen Hunderte Gummiknüppel auf Schilde. Das machte den Polizisten Mut und uns Angst. Zweimal bin ich aus so einem Kessel entwichen und ich weiß noch heute, dass mein Herz bis zum Hals schlug. Innerhalb des „Abflusses“ prasselten die Hiebe von Gummiknüppeln auf uns ein und „Greifer“ zogen sich „Rädelsführer“ aus der Menge heraus. In diesen Situationen denkt man nicht mehr. Man funktioniert, erlebt dabei alles wie in einem Film und streift — mit Adrenalin zugedröhnt — die Angst aus dem Bewusstsein.

Danach fanden und sammelten wir uns wieder, und das Spiel begann von Neuem. Zwei Stunden genügten mir, um danach völlig erschöpft, aber gesund den Heimweg anzutreten. Unsere einzigen politischen Botschaften an jenem Tag waren nach meiner Erinnerung: „Keine Gewalt!“ und „Wir bleiben hier!“. Es kamen hinzu: „Wir sind das Volk!“ und „StaaSi raus!“ (a2).

Das war das — im Nachhinein — fast Normale dieser Tage. Irgendwann gewöhnte man sich instinktiv an den Verfolgungsdruck und wurde gewissermaßen gelassen. Dass das ohne schwerwiegende Folgen für uns verlief, war aber auch reines Glück. An jenem 5. Oktober erlebte ich auch Szenen, die mich daran erinnerten, dass dieses Spiel sehr, sehr ernst genommen werden musste. Schließlich wurden in jenen Tagen allein in Dresden mehr als 1.000 Menschen „zugeführt“: Randalierer, Verzweifelte und Menschen, die nicht weiter wie bis dahin ihr Leben in der DDR gestalten wollten.

Die Macht der Provokateure

Provokateure kapern Veranstaltungen und deren Botschaften für eigene oder beauftragte Ziele. Sie biegen über emotionale Trigger den Zweck einer politischen Kundgebung de facto um, entreißen den Initiatoren die Gestaltung. Sie schaffen eine Situation, eine Realität, über die nachfolgend berichtet werden kann und die den Zweck der politischen Kundgebung ersetzt durch die von den Provokateuren erschaffene Realität. Dann kann darüber auch im Prinzip wahrheitsgemäß in den Systemblättern berichtet werden und so war das auch damals in Dresden:

„In Dresden haben sich in den vergangenen Tagen größere Gruppen junger Menschen zu rowdyhaften, staatsfeindlichen und verfassungswidrigen Aktionen zusammengerottet. Sie verwüsteten Einrichtung und Anlagen auf dem Hauptbahnhof sowie in der Innenstadt, schrien antisozialistische Losungen und Beschimpfungen, die bis zur Mordhetze reichten“ (14).

Man stellte also einen für die Gemeinschaft unakzeptablen Zustand her und nutzte dann das Mittel der Kontaktschuld — alles kleine Helferchen, die wir auch im heutigen System antreffen. Am 5. Oktober habe ich einen Provokateur in Echtzeit erlebt. Er positionierte sich in Höhe des damaligen monumentalen Lenin-Denkmals zwischen Prager Straße und Hauptbahnhof und brüllte Parolen wie: „Schlagt die Kommunistenschweine tot“ und weitere, an die ich mich heute nicht mehr erinnern kann.

Dichtung und Wahrheit, Weglassen und das gewünschte Hervorheben zur emotionalen Ausrichtung des Rezipienten beherrschten auch Redakteure in DDR-Medien. Ganz einfach deshalb, weil solche Neigungen in jedem von uns angelegt sind! In der Sächsischen Zeitung klang das am 9. Oktober 1989 so:

„So grölten sie unter anderem ‚Schlagt die Kommunistenschweine und hängt sie auf!‘ oder ‚Wir wollen eine grüne Leiche sehen‘. In ihrer Zerstörungswut warfen sie mit Eisenstangen, Stahlkugeln und benutzten Luftdruckpistolen“ (15).

Dass dies geschehen ist, schließe ich nicht aus. Trotzdem vermittelt es ein grundsätzlich falsches Bild. Es vermischt — in Ermangelung weiterer Argumente — die Ereignisse vom 2. bis 4. Oktober 1989 mit den Demonstrationen der folgenden Tage, in denen all das auf keinen Fall mehr zutraf. Schon deshalb, weil ab dem Morgen des 5. Oktober keine Züge mehr Flüchtlinge durch Dresden gen Westen transportierten.

Aber den Provokateur, den gab es — ich habe ihn gesehen und gehört — und ein tendenziös gefasster Bericht kann ihn leicht als Teil der Bewegung verhackstücken. Wirklich beeindruckend war für mich jedoch etwas ganz anderes: Jedem von uns war sofort und instinktiv bewusst, dass dieser Mensch in der Rolle des Provokateurs auftrat und so bildete sich in kürzester Zeit zwischen ihm und den Teilnehmern der Demonstration ein Bannkreis der Leere. Der Mann war völlig isoliert, dem Schutz der Menge beraubt und mehr noch: Er wurde nicht festgenommen. Er war enttarnt.

Im Nachhinein werte ich auch die Szene, als man den Polizisten kleine DDR-Münzen — Pfennige oder Groschen — zuwarf und sie mit den Worten „Nimm deinen Judas-Lohn“ aufforderte, diese Münzen aufzuheben, als äußerst hässliche Provokation. Heute fühle ich mich ziemlich ungemütlich, wenn ich mich an mein blödes Lachen angesichts dieses zweifelhaften „Spaßes“ erinnere. Nun, damals war ich keine 30 und ziemlich unreif. Da liegt die Chance der Provokateure. Denn junge Menschen sind naturgemäß unreif und so am besten ausnutzbar.

Provokateure reden zuerst nach dem Mund, um eine Vertrauensstellung einnehmen zu können. Sie nehmen Witterung zur Stimmung auf, selektieren daraus deren destruktiven Elemente und verstärken sie sodann. Stimmungen stehen für Emotionen. Emotionen sind unterbewusste Signale unseres Ichs und nicht so ohne Weiteres kontrollierbar. Daher an dieser Stelle mein Appell: Hüten Sie sich vor Provokateuren, denn diese können in kürzester Zeit Konstruktivität in Destruktivität kippen lassen.

Mir sind die Strukturen des Sicherheitsapparates der DDR bis heute nicht im Detail bekannt. Innerhalb dieser waren Provokateure sicher ein legitimes Mittel. Wer sich provozieren ließ, war eben ein Rädelsführer und konnte „zugeführt“ werden, wie es damals hieß. Was aber auch bedeutet, dass im Prinzip JEDER hätte zugeführt werden können, weil auch jeder Mensch — gerade in einer aufgeheizten Atmosphäre auf seine spezielle Weise empfänglich für Provokationen ist. So war es dann auch. Denn die „Zuführungen“ erschienen mir willkürlich. Damals konnte auch einfach ein „dummes Gesicht“ genügen, um verhaftet zu werden.

Unauslöschbar ist mir eine Episode in Erinnerung, bei der — als ich sie erlebte — in mir wie ein Blitz der Gedanke hochschoss: Ist das nicht Faschismus?! Als nämlich in kaum 50 Meter Entfernung Sicherheitskräfte — immer zwei für einen — Menschen wie Stückgut auf einen LKW warfen. Auf diesem saßen Polizisten, Wehrpflichtige, wer auch immer, deren Stiefel auf diesen nun auf dem LKW halb liegenden, halb sitzenden Menschen standen. Als ich das sah, keimte in mir tatsächlich das erste Mal konkret der Gedanke, dass die DDR auf dem Weg in den Untergang ist.

Täglich demonstrierten nun mehr Menschen. Am Samstag, meinem zweiten Demonstrationstag schätzte ich die Anzahl auf etwa 10.000. Jeden Tag erfasste der Protest neue Stadtgebiete und jeden Tag wurden mehr Menschen verhaftet und verschwanden einfach. Es musste etwas geschehen.

Was ist Mut?

Gehen wir gedanklich zum Abend des 8. Oktober 1989 zurück und begeben uns auf die Dresdner Prager Straße. Im schwarzen Priestergewand steht auch der Kaplan Frank Richter inmitten Tausender Demonstranten. Das Prozedere der vergangenen drei Tage nimmt seinen erneuten Lauf. Die Menschen formieren sich, rufen ihre Forderungen, werden auseinandergetrieben, eingekesselt, Verhaftungen erfolgen, Gewalt tobt sich aus ... Wiederum formieren sich die Protestierenden und stehen den Polizeikräften erneut, wenn auch in respektvoller Distanz gegenüber.

Kurz nach 20 Uhr entschließt sich der Geistliche, diese Distanz wie auch seine Angst zu überwinden und geht allein auf die Polizeikette zu. Ruhig spricht er der Reihe nach mehrere der mit Helm, Schild und Stock Bewaffneten an und bittet sie, mit dem Einsatzleiter sprechen zu dürfen. Zunächst reagiert keiner, doch schließlich öffnet sich der Wall der Bewaffneten und lässt den Mann hindurch. Einer der Polizisten führt Frank Richter zu einem Mann in Zivilkleidung.

Diesen bittet Richter in einem ersten Gespräch, keine Gewalt anzuwenden, da solche auch nicht von den Demonstranten ausgeht und ausgehen werde. Danach drängt er auf „einen kompetenten Gesprächspartner von staatlicher Seite“ für ein weiteres Gespräch. Sein Erstkontakt heißt Detlev Pappermann und ist als Offizier der Volkspolizei bei einer Spezialeinheit tätig. Der zögert, geht dann aber auf den Wunsch Kaplans ein (16,17).

Eigentlich war es das schon: der entscheidende erste, mutige Schritt BEIDER Seiten, um die feindselige Distanz aufzulösen und für die anderen Vertrauen aufzubauen. Er war damit getan. Das können nur Menschen leisten, kein System, keine Struktur, keine Ideologie.

Frank Richter geht zurück zu den Demonstranten, die in der Nähe eines Springbrunnens ausharren. Als ob Teil der Dramaturgie, versiegt dieser und es tritt eine plötzliche Stille ein. In diese hinein, teilt Richter den Menschen mit, dass ein Dialog mit dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer zustande kommen könne. Er bittet um Mitstreiter, welche die Courage besitzen, an diesem Gespräch teilzunehmen. Es melden sich etwa 25 Personen, welche im Kern später die sogenannte Gruppe der 20 bilden werden. Der Beifall der Menge ist ihre Legitimation (18). Es wird in den nachfolgenden, turbulenten Wochen keinerlei Ausschreitungen mehr gegenüber friedlichen Demonstranten geben.

DAS ist das bis dahin Einmalige, das ganz Besondere und mich noch heute tief Bewegende jener Tage gewesen. In diesen Stunden wagten mündige Menschen, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Rolle im bestehenden System einen Neuanfang — einfach großartig.

Fazit

Niemand, der die damalige Zeit miterlebte, muss sich nach Lesen dieses Textes schlecht fühlen. Erstens beschreibt er zuallererst die Sicht des Autors und zweitens rückt er die Dinge in ein menschlicheres Licht. Denn wir sind per se keine Helden und eben so wenig sind wir Versager. Als Menschen leben wir den Alltag und arrangieren uns mit den Gegebenheiten. Wir sind keine Revolutionäre und auch nicht jeden Tag aufs Neue mutig bis zur Selbstaufgabe. Wir sind manipulierbar und in unseren Sehnsüchten oft sehr schlicht.

So die Helden vom Sockel und die Bösen aus der Verbannung holend, haben uns die bewegten Wochen im Herbst 1989 durch ein Fenster schauen lassen; ein Fenster, das wir durch unser eigenes Wollen geöffnet hatten. Für eine kurze Zeit sahen wir völlig neue, zuvor ungeahnte Möglichkeiten, die für ein tatsächlich selbstbestimmtes, verantwortungsvolles und in friedlicher Kooperation Probleme angehendes Leben Voraussetzung sind. Das ist der für mich lohnendste Aspekt, wenn ich mich an das erinnere, was heute — ich denke eher unpassend — als Wende bezeichnet wird.

Lassen Sie mich diesen Text mit einer Metapher beenden.

Dass die DDR damals nicht in einem Bürgerkrieg versank, hat sie ihren Menschen zu verdanken.

Keiner — weder die oben noch die unten — wollten so weitermachen wie bisher. Es benötigte Zeit, bis genug Mutige auf allen Seiten vorangingen und entschieden, den Karren DDR, so wie er beladen war, einfach nicht mehr weiter zu ziehen. Das ist etwas anderes, als den Karren umzukippen. Als es darum ging, diesen Karren zu reparieren oder neu aufzubauen, gewann rasch wieder die Verzagtheit die Oberhand. Deshalb wurde die DDR auch nicht übernommen. Sie verschwand einfach. Heute ziehen wir auch wieder einen Karren. Nichts muss, alles kann.

Bitte bleiben Sie schön aufmerksam.

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Samstag, 09. November 2019, 15:15 Uhr
~26 Minuten Lesezeit

Die Arroganz der Macht

Statt sich wegen seiner Großartigkeit selbst auf die Schulter zu klopfen, sollte der Westen endlich beginnen, den Ostdeutschen zuzuhören.

von Carsten Forberger
 

Foto: Pixelvario/Shutterstock.com

Der 9. November: Ein Datum, welches alles Widersprüchliche und Unvollkommene der deutschen Geschichte in sich vereint. Als ich 1973 das Licht der Welt erblickte, lagen zwei mit ihm verknüpfte Ereignisse, Novemberrevolution und Reichskristallnacht, bereits in ferner Vergangenheit. Und der nächste historische 9. November sollte noch 16 Jahre auf sich warten lassen. 16 Jahre, in denen ich eine typische DDR-Kindheit und -Jugend erlebte, die genauso widersprüchlich war wie der 9. November, dieses zum Schicksalstag der Deutschen gewordene Datum. Alles andere als geradlinig und widerspruchsfrei verlief dann auch die Zeit danach. Das eigene Erleben als geborener „Ossi“ kritisch zu reflektieren, es in die zugrundeliegenden historischen und gesellschaftlichen Prozesse einzuordnen und daraus schließlich Lehren für eine im Sein verankerte Lebensweise zu ziehen, ist alles andere als leicht und kann eigentlich nur scheitern. Ich möchte es dennoch nach bestem Wissen und Gewissen versuchen.

Abwesende Eltern

Während mein Vater seinen Wehrdienst am „antifaschistischen Schutzwall“ leistete und zum Glück nie in die Verlegenheit geriet, zwischen Gewissen und Schusswaffengebrauch entscheiden zu müssen, trat meine Mutter kurz nach meiner Geburt ihre erste Stelle als Lehrerin an einer neu gebauten Schule in einer auf der grünen Wiese errichteten Plattenbausiedlung an. Und so besuchte ich, wie die meisten Kinder meiner Generation, schon im Babyalter die Kinderkrippe.

Mütter im Konflikt

Ob eine Mutter in der DDR ihr Baby bereits nach wenigen Wochen in die Krippe brachte, war in den seltensten Fällen das Ergebnis einer selbstbestimmten Entscheidung zwischen dem Bedürfnis nach der Betreuung der eigenen Kinder und dem Interesse an beruflicher Verwirklichung, sondern eine doppelte Notwendigkeit. Einerseits benötigte die Gesellschaft der DDR alle zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, also auch Frauen. Und andererseits war für die Frauen in der DDR die Erwerbsarbeit ökonomisch notwendig, damit der Familie ein ausreichendes Einkommen zur Verfügung stand.

Ab 1976 hatten Frauen zwar die Möglichkeit, ein Jahr Erziehungsurlaub bei voller Lohnfortzahlung in Anspruch zu nehmen. Allerdings galt dies erst ab dem zweitgeborenen Kind. Das bezahlte Babyjahr bereits ab dem Erstgeborenen wurde gar erst 1986 eingeführt. Konkret bedeutete dies also, dass sich die Mütter aller vor 1976 geborenen Kinder und aller vor 1986 Erstgeborenen nach Ablauf der Mutterschutzfristen entscheiden mussten, ob sie auf ihr Einkommen oder auf die Betreuung ihrer Kinder verzichteten. In die Wendezeit schwappte folglich eine ganze Welle frühbetreuter Kinder und mit ihren Gewissenskonflikten beladener Mütter.

Fortbestehende Unterdrückung der Weiblichkeit

Dieses System der Abhängigkeit junger Mütter von der Erwerbsarbeit wurde ideologisch als Gleichberechtigung der Frau dargestellt. Tatsächlich aber rüttelte es nicht an den Wurzeln ihrer Unterdrückung, sondern modifizierte sie nach den speziellen Anforderungen, die sich im staatssozialistischen System stellten. Diese Wurzeln reichen zumindest in die frühe Neuzeit, in die Phase des allmählichen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, zurück.

In einem brutalen Prozess der Verdrängung des Weiblichen, der in den Hexenverfolgungen seinen sichtbarsten Ausdruck fand, wurde den Frauen die mechanistische Funktion zugewiesen, in Form von kostenloser Hausarbeit die Erwerbsfähigkeit des Mannes zu reproduzieren, ihn also täglich so aufzupäppeln, dass er physisch in der Lage war, fremdbestimmte Arbeit zu leisten. Männer wurden in Lohnarbeit und Frauen in kostenlose Reproduktionsarbeit gepresst. Darüber hinaus wurde die Frau in diesem Prozess der ursprünglichen Akkumulation des weiblichen Körpers auf ihre Funktion als Gebärerin zukünftiger Arbeitskräfte reduziert (1).

Während diese Rollenverteilung im Westen weitgehend erhalten blieb, kam für die Frauen im Osten hinzu, dass sie zusätzlich zur Hausarbeit selbst zur Lohnarbeit gezwungen waren und ihnen für die Gewinnung der hierfür benötigten Zeit die Kinderbetreuung frühzeitig und umfassend vom Staat abgenommen wurde.

Tatsächlich kann also von der viel beschworenen Emanzipation der Frauen in der DDR kaum gesprochen werden, soweit dies beinhaltete, dass Mütter ihre zum Teil kaum acht Wochen alten Babys in die Krippe bringen mussten. Ich vermag keinen gesellschaftlichen Fortschritt darin zu erkennen, Mütter und Kinder voneinander zu trennen und bis hin zur Entfremdung leiden zu lassen. Ich selbst benötigte lange Jahre und Hilfe von außen, um mich der schmerzlichen Einsicht zu stellen: Meine kindlichen Bedürfnisse, um mich psychisch gesund entwickeln zu können, wurden im System der sehr frühen Fremdbetreuung objektiv verletzt.

Natürlich bestanden die genannten ökonomischen und gesellschaftlichen Zwänge, in denen sich Frauen wie meine Mutter befanden. Dennoch ist es unabdingbar, die frühe Trennung der meisten DDR-Kinder von ihren Müttern als kollektive Traumatisierung einer ganzen Generation, mit allen bis heute wirkenden Problemen, zu begreifen.

Es wird viel darüber gesprochen, mit welchem Hass und welcher Gewalt sich gerade im Osten die Angst vor dem Verlust von Heimat, Tradition und Werten äußert. Es wäre interessant herauszufinden, in welcher Beziehung dies zur frühzeitigen Trennung der Betroffenen von ihren Müttern steht und ob das Fremde, in all seinen verschiedenen Facetten, letztlich nur ein Trigger ist, der die verdrängte Erfahrung der eigenen frühkindlichen Entfremdung schmerzlich weckt. Sicherlich lässt sich der sogenannte „Rechtsruck im Osten“ nicht monokausal als Folge der flächendeckenden Krippenerziehung erklären. Ein Teil der Erklärung dürfte sich aber hierin finden lassen.

Arme und reiche Provinzen im System der Megamaschine

Manch ein Leser mag sich an dieser Stelle fragen, was bis ins ausgehende Mittelalter zurückreichende Ausführungen über die Unterdrückung des Weiblichen in einem Artikel zu suchen haben, in welchem es vordergründig um persönliche Erfahrungen vor, während und nach der sogenannten Wende gehen soll. Mir war dieser Einschub jedoch wichtig, um exemplarisch zu verdeutlichen, dass auch der Staatssozialismus der DDR nur ansatzweise an dem rüttelte, was Fabian Scheidler die „vier Tyranneien“ nennt, welche die in den letzten 5000 Jahren hervorgebrachte „Megamaschine“ am Laufen halten.

Auch die DDR war, wie die Konkurrenz im Westen, ein auf physischer, struktureller und ideologischer Gewalt basierendes und im mechanistischen und anthropozentrischen Denken verhaftetes Herrschaftsmodell. Die DDR war zwar, was die soziale Frage betraf, der bislang fortschrittlichste Herrschaftsentwurf auf deutschem Boden. Unter der Geltung des Grundgesetzes wiederum verwirklichte sich bislang am umfassendsten die Freiheit des Individuums.

Die Symbiose von Gleichheit und Freiheit gelang aber keinem der beiden Systeme. Sie wird erst dann möglich sein, wenn alle Macht beseitigt ist.

Erst dann kann sich der Einzelne mit seinen individuellen Potentialen voll entfalten. Und da der Mensch, sofern seine Psyche nicht durch Macht und Herrschaft deformiert ist, ein soziales Wesen ist, bringt die volle individuelle Freiheit eine egalitäre Gesellschaft hervor.

Von daher war dieser weite Schwenk notwendig, um klar zu machen, dass ich DDR und BRD als Varianten innerhalb des Systems der Macht betrachte und damit beiden Entwürfen gleichermaßen kritisch gegenüberstehe. Damit dürfte auch für die folgenden Betrachtungen klar sein, dass es mir weder um billige Ostalgie noch um eine Rechtfertigung von Unrecht geht, unter dem in der DDR viel zu viele Menschen litten. Ich halte es mit Hans-Eckardt Wenzel, der so kurz wie treffend meinte, der Westen sei die andere Provinz, nur reicher.

Kindheit in der Gemeinschaft

Soweit also in der Herrschaftsstruktur der DDR die Gleichheit gegenüber der individuellen Freiheit weitaus höher bewertet wurde, bedeutete dies für mich als Kind, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Das klassische Westklischee verknüpft dies allein mit Zwang, Indoktrination, Kontrolle und Verleugnung der eigenen Individualität. Wie soeben ausführlich dargelegt wurde, gab es dies natürlich. Es bedeutete aber auch, dass ich als Teil einer Gemeinschaft von Kindern aufwuchs, die nicht auf den Prinzipien von Leistung, Konkurrenz und Selektion beruhte, sondern in der wir untereinander tatsächlich gleichwertig waren. Kinder waren nicht das Prestigeobjekt ihrer Eltern oder gar der krönende Schritt in deren Karriereplanung. Kinder waren einfach da und zwar sehr zahlreich.

Ich wuchs in einer typischen Plattenbausiedlung auf. All meine Klassenkameraden, mit denen ich zehn Jahre gemeinsam zur Schule ging, wohnten im Umkreis von wenigen hundert Metern in der gleichen Platte. Für uns spielte es keinerlei Rolle, wer oder was unsere Eltern waren. Nennenswerte materielle Unterschiede waren nur dann auszumachen, wenn jemand dank Westverwandtschaft etwas anderes anzuziehen hatte als den Einheitsbrei aus der HO oder wenn jemand seinen Sommerurlaub nicht an der Ostsee oder in der Dahlener Heide verbrachte, sondern in Ungarn oder gar in Bulgarien.

Freiräume in der Unfreiheit

Hatte ich dabei das Gefühl, in einer Diktatur zu leben? Das ist schwierig zu beantworten. Einerseits waren die Beschränkungen und Grenzen, denen man als Kind und viel bewusster als Jugendlicher in der DDR unterworfen war, offensichtlich. Man konnte nicht überall offen sagen, was man dachte. Freies Reisen war, mit Ausnahme der CSSR, noch nicht einmal in die sozialistischen Bruderländer möglich. Eine von der Propaganda der Partei- und Staatsführung abweichende Presse existierte nicht. Dass es in der eigenen Schulklasse, in der Hausgemeinschaft und sogar innerhalb der Familie Stasi-Spitzel geben konnte, war mir schon damals völlig klar. Aber gerade weil die Beschränkungen so offenkundig waren, lernte ich, kreativ mit ihnen umzugehen und die Nischen der Freiheit in vollen Zügen zu genießen und wertzuschätzen.

Ich hatte Freiräume, in denen ich mich mit meinen Freunden kreativ und ohne Vorgaben der Erwachsenen und des Staates ausleben konnte: Wir gestalteten den brachliegenden Schulclub neu. Heute ist er abgerissen. Wir bastelten uns unsere eigenen Skateboards und bretterten damit Pisten hinab, von denen unsere Eltern lieber nichts erfahren durften. Merchandisingprodukte unserer Lieblingsbands gab es nicht. Also bemalten wir unsere Klamotten selbst. Jeder, der seine Kindheit und Jugend in der DDR verbrachte, wird sich an dieser Stelle an seine eigenen Geschichten und Erlebnisse erinnern. Die offizielle Linie der Partei- und Staatsführung war in solchen Freiräumen nicht anwesend oder bildete allenfalls ein nicht mehr wahrgenommenes Hintergrundrauschen.

Ich wusste, dass ich Propaganda und Ideologisierung ausgesetzt war. Aber gerade weil dies kein Geheimnis war, sondern offen so benannt wurde, glaubte ich nicht alles, was mir erzählt wurde.

Propaganda ohne Propaganda

Die Jugend heute hat es da viel schwerer. Die Propaganda, die auf sie einwirkt, besteht vor allem in der Behauptung, dass es keine Propaganda gäbe, sondern dass Nachrichten der selbsternannten freien Presse objektive und wertneutrale Berichte über die Wirklichkeit seien. Das macht es ungleich komplizierter, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.

Dieser propagandalosen Propaganda waren natürlich auch schon meine Altersgenossen ausgesetzt, die in der BRD groß wurden. Und viele, ich fürchte sogar die meisten von ihnen, haben das bis heute nicht begriffen und fühlen sich deshalb dem „Ossi“ überlegen, der so blöd war, sich belügen und täuschen zu lassen, während man selbst in Freiheit und Wahrhaftigkeit aufgewachsen sei.

Tagesschau und Heute-Journal unterscheiden sich insoweit von der Aktuellen Kamera, als dass letztere wenigstens ganz offen zugab, die regierungsamtliche Sicht unter die Leute zu bringen. Tagesschau und Co. käuen auch im Wesentlichen die Sicht der marktkonform agierenden, also dem Kapital dienenden Regierung wieder, bezeichnen dies aber kontrafaktisch als freie und unabhängige Berichterstattung.

Ostdeutsche haben angesichts ihres Erfahrungshorizonts mit offener Propaganda viel eher ein Gespür dafür, wann sie belogen werden. Und deshalb trauen sie sich auch viel eher, das Offenkundige auszusprechen, nämlich dass der Kaiser nackt ist, während sich die noch immer nicht ent-täuschten Westdeutschen der Illusion hingeben, dass die bloße Bezeichnung als freie und unabhängige Berichterstattung bedeute, dass dem auch inhaltlich so sei.

Sozialdarwinismus im Leistungssport der DDR

Eine Ausnahme von dem Gemeinschaftsprinzip, welches meine Kindheit und Jugend in der DDR durchzog, stellte der Sport dar. Und es mag eine Ironie der Geschichte sein, dass ausgerechnet im einzigen Bereich, in dem der Leistungs- und Konkurrenzgedanke gnadenlos durchgezogen wurde, die DDR der BRD turmhoch überlegen war. Im Westen redet man sich natürlich gerne ein, die sportlichen Erfolge des Ostens seien letztendlich das Ergebnis staatlichen Dopings. Na klar wurde gedopt. Und zwar massiv und auch bereits bei minderjährigen Sportlern. Es wird dabei aber, typisch Doppelmoral, das eigene Dopingsystem geleugnet oder relativiert. Und es wird schlicht nicht zur Kenntnis genommen, mit welcher Professionalität der Leistungssport bis in die Breite und bis zu den Jüngsten betrieben wurde.

Meine Trainer zum Beispiel — ich war ein mäßig erfolgreicher Schwimmer — waren diplomierte Sportlehrer. Die Zeit, die sie mit uns Knirpsen im Stadtbad verbrachten, wurde ihnen auf die Arbeitszeit in der Schule, an der sie regulär unterrichteten, angerechnet. Wer sich heutzutage im Sportverein als Übungsleiter hinstellt, macht dies meist ehrenamtlich, zusätzlich zum 40-Stunden-Job, und bezahlt die erforderlichen Trainerscheine selbst. Und auch wenn der Leistungssport in der DDR als Kompensation beziehungsweise Ausgleich für die westliche Leistungsgesellschaft erscheinen mag, so war der Zugang zu ihm dennoch egalitär. Fragen wie die, ob man sich als Eltern den Sport des Kindes leisten kann und wie man es während der Woche zum Training und am Wochenende zu den Wettkämpfen fährt, stellten sich nicht.

Veränderungen auf Mikro- und Makroebene

Eingebettet in diese Sozialisierung, kam die sogenannte Wende und mit ihr der 9. November 1989. Ich erlebte diese Zeit wie im Rausch. Im Nachhinein betrachtet, waren es zwei Ebenen der Veränderung, die sich gleichzeitig vollzogen, sich dabei überlagerten und damit — um ein physikalisches Bild zu bemühen — zu einer Resonanz verstärkten. Einerseits war da meine persönliche Situation als pubertierender, nach Ausbruch und Veränderung strebender Jugendlicher. Und andererseits war da dieser Strudel an welthistorischen Ereignissen, die gleichzeitig auf der Makroebene abliefen.

Während also die Jugend in normalen Zeiten gegen starre Gesellschaften aufbegehrt, war mein eigener jugendlicher Drang im Einklang mit der Wucht der gesellschaftlichen Veränderungen. Diese besondere Kombination unterscheidet meine Generation grundlegend von der Generation meiner Eltern. Für die gab es zwar auch Aufbruch und Befreiung. Doch die Freude über die erlangte Reisefreiheit und das Ende der Lähmung und Erstarrung, welche in der Endphase der DDR zunehmend um sich griff, wich alsbald den Schrecken der neoliberalen Schocktherapie, welche unter tatkräftiger Beteiligung eines gewissen Thilo Sarrazin dem Osten verpasst wurde. Die Traumatisierungen und Demütigungen, die damit einhergingen, sind bis heute zu spüren und ein weiterer Teil der Erklärung des sogenannten „Rechtsrucks“.

Jens Wernicke und Andreas Peglau haben hierzu in der Debatte mit Götz Eisenberg bereits Wichtiges gesagt und der Rahmen dieses bereits viel zu langen Beitrages würde gesprengt, wollte ich an dieser Stelle in die Debatte einsteigen.

Schlüsselerlebnis Machtzerfall

Während also die Generation meiner Eltern teils traumatische Erfahrungen machen musste, war es für mich eine Zeit der Befreiung und der unbegrenzten Möglichkeiten.

Was sich mir bei allem Rauschhaften tief einbrannte, war die zutiefst befreiende Erfahrung, dass sich Macht von heute auf morgen und vor aller Augen in Nichts auflösen kann. Genau das ist es, woraus ich bis heute meinen Optimismus ziehe, dass ein Ende von Kapitaldiktatur und ökologischem Kollaps möglich ist.

Dinge, die in Stein gemeißelt schienen, bröselten widerstandslos auseinander, weil es zu viele Menschen gab, die keine Angst mehr hatten. Jeder kennt die Bilder der Grenzsoldaten, die am Abend des 9. November 1989 völlig hilflos die Massen vorbeiziehen ließen. Erinnert sei aber auch an einen fast in Vergessenheit geratenen Aspekt, der den geräuschlosen Zusammenbruch staatlicher Autorität noch viel besser verdeutlicht: Bis zum 9. November 1989 bestand in der DDR am Sonnabend Schulpflicht. An den folgenden Wochenenden hatte aber keiner mehr Bock, sonnabends in die Schule zu gehen, sondern alle wollten erkunden, wie sich der goldene Westen so anfühlt. Dies führte zur klammheimlichen Abschaffung des Sonnabends als Schultag. Stell dir vor, es ist Schule, und keiner geht hin. So einfach war das.

Die Normopathen wechseln die Seite

Während ich die Erfahrung machte, dass staatliche Macht von heute auf morgen implodieren kann, erlebte ich gleichzeitig, wie bisherige Funktionsträger keine Probleme damit hatten, sich den neuen Herren anzudienen, anstatt sich von den Siegern fernzuhalten. Dieses Wechseln der ideologischen Front war mir damals unbegreiflich, heute kann ich es zumindest verstehen. Dass ich nach Studium und Referendariat keine Ambitionen hegte, in den öffentlichen Dienst einzutreten und stets mein eigener Herr sein wollte, ist wohl maßgeblich dieser Wendeerfahrung geschuldet.

Die Rosskur des Konsums

Dass es sich bei dem, was auf den Fall der Mauer folgte, um einen Beitritt handelte, der euphemistisch als Wiedervereinigung umschrieben wurde, war mir damals völlig egal. Mit Einführung der D-Mark gab ich mich hemmungslos einem nachholenden Konsum hin, der mir den Geist vernebelte. Der Preis einer Ware entschied darüber, in welche Lebensbereiche der Kommerz eindrang.

Es war fortan verpönt, aufwändig etwas selbst zu machen, was man billig kaufen konnte. Marmelade wurde nicht mehr selbst gekocht, sondern zum Schleuderpreis bei Aldi gekauft. Pilze sammelte ich nicht mehr mit meinem Opa im Wald, sondern kaufte sie in der Dose. Spaghetti Bolognese — ich aß damals noch Fleisch — bestand aus einer Maggi-Tüte und nicht aus frischen Zutaten. Bekleidung wurde nicht ausgebessert, sondern weggeworfen und neu gekauft. Wertvolles Wissen darüber, wie man zum Beispiel einen Obstbaum selbst verschneidet, wie man aus Samen eine Tomatenpflanze zieht, wie man Klöße kocht und so weiter ging dabei fast verloren und ist heute in vielen ostdeutschen Familien schon nicht mehr vorhanden. Steffen Mensching, der kongeniale Partner von Wenzel, fasste das, was auch mir passierte, wie folgt zusammen:

„Wir — die Ostdeutschen als Teile der westlichen Welt — mussten wohl erst die andauernde Rosskur des Konsums über uns ergehen lassen, um in Ansätzen zu begreifen, dass sich das Leben nicht kaufen lässt oder dass man, wenn man darauf vertraut, mit Ramsch und Junkfood abgespeist wird. Hungernde sind schwer von den Vorzügen der diätischen Lebensweise zu überzeugen“ (2).

Unerkannte Chancen

Wahrscheinlich war ich damals viel zu jung, um dem falschen Glanz der Konsumgesellschaft auch nur ansatzweise zu widerstehen. Ich war mittendrin, statt nur dabei und fand es geil, Markenklamotten zu tragen, eine schnelle Karre zu fahren und irgendwelchen technischen Schnickschnack mein Eigen zu nennen. Es dauerte Jahre, bis ich begriff, welche Chancen 1989/90 angesichts der allgemeinen Verblendung liegen gelassen wurden. Ich strebte nach beruflichem Erfolg, gründete eine Familie, baute ein Haus. Die Stimme in mir, die mir permanent zurief, dass es das alles nicht gewesen sein kann und ich mich vom Sein immer mehr dem Haben (3) zuwende, erhörte ich erst, als eine gewisse Ruhe einkehrte, insbesondere als meine Kinder älter wurden.

Ich holte meinen Marx wieder hervor, ließ mir von David Graeber (4), Yuval Harari (5) und vom bereits erwähnten Fabian Scheidler (6) größere Zusammenhänge erklären und landete auf diesem Weg schließlich bei der wundervollen Daniela Dahn, deren Buch „Wir sind der Staat!“ (7) mein ständiger Wegbegleiter und Ratgeber ist. Mir wurde klar, welche Chance uns spätestens ab Dezember 1989 aus den Fingern glitt, als aus „Wir sind das Volk“ „Wir sind ein Volk“ wurde. Ab diesem Moment ging es nicht mehr um die Selbstbestimmung (8) der Bevölkerung der DDR, sondern um die Assimilation durch den Westen.

Wiedervereinigung, Beitritt oder gar Annexion?

Mit dem anhaltenden Assimilationsprozess, dem die gesamte ostdeutsche Bevölkerung unterworfen wurde, gingen vielfältige Kränkungen und Verletzungen einher. Dies beinhaltet zunächst einen juristischen Aspekt. Es gab keine echte Wiedervereinigung mit gesamtdeutscher Volksabstimmung über eine Verfassung, welche die besten Ideen und Erfahrungen beider Seiten vereint hätte. Stattdessen erfolgte auf rein parlamentarischem Weg der schnöde Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Bei der gegenwärtigen Überstrapazierung des Begriffes könnte man es im Klartext auch als Annexion bezeichnen, was da am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde.

Verzerrtes Geschichtsbild der Sieger

Aus diesem juristischen Akt folgt auch ein völlig verzerrtes Geschichtsbild. Es wird so getan, als habe es von 1949 bis 1990 nur ein einziges und natürlich nur ein richtiges Deutschland gegeben. Die Geschichte der DDR ist nicht Teil der Geschichte Deutschlands, sondern etwas, was außerhalb steht. Die DDR, das ist nichts weiter als ein missliebiger Fremdkörper, der den Stempel „Unrechtsstaat“, „Diktatur“ und „Stasi“ verpasst bekam. Dies ist in mehrfacher Hinsicht äußerst bedenklich.

Einerseits ist die Tendenz festzustellen, dass faktisch alles Unrecht, das in der DDR begangen wurde, über der Stasi und ihren Mitarbeitern ausgekippt wird, womit diejenigen, die außerhalb der Stasi Unrecht begingen, reingewaschen werden. Dabei wird unterschlagen, dass die Stasi kein von Partei und Staat losgelöster Unrechtsapparat war, sondern „Schild und Schwert der Partei“. Ein Schwert, das niemand in Händen hält, ist ungefährlich.

Weiterhin beobachte ich die unsägliche Entwicklung, das DDR-Unrecht auf eine Stufe mit den monströsen NS-Verbrechen zu stellen. Die Angleichung erfolgt aus drei Stoßrichtungen: durch Abwertung und Verharmlosung der NS-Verbrechen, durch Überzeichnung des in der DDR begangenen Unrechts sowie durch Ausblendung des eigenen Unrechtes.

Abwertung und Verharmlosung der NS-Verbrechen

Die NS-Zeit wird mehr und mehr auf die Shoa reduziert und dabei so getan, als habe es sich um einen Betriebsunfall der Geschichte gehandelt, der allein dem Irren aus Braunau geschuldet sei. Dass dieser völlig bedeutungslos geblieben wäre, hätte es nicht auch ein Volk gegeben, das einen Führer wollte, wird immer mehr verdrängt. Verdrängt wird auch die tief an der Wurzel des Faschismus ansetzende Frage, warum genau das Volk geführt werden wollte. Die Beantwortung dieser Frage führt zwingend zur Entfremdung des Menschen von sich selbst in einem auf Leistung, Konkurrenz und allumfassender Warenförmigkeit beruhenden System und damit zur bekannten Feststellung, dass man über den Faschismus schweigen sollte, wenn man über den Kapitalismus nicht reden will.

Von den 27 Millionen Menschen, die Opfer des gegen die Sowjetunion geführten rassenideologischen Vernichtungskrieges wurden, wissen die Jungen heute kaum noch etwas. Stattdessen stehen deutsche Soldaten wieder vor den Toren von St. Petersburg, wo ihre Vorfahren eine Million Einwohner allein zum Zwecke ihrer Vernichtung aushungerten.

Und wenn man doch etwas über den Krieg gegen die Sowjetunion erfährt, so wird dieser in alter russophober Manier „Russlandfeldzug“ genannt, was die ukrainischen und weißrussischen Opfer verschwinden lässt. Und über Sinti und Roma, Kommunisten und andere nicht ganz so beleumundete Opfer schweigt man sich lieber ebenso aus wie über die Verbrechen, die in Polen, Jugoslawien, Griechenland, Italien und so weiter begangen wurden. Mich widert diese die Opfer missbrauchende Selektion an, wobei man mir die zynische Wortwahl verzeihen möge.

Überzeichnung der DDR als verbrecherisches Regime

Zur Gleichsetzung von NS-Diktatur mit DDR-Unrecht gehört nicht nur die sich verengende Einhegung der NS-Verbrechen und die fehlende Aufarbeitung ihrer Ursachen, sondern gleichzeitig die Überzeichnung der DDR als verbrecherisches Regime. Dies geschieht im Wesentlichen dadurch, dass man die DDR gedanklich an die Sowjetunion anheftet und diese wiederum allein auf Stalins monströse Verbrechen reduziert. Diese Vorgehensweise ist zwar grober Unfug, denn in der DDR gab es keine Gulags, keine politischen Säuberungswellen, keine politisch verursachten Hungersnöte.

Das eigentliche „Verbrechen“ der DDR bestand aus Sicht der siegreichen Geschichtsschreiber darin, sich am heiligen Privateigentum vergriffen und die Gewichtung von bürgerlichen und sozialen Grundrechten falsch herum vorgenommen zu haben. In der UN-Menschenrechtscharta sind übrigens beide gleichrangig verankert.

Leugnung der eigenen Verbrechen

Zu den fatalen Entwicklungen gehört freilich auch, dass man das Unrecht des eigenen Systems leugnet oder zumindest nicht in einen vernünftigen Kontext zu den Vorwürfen gegenüber der DDR setzt.

Gegen das, was NSA, CIA und Co. so alles ausschnüffeln, sammeln und an Grund- und Menschenrechten verletzen, war die Stasi vergleichsweise harmlos.

Und was die mörderische Handels-, Sanktions- und Interventionspolitik der selbstherrlichen westlichen Wertegemeinschaft gegenüber dem globalen Süden an einem Tag an Toten produziert, hat die Berliner Mauer in den gesamten 28 Jahren ihres Bestehens nicht geschafft.

Doch hinter diesen juristischen und historischen Betrachtungen bleibt verborgen, unter welchen konkreten Demütigungen und Verletzungen viele Ostdeutsche bis heute leiden. Welches Ausmaß an Ignoranz ihnen die westdeutsch geprägte öffentliche Meinung entgegenbringt, soll anhand einiger Beispiele näher veranschaulicht werden.

Zu blöd für den Grünpfeil

Von den Menschen im Beitrittsgebiet wurde erwartet, dass sie sich innerhalb kürzester Zeit an ein neues Gesellschafts- und Rechtssystem anpassen. Fast alle ostdeutschen Familien waren von Arbeitslosigkeit betroffen und das Erlernen eines neuen Berufes war nicht die Ausnahme, sondern die Regel (9). Für die Bevölkerung im Altbundesgebiet änderte sich hingegen nichts. Falls doch, waren es unwesentliche Neuerungen wie der berühmte „Grüne Pfeil“, den man als eher symbolische Geste an die Ostdeutschen auch im Westen einzuführen versuchte, was aber in der Praxis an teils grotesker Begriffsstutzigkeit der Verkehrsteilnehmer scheiterte und bewirkte, dass der Grünpfeil nur mit erheblichen Einschränkungen gegenüber der im Osten geltenden Regelung eingeführt wurde.

Man kann sich unschwer vorstellen, wie demütigend es für einen Menschen ist, dessen bisherige Biographie komplett entwertet wurde, der tiefgreifende soziale Veränderungen meistern und sich in einem völlig neuen Rechtsrahmen zurechtfinden musste, wenn er feststellt, dass die Bevölkerung auf der anderen Seite des ehemals Eisernen Vorhanges es nicht einmal hinbekommt, mit einer neuen Verkehrsregel klarzukommen. „Ihr verlangt von uns ganz selbstverständlich, dass wir von heute auf morgen all eure Regeln beherrschen, seid aber selbst zu blöd, selbstständig zu entscheiden, ob ihr bei Rot rechts abbiegen könnt?“ So oder ähnlich dachte nicht nur ich, als der Grünpfeil 1994 auch im Westen in modifizierter Form eingeführt wurde.

Neuer Wein aus alten Krügen

Seit einigen Jahren ist es Mode, Bewährtes aus der DDR als Neuerfindung unter geändertem Namen auszugeben. „Ganztagesschule“ nennt sich jetzt das, was in der DDR selbstverständlich war, nämlich eine Schule, in der nach dem Unterricht Arbeitsgemeinschaften angeboten werden und in der ein Schulhort für die Früh- und Nachmittagsbetreuung von Kindern berufstätiger Eltern eingerichtet ist.

„MVZ“ ist die Bezeichnung für die Konzentration von Arztpraxen verschiedener Fachrichtungen an einem Standort. In der DDR gab es das schon lange und nannte sich Poliklinik.

„Nachwuchsleistungszentren“ richtete der DFB zur gezielten Förderung von Fußballtalenten ein. In der DDR gab es so etwas nicht nur im Fußball, sondern in allen olympischen Sportarten, und das wurde dort Trainingszentrum genannt.
Ostdeutsche empfinden nicht nur die Kaperung ihrer guten Ideen als Kränkung, sondern vor allem die Weigerung des Westens, einfach mal zuzugeben, dass der Osten Seiten hatte, von denen der Westen lernen konnte.

Fachidiotenüberschuss

Die Klagen über den vermeintlichen „Fachkräftemangel“ reißen nicht ab. Tatsächlich handelt es sich nicht um einen Mangel an Fachkräften, sondern um einen Mangel an Ausbildung. Das auf Pisa und Bulimielernen getrimmte Bildungssystem bringt in der Masse angepasste Fachidioten mit Vordiplom, neudeutsch Bachelor genannt, hervor, während die ganzheitliche Vermittlung naturwissenschaftlicher Zusammenhänge und handwerklicher Fertigkeiten auf der Strecke bleibt. Gleichzeitig wird das DDR-Bildungssystem, welches eben diesen Ansatz verfolgte, verteufelt, indem es auf Staatsbürgerkunde und Fahnenappelle reduziert wird. Das ist aus ostdeutscher Sicht grotesk und anmaßend.

Verhöhnung der Mundarten

Ein Thema, das mich persönlich besonders ärgert und meines Erachtens auch viel zu wenig beachtet, geschweige denn sozialwissenschaftlich untersucht wird, ist die allgegenwärtige Belächelung und Verhöhnung der im Beitrittsgebiet gesprochenen Dialekte, insbesondere der in Sachsen und Ostthüringen gesprochenen obersächsischen Mundarten.

In der öffentlichen Meinung wird ein Bild gepflegt, wonach der typische Ossi Sächsisch spricht und dabei leicht dümmlich daherkommt. Wird geistiger Dünnpfiff auf Hochdeutsch vorgetragen, kommt das immer noch besser an als qualitativ Hochwertiges auf Sächsisch.

Dies führt dazu, dass Sachsen ihre Sprache in der Öffentlichkeit verleugnen. Dies geschieht entweder dadurch, dass sie auf Krampf versuchen, Hochdeutsch zu reden oder indem sie ganz die Klappe halten. Denn sobald man den Mund aufmacht und anhand seines Dialektes identifiziert wird, wird man auf eben diesen reduziert. Ostdeutsche und speziell Sachsen sind damit einer speziellen Form der Diskriminierung ausgesetzt. Hierin liegt, wie bei jeder anderen Form von Diskriminierung, sozialer Brennstoff.

Aus dem Gefühl, nicht als vollwertiger, richtiger Deutscher akzeptiert zu sein, könnte durchaus die Tendenz entspringen, sich die fehlende Anerkennung anderweitig zu beschaffen. Zum Beispiel, indem man nationalkonservativ oder gar völkisch wählt.

Bislang ist mir noch keine Studie begegnet, die den möglichen Zusammenhang zwischen dem Gefühl der Zurückweisung aufgrund des Dialektes und dem Wahlverhalten der betreffenden Person untersucht hätte. Es ist an der Zeit, dies anzugehen. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung kein Problem ist, süddeutsche Dialekte zu sprechen. Wenn Laura Dahlmeier unverständliche Sätze auf Bayrisch bildet, ist das irgendwie niedlich und authentisch. Redet Michael Ballack Sächsisch, liefert er die perfekte Comedy-Vorlage.

Gnadenakt „Teil der gesamtdeutschen Geschichte“

Den letzten und vielleicht wichtigsten Punkt betrifft die Unkenntnis der meisten Westdeutschen über Sportler, Künstler, Filme, Bücher, Lieder, Ereignisse und Daten, welche die Menschen im Osten geprägt und begleitet haben. Umgekehrt, und das macht dann wütend, wird vom Ossi erwartet, dass er sich mit den Entsprechungen im Westen gefälligst auszukennen habe. Hierzu ein paar kleine Beispiele:

Was fällt dem Leser zum Zehnkampf der Männer bei den Olympischen Sommerspielen 1988 ein? Dass sich alles um Jürgen Hingsen drehte, dieser aber bereits bei der ersten Teildisziplin ausschied? Oder dass Christian Schenk Olympiasieger wurde und den Grundstein hierfür mit einem anachronistischen Hochsprung legte?

Woran denkt der Leser, wenn es um die Hymne der Wendezeit geht? An die Scorpions, die es nicht einmal fertig brachten, auf ihrer Tour 1990/91 im Osten zu gastieren? Oder an Karussell, die das Gefühl eines ganzen Landes musikalisch erfassten?

Jetzt mag man einwenden, dass doch jüngst Sigmund Jähn verstarb und die Tagesschau dabei stolz verkündete, der erste Deutsche im All sei mittlerweile ein „Kapitel der gesamtdeutschen Geschichte“. Genau das ist das Problem!

Ostdeutsche Geschichte bedarf eines gesonderten Aufnahmeaktes, um zur Geschichte des Siegers, euphemistisch „gesamtdeutsche Geschichte“ genannt, dazugehören zu dürfen. Westdeutsche Geschichte ist stets und ganz selbstverständlich „gesamtdeutsch“, ostdeutsche jedoch nur dann, wenn es in den Kram passt.

Perspektivenwechsel

Woran also klemmt es, wenn es um die vielbeschworene „Vollendung der Einheit“ geht? Doch wohl nicht daran, dass der Osten hinterherhängt, sondern eher daran, dass der Westen aufgefordert ist, sich nicht nur mit sich und seiner eigenen Großartigkeit zu befassen, sondern endlich dem Osten zuzuhören und so langsam mal zu begreifen, dass man vom Osten viel, auch über sich selbst, lernen kann.

Doch letztlich ist das Gerede um die „Vollendung der Einheit“ nur eine Phantomdiskussion, wenn es, wie erörtert, keine „Wiedervereinigung“, sondern einen Beitritt mit dem Versuch der Assimilitation seiner Bevölkerung gab. Trotz dieser harsch erscheinenden Einschätzung will ich natürlich nicht die DDR zurück und mir ist das Zusammenleben der Menschen in diesem Land natürlich nicht egal. Worum es mir geht, ist ein Perspektivenwechsel. Ich möchte, dass sich der Blick auf das Schöne, Vielfältige, Lebendige und Verbindende richtet: Auf die wahren Helden unseres Gemeinwesens in Ost und West, die ehrenamtlich Dienst bei der Feuerwehr leisten, die die Sport- und Kulturvereine am Leben halten, die sich an der Basis mit Taten und nicht mit schwulstigen Worthülsen für ein friedliches Zusammenleben und gegen Menschenfeindlichkeit in all seinen hässlichen Formen einsetzen.

Auf das beste Brot der Welt, das es in all seiner Vielfalt nur im Osten und Westen dieses Landes gibt.

Auf den deutschen Wein, der aus einzigartigen und in ihren Charakteren so verschiedenen, in ihrer Schönheit jedoch gleichen Anbaugebieten stammt. In Ost und West.

Auf die Vielfalt, Herzlichkeit und Schrulligkeit unserer Dialekte. In Ost und West.

Auf die Vielfalt der Architektur und Kulturdenkmäler. Vom reetgedeckten Haus an der Nordsee bis zur Almhütte in den Alpen, vom Aachener Dom bis zum sorbischen Dorf ganz im Osten.

Auf die Schönheit unserer Natur und auf den Frieden, den wir in unseren Wäldern finden. In Ost und West.

Auf die Gnade, in einem Land leben zu dürfen, in dem ein Menschenleben nicht reicht, um all die schönen Orte und Landschaften zu erkunden, die es zu erkunden gilt. In Ost und West.

Auf all die großartigen Musiker, Tänzer, Schauspieler und auf all die weiteren kreativen Künstler, die unsere Herzen auf den großen und kleinen Bühnen berühren, in Ost und West.

Auf die Menschen, deren Masken fallen, sobald man auf sie zugeht, mit ihnen spricht und ihnen wirklich zuhört. In Ost und West.

 

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Samstag, 09. November 2019, 15:50 Uhr
~14 Minuten Lesezeit

Echter Sozialismus statt Einheitsbrei!

Die größte Demonstration der DDR-Geschichte forderte nicht die Einheit, sondern einen besseren Sozialismus.

von Andreas Peglau
 

Foto: Jacob Lund/Shutterstock.com

Während jetzt einmal mehr die Sektkorken knallen beim Gedenken an den 9. November 1989, bleibt ein anderer Tag weiterhin vergessen und verdrängt: Der 4. November 1989, als auf dem Alexanderplatz in Berlin eine eindrucksvolle Massendemonstration stattfand. Dabei war es der Höhepunkt des Bemühens, im Osten Deutschlands etwas zu errichten, was noch immer eine gute Idee ist: demokratischer Sozialismus

Radikaler Einschnitt

Am 19. Januar 1989 konstatierte Erich Honecker, SED-Generalsekretär und Vorsitzender des Staatsrates:

„Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt werden.“

Dass diese Einschätzung im Westen ebenfalls nicht nennenswert infrage gestellt wurde, belegte im selben Monat eine Entscheidung der Axel-Springer-Presse: Jahrzehntelang hatte man dort DDR in Gänsefüßchen gesetzt, um deren Existenzrecht zu bestreiten. Damit sollte nun Schluss sein.

Ein Dreivierteljahr später war die Situation grundlegend verwandelt. Im Sommer hatten Zehntausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger ihr Land — vor allem über die sich öffnende ungarische Grenze — in Richtung Westen verlassen. Oppositionsgruppen wie das „Neue Forum“ gewannen enorm an Zulauf, in Leipzig und anderen Städten forderten immer mehr Menschen auf „Montagsdemonstrationen“ Reformen ein. Am 7. Oktober versuchte die SED-Führung, den 40. Jahrestag der DDR zu begehen als sei alles beim Besten. Polizei und Staatssicherheit schlugen noch einmal zu — im wörtlichen wie übertragenen Sinne — als sich auch dagegen Protest erhob. Am 18. Oktober wurde Erich Honecker vom SED-Politbüro in den erzwungenen Ruhestand geschickt und durch Egon Krenz als SED-Generalsekretär abgelöst. Die DDR-weiten Demonstrationen schwollen weiter an. Am 9. November öffnete sich die Berliner Mauer …

Fragwürdiger Mauerfall-Kult

Offiziell übliche Sichtweisen werten dieses Geschehen heute meist so: Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger hatten von ihrem Staat schon lange die Nase voll und gingen dafür auf die Straße, um endlich auch so leben zu können wie im Westen; die „friedliche Revolution“ erzwang zu diesem Zwecke die Grenzöffnung, dann kamen die Wiedervereinigung und mit ihr die langersehnte Freiheit. Im Grunde, so der falsche Tenor, erhielt die DDR-„Wende“ ihre Krönung durch den von Beginn an intendierten Mauerfall.

Doch in Wirklichkeit läutete der 9. November das Ende der Versuche ein, innerhalb der DDR eine politische „Wende“ herbeizuführen. Was es an revolutionärer Energie gegeben hatte, verpuffte nun, diffundierte durch die aufgerissene Grenze in den kapitalistischen Nachbarstaat.

Statt das in vieler Hinsicht marode DDR-System weiter umzukrempeln, forderte bald darauf eine Mehrheit, möglichst reibungslos in einem anderen — keinesfalls veränderungswilligen — System aufgehen zu dürfen. Aus dem antiautoritären Ruf „Wir sind das Volk!“ der Montagsdemonstranten wurde die Vereinnahmungsbitte „Wir sind ein Volk!“.

Das Tempo dieses Umschwungs bewies: Das Interesse der Massen an einer DDR-Erneuerung kann nicht so tiefgründig gewesen sein, wie es vor dem Mauerfall den Anschein hatte. Die politischen Aktivisten hatten in ihrem Engagement vorübergehend viele andere mit sich gerissen — die ihr Mäntelchen schnell wieder nach dem — nun aus Richtung Westen blasenden — Wind hängen lassen sollten. Eine ganze Reihe der Aktivisten hielten es mit Letzterem allerdings genauso.

Für demokratischen Sozialismus

Die Vision, welche ursprünglich die DDR-„Wende“ motivierte, hatte jedoch mit einem alsbald vereinigten Deutschland gar nichts zu tun. Da ging es allermeist um etwas völlig anderes: um „wirklichen“, „richtigen“, „demokratischen Sozialismus“, um die Übernahme von Perestroika und Glasnost aus der von Michail Gorbatschow geführten Sowjetunion.

Dazu wurde unter anderem die Aufhebung der SED-Alleinherrschaft gefordert, demokratische Wahlen, die Zulassung von Bürgerrechtsbewegungen, Versammlungs- und Redefreiheit, die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit und das Ende geheimdienstlicher Überwachung, die ungeschminkte Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, inklusive des Stalinismus, das Offenlegen der ökonomischen Misere, das In-Angriff-Nehmen der ökologischen Probleme, die Beendigung von Pressezensur und Verdummung durch weitgehend gleichgeschaltete Medien, die Einführung nichtautoritärer Schulmodelle oder der Ausbau von Fahrradwegen. Mit anderen Worten: eine ebenso brisante wie bunte Mischung kreativer Vorschläge zur Reformierung und Verbesserung der Deutschen Demokratischen Republik — nicht zu ihrer Abschaffung.

Es gibt zahlreiche Dokumente, die diese ursprüngliche Stoßrichtung belegen. Dazu gehört eine von mehr als 3.000 Rockmusikern, Liedermachern und Unterhaltungskünstlern wie Gerhard Gundermann, Tamara Danz oder Lutz Kerschowski unterschriebene, am 18. Oktober 1989 veröffentlichte Resolution.
Dort hieß es:

„Wir (…) sind besorgt über den augenblicklichen Zustand unseres Landes, über den massenhaften Exodus vieler Altersgenossen, über die Sinnkrise dieser gesellschaftlichen Alternative und über die unerträgliche Ignoranz der Partei- und Staatsführung, die vorhandene Widersprüche bagatellisiert und an einem starren Kurs festhält. Es geht nicht um ‚Reformen, die den Sozialismus abschaffen‘, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Land möglich machen.“

Noch am 26. November verlas Stefan Heym den unter anderen von Christa Wolf formulierten Aufruf „Für unser Land“:

„Entweder

können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.

Oder

wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird.

Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.

Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen.“

Knapp 1.170.000 DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger setzten ihre Namen darunter. Doch auch sie konnten nichts mehr daran ändern, dass die BRD-Führung unter Helmut Kohl nun die Führung eines Prozesses übernahm, den Daniela Dahn 2019 als „feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen“ charakterisierte. Oder auch als „Aufbruch nach Kohlrabien“.

Die damit einsetzende Diffamierung von all dem, was es in der DDR an Positivem und Eigenständigem gegeben hatte, sorgte zugleich dafür, dass kaum noch jemand Genaueres weiß oder wissen will von jenem Ereignis, das den Höhepunkt der Bemühungen um einen demokratischen Sozialismus im Osten Deutschlands darstellte.

Einzigartige Massendemonstration

Die Zahl der Menschen, die am 4. November 1989 einem Aufruf der Berliner Theaterschaffenden folgten, wird meist auf eine Million geschätzt. In jedem Fall war es die größte spontane, nicht staatlich gelenkte Kundgebung, die es in der DDR je gab.

Um 10 Uhr startete der Zug in Berlin-Mitte, zog von der Prenzlauer Allee durch die Karl-Liebknecht-Straße zum Palast der Republik, weiter zum Marx-Engels-Platz, schließlich durch die Rathausstraße zum Alexanderplatz. Das gesamte Stadtzentrum wurde dabei durchmessen, der Sitz der wichtigsten Regierungsstellen — Staatsrat, Außenministerium, Zentralkomitee der SED, Volkskammer, Rotes Rathaus … — einbezogen, bevor die mehr als dreistündige Abschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz begann. Das DDR-Fernsehen übertrug live und vollständig.

Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch die Schauspielerin Marion van de Kamp:

„Liebe Kollegen und Freunde, Mitdenker und Hierbleiber!
Wir, die Mitarbeiter der Berliner Theater, heißen Sie herzlich willkommen. Die Straße ist die Tribüne des Volkes — überall dort, wo es von den anderen Tribünen ausgeschlossen wird. Hier findet keine Manifestation statt, sondern eine sozialistische Protestdemonstration.“

Auf einem winzigen Podium traten sodann prominente Schauspieler, Schriftsteller, Liedermacher, Wissenschaftler, ein Anwalt, zwei Theologen, der ehemalige Chef der Auslandsspionage, Angehörige von SED-Politbüro und -basis, des Neuen Forums, der Initiative für Frieden und Menschenrechte und andere auf — inmitten eines Meeres aus Menschen, die ihre eigenen Ansichten und Forderungen durch emotionsgeladene Zwischenrufe hinzufügten und durch selbst hergestellte Transparente: „Gegen Monopolsozialismus — Für demokratischen Sozialismus!“, „Privilegien weg — Wir sind das Volk“, „Keine Gewalt — Wir bleiben hier!“, „Demokratie — kein Chaos!“, „Gemeinsames Spiel für gesunde und behinderte Kinder — Schranken weg!“, „Freie Presse für Freie Menschen“, aber auch schon die Warnung vor erneuter Anpassung: „Lasst euch nicht verWENDEN!“.

Keine Frage, das war ein basisdemokratisches Großereignis ersten Ranges, ein Meilenstein nicht nur für die ost- sondern auch für die gesamtdeutsche Historie. Oder wie es der Schriftsteller Stefan Heym auf der Bühne am Alexanderplatz formulierte:

„Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen. Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch.

(…) Der Sozialismus — nicht der Stalinsche, der richtige —, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes.“

Auszüge aus weiteren Redebeiträgen unterstreichen, um was es ging.

„Hoffnung, Fantasie, Frechheit und Humor“

Jan Joseph Liefers, Schauspieler:

„Die vorhandenen Strukturen, die immer wieder übernommenen prinzipiellen Strukturen lassen Erneuerung nicht zu. Deshalb müssen sie zerstört werden. Neue Strukturen müssen wir entwickeln, für einen demokratischen Sozialismus. Und das heißt für mich unter anderem auch Aufteilung der Macht zwischen der Mehrheit und den Minderheiten.“

Marianne Birthler, Jugendreferentin im Stadtschulamt, Initiative Frieden und Menschenrechte:

„Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben. Auf diesem Platz ist hunderttausendfache Hoffnung versammelt. Hoffnung, Phantasie, Frechheit und Humor. Diese Hoffnung, die seit ein paar Wochen endlich in der DDR wächst, sollte, bevor sie so groß wurde wie heute, am Abend des 7. Oktober und in den Tagen und Nächten danach niedergeknüppelt werden. (…) Bis heute ist nicht beantwortet: Wer hat die Befehle gegeben, wer hatte die politische Verantwortung.“

Jens Reich, Molekularbiologe, Neues Forum:

„Freiheit ist Befreiung, und wir alle müssen uns frei machen von Angst, von der Angst, es könnte alles aufgezeichnet und später gegen mich verwendet werden, — von feiger Vorsicht, nur nicht den Kopf aus dem Salat stecken, sonst gibt’s einen drauf, — von Kleinmütigkeit, es hat ja doch keinen Sinn, nichts wird sich ändern, alles bleibt beim Alten. Nein, wir müssen unser Verfassungsrecht wahrnehmen, nicht nur hier auf der Demo, sondern vor dem Chef, vor den Kollegen, vor dem Lehrer, vor der Behörde, überall. Und wir müssen jedem beistehen, der dies Recht ausübt, nicht abwarten, ob er sich den Hals bricht.“

Gregor Gysi, Rechtsanwalt, SED-Mitglied:

„Wir haben inzwischen viele Anglizismen aufgenommen, wogegen ich nichts habe. Aber von der russischen Sprache haben wir nur das Wort Datscha übernommen. Ich finde, es ist Zeit, zwei weitere Worte zu übernehmen: nämlich Perestroika und Glasnost. Und wenn wir dies auch inhaltlich vollziehen, wird es uns gelingen, die Begriffe DDR, Sozialismus, Humanismus, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer untrennbaren Einheit zu verschmelzen.“

Christoph Hein, Schriftsteller:

„Lassen wir uns nicht von unserer eigenen Begeisterung täuschen! Wir haben es noch nicht geschafft. Die Kuh ist noch nicht vom Mist. Und es gibt noch genügend Kräfte, die keine Veränderungen wünschen, die eine neue Gesellschaft fürchten und auch zu fürchten haben. (…) Schaffen wir eine demokratische Gesellschaft, auf einer gesetzlichen Grundlage, die einklagbar ist! Einen Sozialismus, der dieses Wort nicht zur Karikatur macht. Eine Gesellschaft, die dem Menschen angemessen ist und ihn nicht der Struktur unterordnet.“

Christa Wolf, Schriftstellerin, SED-Mitglied:

„Mit dem Wort ‚Wende‘“ habe ich meine Schwierigkeiten. Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: ‚Klar zur Wende!‘, weil der Wind sich gedreht hat und ihm ins Gesicht weht. Und die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum über das Boot fegt. Aber stimmt dieses Bild noch? (…) Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen. Revolutionen gehen von unten aus. ‚Unten‘ und ‚oben‘“ wechseln ihre Plätze in dem Wertesystem und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Große soziale Bewegungen kommen in Gang. (…)

Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!.“

Den Schlusspunkt der Veranstaltung zu setzen, blieb der 81-jährigen Schauspielerin Steffie Spira, ebenfalls SED-Mitglied, vorbehalten:

„1933 ging ich allein in ein fremdes Land. Ich nahm nichts mit, aber im Kopf hatte ich einige Zeilen eines Gedichts von Bertolt Brecht: Lob der Dialektik.

So wie es ist, bleibt es nicht.
Wer lebt, sage nie Niemals.
Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein.
Und aus Niemals wird: Heute noch!“

Nachbetrachtung 2004

Ein weiterer Redner, der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer, rekapitulierte am 4. November 2004 in einem Interview die Bedeutung dieses Tages:

„Als Sie am 4. November auf dem Alexanderplatz zu Toleranz und Friedfertigkeit aufriefen — hatten Sie da eine Ahnung, was fünf Tage später geschehen würde?

Schorlemmer: Keine besondere. Und ich hatte zu diesem Zeitpunkt auch nicht die geringste Sehnsucht nach dem, was man heute fälschlicherweise den Mauerfall nennt.

Fälschlicherweise?

Schorlemmer: (…) In Wahrheit nahm sich das Volk das Recht, die Mauer zu überwinden. In Wahrheit war es kein ‚Mauerfall‘, sondern ein Mauerdurchbruch.

Würden Sie heute die gleiche Rede halten wie am 4. November 1989?

Schorlemmer: Ja. Ich bin sehr froh, dabei gewesen zu sein. Für mich bleibt der 4. ein wichtigeres Datum als der 9. November.

Warum?

Schorlemmer: Weil damals das ‚D‘ noch für Demokratie stand und nicht für ‚Deutschland‘ oder ‚D-Mark‘. Der 4. November war der Tag, an dem — und das ist selten in der deutschen Geschichte — ein demokratischer Aufbruch passierte. Vertreter dieses kleinen Völkchens beendeten mit Klarheit, Konsequenz und menschlicher Fairness den Machtanspruch der SED und damit eine Diktatur. (…)

Die deutsche Einheit war kein Thema?

Schorlemmer: Nur im Kontext einer europäischen Einigung à la Gorbatschow. Es ging uns zunächst um eine demokratisierte DDR.“

Dementsprechend gehörte der 4. November 1989 rot angestrichen und deutlich hervorgehoben in der jüngsten deutschen Geschichtsschreibung und -darstellung.

Doch es existiert trotz der erhalten gebliebenen TV-Aufzeichnungen nicht einmal ein käuflich erwerbbarer Video-Mitschnitt davon. Zwar gibt es immerhin eine CD mit auf dem Alexanderplatz gehaltenen Reden — aber ein bloßes, zumal gekürztes Audio-Dokument fängt weder Atmosphäre noch Dimension dieses Ereignisses ein, lässt dessen Bedeutung bestenfalls erahnen (1).

Mehr als ein Zeitdokument

Eine audiovisuelle Erinnerungsstütze an diesen Tag hätte freilich nicht nur zeitgeschichtliche, sondern auch aktuelle Bedeutung: Zu einem erheblichen Teil muss die Kritik, die damals SED-Führung und DDR-Gesellschaft traf, inzwischen in ähnlicher Weise an Bundesregierung und BRD-Gesellschaft gerichtet werden.

Das zeigt unter anderem ein weiterer Auszug aus der Rede Stefan Heyms:

„Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Lasst uns auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei.“

Der Ergänzung „oder einer Clique von Superreichen und Konzernchefs“ hätte er definitiv zugestimmt, nur war das damals noch keine absehbare Gefahr in der sich scheinbar erneuernden DDR. Weiter Stephan Heym:

„Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muss unterworfen sein der Kontrolle der Bürger.“

Dass heute auch hierzulande von Bürgerkontrolle — oder von „Glasnost“, Transparenz der Politik — keine Rede sein kann, ist mittlerweile so offenkundig, dass ich keine Belege dafür anführen muss. Aber auch die damals auf dem Alexanderplatz erhobene Forderung nach dem Ende der Bespitzelung durch Geheimdienste hat sich ja, wie mittlerweile nicht mehr zu verleugnen, mit dem Ende der DDR nicht erledigt. Und Kritik an systematisch desinformierenden Massenmedien ist im Deutschland des Jahres 2019 ebenfalls längst wieder bitter nötig.

Die Geschehnisse des 4. November 1989 laden daher ein zum Erinnern — und zum Vergleichen: Wie aufrecht ist unser Gang heute? Was haben sich die ehemaligen DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger davon erhalten, was sich da im Herbst ‘89 an Mut, Kreativität, Aufbruchsstimmung zeigte? Diese Frage ist umso drängender, als die „rechts“lastige AfD-Führung bei den letzten Landtagswahlen erfolgreich Parolen missbrauchte, die seinerzeit dazu gedacht waren, im östlichen Teil Deutschlands einen demokratischen Sozialismus entstehen zu lassen. Nur, wie gesagt: Das weiß inzwischen kaum noch jemand …

 

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Samstag, 09. November 2019, 15:57 Uhr
~26 Minuten Lesezeit

Die verhinderte Demokratie

Nach der Wiedervereinigung eroberten die Sieger die Deutungshoheit und vereitelten so die historische Chance eines wirklichen Neubeginns.

von Rainer Mausfeld
 

Foto: Anton Watman/Shutterstock.com

Eine Vereinigung — das wäre eigentlich ein Vorgang der Kompromissfindung, bei dem beide Seiten ihre Vorstellungen und Erfahrungen einfließen lassen. Aus These und Antithese könnte eine Synthese entstehen, die das Beste aus beiden Welten auf einer höheren Ebene vereinigt. Während des Wendeprozesses 1989/90 war vor allem Ostdeutschland ein Laboratorium kreativer Ideen, das Hoffnung auf die Schaffung einer wirklichen sozialen Demokratie weckte. Aber die Ostdeutschen wurden bewusst mit den Lockungen der Warenwelt eingekauft; die westdeutschen Lämmer schwiegen, eingelullt vom Versprechen des „Weiter so“. Der Endsieg des profitgetriebenen Kapitalismus erstickte alle Ansätze zu wirklich Neuem im Keim. Weder gab es eine gesamtdeutsche Verfassung noch ein Zusammenwachsen der beiden unterschiedlichen Mentalitäten. All das geschah auch, weil das Hauptwerkzeug eines sanften Totalitarismus, die West-Medien, in den Hirnen und Herzen der Deutschen ganze Arbeit geleistet hatte.

Das Schweigen der Lämmer ist kein unabwendbares Schicksal. 1989 hat das Volk sich selbst zum Sprechen ermächtigt und seine Stimme gegen die Zentren der Macht politisch wirksam werden lassen. Es hat den alten Hirten die Gefolgschaft gekündigt — und sich neue gesucht, die seine „Vertreibung ins Paradies“, so das treffende Bild von Daniela Dahn, organisierten: das Paradies der kapitalistischen Warenwelt, der grenzenlosen Reise- und Redefreiheit; das kapitalistische Paradies der individuellen Bedürfnisbefriedigung, der bunten Medienvielfalt und der unerschöpflichen Zerstreuungs- und Unterhaltungsindustrie. Keine Frage: Nach den Kriterien des westlichen Vorbilds ist der Lebensstandard für eine Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland gestiegen — und mehr noch das Ausmaß sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Spaltungen.

Für den Sieger war dies ein überwältigender Sieg. Und da Geschichte bekanntlich von den Siegern geschrieben wird, kann es keinen Zweifel geben, wer der Sieger ist. Der Sieger des historischen Augenblicks ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung und mit ihr die Lebensformen und Annehmlichkeiten des Konsums, die sie ermöglicht.

Bleibt noch die Frage, wer oder was eigentlich die Verlierer der Ereignisse von 1989 sind. Über den Hauptverlierer gibt es wohl ebenfalls keinen Zweifel: Es ist der real existierende Sozialismus. Er hatte schon früh gezeigt, dass er bereit ist, seine emanzipatorischen Versprechen zu verraten und zu missbrauchen. Auch hat er in der jahrzehntelangen Systemkonkurrenz mit dem US-geführten Kapitalismus und ihren brutalen ökonomischen und militärischen Spielregeln nicht vermocht, eine Lebensrealität anzubieten, die die Bevölkerung über diesen Verrat hätte hinwegtäuschen oder sie dafür hätte entschädigen können.

1989 hat das Volk sein Veränderungsbedürfnis klar artikuliert und sich für einen besseren, demokratisch reformierten Sozialismus ausgesprochen. „Ich wollte immer in einer Demokratie leben, aber nie im Kapitalismus“, schreibt Daniela Dahn in ihrer soeben erschienenen Abrechnung mit der Einheit, die den Titel trägt: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute — eine Pflichtlektüre für alle, die die Hintergründe der sogenannten Wiedervereinigung besser verstehen wollen und zugleich mehr erfahren wollen über die Persönlichkeit des Wiedervereinigers, also die Bundesrepublik.

Nach einem zunächst verheißungsvollen Aufbruch oppositioneller Gruppen in der DDR, die einen Demokratisierungsdruck aufzubauen suchten, der auch auf den Westen übergreifen sollte, wurde jedoch die „friedliche Revolution“, die keine Revolution war, regelrecht aufgekauft — der Kapitalismus hat bekanntlich einen großen Magen.

Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Die historische Chance auf eine gesamtdeutsche Verfassung, die, wie es in Paragraf 146 des Grundgesetzes heißt, „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, also die Chance einer wirklichen Demokratisierung in beiden Teilen wurde in rigoroser Siegermentalität blockiert. Und damit auch die Chance, sozialen Grundrechten Verfassungsrang zu geben.

In diesen Siegesstunden bewies der Kapitalismus noch einmal, dass ihm kein ideologisches System an illusionserzeugender Kraft gleichkommt. Keine andere autoritäre Herrschaftsform verfügt über so ausgefeilte Mittel, Menschen zu ihrer freiwilligen Knechtschaft zu verführen. Dazu gehören insbesondere Mittel zur Spaltung der Gesellschaft und zur Zersetzung von Dissens. All diese Mittel konnten 1989 höchst wirksam zur Anwendung gebracht werden, dazu noch mit singulären Renditen für die Kapitalbesitzer. Die Stimmen einer demokratischen Revolution verhallten und der kapitalistische Weg war frei zu einer, in Daniela Dahns prägnanter Formulierung, „feindlichen Übernahme der DDR auf Wunsch der Übernommenen“. Auch das war Demokratie, nur eben „kapitalistische Demokratie“, über die noch zu sprechen sein wird.

Sieger und Verlierer lassen sich also leicht identifizieren, wenn man nur bereit ist, die Perspektive auf die historische bipolare Systemkonkurrenz von real existierendem US-Kapitalismus und real existierendem Kommunismus zu verengen. Doch genau eine solche Perspektivenverengung blockiert ein tiefer gehendes Verständnis, denn tatsächlich geht es um sehr viel mehr als um eine solche Alternative.

Wir sollten daher bei der Suche nach den Verlierern nicht an der Oberfläche der offiziellen Rahmengeschichte bleiben. Denn die Sieger stehen hier berechtigterweise in dem Ruf, in globalem Maßstab Verlierer zu produzieren. Auf materieller Ebene ist der Kapitalismus schon seiner Funktionslogik nach darauf angelegt, Verlierer geradezu im Überfluss zu produzieren. Wie dies ganz konkret funktioniert, hat die ostdeutsche Bevölkerung nach 1990 in einem von den westdeutschen Eliten veranstalteten Crashkurs lernen können. Zu den verordneten Lerneinheiten gehörte die systematische Zerstörung der ostdeutschen Volkswirtschaft, die Privatisierung ihres Volkseigentums, bei der 80 Prozent des von der Treuhandanstalt verwalteten ehemals ostdeutschen Produktionsvermögens an Westdeutsche und nur sechs Prozent an DDR-Bürger fielen sowie der Verlust von mindestens 2,5 Millionen Jobs.

Aus Sicht der Sieger haben diese gesellschaftlichen Verwüstungen übrigens rein gar nichts mit der Funktionslogik des Kapitalismus zu tun, sondern sind — wie der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte, jüngst feststellte — schlicht eine Konsequenz daraus, „dass die Ostdeutschen das Pech hatten, 40 Jahre auf der falschen Seite der Geschichte gestanden zu haben.“

Ein erfolgreiches Verbrechen zeichnet sich bekanntlich gerade dadurch aus, dass es dem Täter gelingt, den Opfern die Überzeugung zu vermitteln, dass sie ihr Schicksal verdient hätten.

Zu den traumatischen Lehreinheiten gehört auch die Erfahrung, dass Korruption nicht einfach zu den Auswüchsen des Kapitalismus zu zählen ist, sondern dass sie Teil seiner natürlichen Funktionsweise ist. — Es waren wahrlich paradiesische Zeiten für westdeutsches Kapital, in denen sich die Funktionslogik des Kapitalismus ungehemmt offenbaren konnte.

Dennoch müssen wir bei der Suche nach den Verlierern von 1989 noch tiefer unter die Oberfläche dringen, denn es geht um mehr: Es geht um den Verlust an mühsam errungener zivilisatorischer Substanz. Der folgenschwerste Verlust betrifft die zivilisatorische Leitidee von Demokratie — einen der bedeutendsten zivilisatorischen Schutzbalken gegen das rohe Recht des Stärkeren.

Nachdem die Bemühungen um eine wirkliche Demokratisierung innerhalb der DDR an den machtpolitischen Realitäten zerschellt waren, erhielten die Neubürger einen weiteren Crashkurs im Fach „kapitalistische Demokratie“. Dabei konnten nun diejenigen, die sich das Wort „Demokratie“ nicht durch eine pervertierte Verwendung enteignen lassen wollten, selbst erfahren, wie weit das demokratische Leitideal und die Realität der „kapitalistischen Demokratie“ auseinander liegen. Diese Diskrepanz ist eigentlich nicht überraschend, denn es gehört gerade zum Wesensmerkmal einer „kapitalistischen Demokratie“, dass sie keine ist. Der Widerspruch ist so offenkundig, dass er sich nur mit ausgefeilten Techniken der Indoktrination unsichtbar und undenkbar machen lässt.

In ihrem Wesenskern und in ihrer Funktionslogik sind Demokratie und real existierender Kapitalismus in fundamentaler Weise unverträglich miteinander. Die kapitalistische Eigentumsordnung verpflichtet alle, die über kein eigenes Kapital verfügen, für fremdes Eigentum zu arbeiten, und überführt damit Arbeit in Lohnarbeit. Arbeit im Kapitalismus bedeutet also Unterwerfung unter die Verwertungsbedingungen des Akkumulationsprozesses und damit unter die Machtverhältnisse, die eine Minderheit von Besitzenden über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt. Der Kapitalismus ist also darauf angewiesen, die Minderheit der Besitzenden strikt vor den Veränderungswünschen der Mehrheit zu schützen. Daher kann er auch aus sich heraus sich niemals eine demokratische Legitimation verschaffen. Das ist eine Binsenwahrheit der politischen Wissenschaften. Schon Aristoteles lehnte die Demokratie ab, weil sie die Möglichkeit beinhaltet, dass „die Armen, weil sie die Mehrheit bildeten, das Vermögen der Reichen unter sich teilten“, was Aristoteles als Unrecht ansah.

Dass Kapitalismus und Demokratie in fundamentaler Weise unverträglich miteinander sind, ist also seit ihren historischen Anfängen bekannt, sodass es danach nur noch darum ging, wie sich geeignete Mittel finden lassen, mit denen sich dieses Spannungsverhältnis so lindern oder verdecken lässt, dass eine Herrschaft der Besitzenden nicht gefährdet ist.

Seit je haben also die Besitzenden großen Aufwand betrieben, solche Mittel zu schaffen. — Ohne eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch geeignete Formen der Indoktrination würde in einer „kapitalistischen Demokratie“ rasch offenkundig, dass es sich in Wahrheit gar nicht um eine Demokratie handelt. Historisch gingen daher die Entwicklung „kapitalistischer Demokratien“ und die Entwicklung immer wirksamerer Techniken der Indoktrination Hand in Hand.

Seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts wurde und wird in den USA mit hohem finanziellem Aufwand und unter massiver Beteiligung der Sozialwissenschaften und der Psychologie ein breites Arsenal von Techniken der Meinungs- und Affektmanipulation entwickelt. Die riesigen Fortschritte, die in hundert Jahren intensiver systematischer Erforschung von Manipulationstechniken erreicht wurden, lassen sich besser ermessen, wenn man sich die Fortschritte vor Augen führt, die in diesem Zeitraum in der Entwicklung der Unterhaltungstechnologie erreicht wurden. Der Entwicklungsabstand vom alten Stummfilmkino über den 3D-Digitalfilm bis zu einem Virtual Reality-Setting lässt vielleicht erahnen, wie groß der Entwicklungsabstand von traditioneller Propaganda zu modernen Indoktrinationstechniken ist.

Zu den Verfeinerungen von Propaganda gehört nicht zuletzt, dass sie sich heute nicht mehr als Propaganda bezeichnet — sie trägt heute Namen wie Perception Management oder Soft Power — und dass sie Formen annimmt, die für die Bevölkerung immer weniger sichtbar und erkennbar geworden sind. Wie wirksam mittlerweile moderne Propagandatechniken geworden sind, lässt sich daran erkennen, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung dem Trugbild erlegen ist, in einer Gesellschaft zu leben, die frei von Propaganda sei.

Zu diesen Indoktrinationsmethoden gehört es auch, dem Wort „Demokratie“ in Orwellscher Weise neue Bedeutung zu verleihen, die geradezu das Gegenteil von dem bedeutet, was mit Demokratie ursprünglich gemeint ist. In der von George Orwell in seinem Roman „1984“ beschriebenen Gesellschaft werden zentrale politische Begriff ihres Sinnes entleert und zur Stabilisierung von Machtverhältnissen mit einem neuen Sinn belegt: „Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke.“

Wer die Sprache beherrscht, beherrscht die Gehirne — und damit auch uns.

Was bei Orwell für den Leser noch leicht durchschaubar ist, wurde mittlerweile so perfektioniert, dass es uns gar nicht mehr auffällt. Denken Sie etwa an all die Begriffe aus dem großen neoliberalen Falschwörterbuch, wie „Reformen“ oder „Bürokratieabbau“, die für die Bevölkerung positiv und sinnvoll klingen sollen, tatsächlich jedoch bedeuten, Konzerne und Reiche vor einer demokratischen Verantwortung und Kontrolle zu schützen und eine Umverteilung von unten nach oben und von der öffentlichen in die private Hand voranzutreiben.

Auch das Wort „Freiheit“ wurde im Neoliberalismus umdefiniert. Heute bedeutet es vor allem die Freiheit der ökonomisch Mächtigen. Für den Rest der Bevölkerung besteht Freiheit darin, sich als Konsument und als flexibel fremdverwertbares Humankapital den Bedingungen des „freien Marktes“ — ein weiteres Beispiel aus dem Falschwörterbuch — zu unterwerfen. Freiheit im Neoliberalismus bedeutet also, sich dem Markt unterwerfen zu müssen, um die eigene Fremdverwertbarkeit zu optimieren. Heute ist das Orwellsche Freiheit ist Unterwerfung — nicht nur für diejenigen, die in dem großen Niedriglohnsektor arbeiten — längst alltägliche Realität geworden.

In gleicher Weise wurde auch die Bedeutung des Wortes „Demokratie“ geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde in Orwellscher Weise „Demokratie“ in systematischer und ganz expliziter Weise so umdefiniert, dass sie nun nicht mehr Volksherrschaft, sondern Elitenherrschaft bedeutet. Man spricht seitdem von „Elitendemokratie“. In einer Elitendemokratie ist das demokratische Element im Wesentlichen darauf reduziert, dass das Volk in periodischen Abständen Vertreter aus einem vorgegebenen Elitenspektrum wählen darf. Dadurch sollte der Einfluss des Volkes im Wesentlichen auf seine Rolle als Zuschauer begrenzt werden. Im Kapitalismus könne, so Walter Lippmann, einer der einflussreichsten politischen US-Intellektuellen in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, Demokratie nur „Zuschauerdemokratie“ bedeuten. Von einer wirklichen politischen Partizipation müsse das Volk ausgeschlossen sein.

Diese Auffassung fand begeisterte Zustimmung in den relevanten Kreisen und wurde, in unterschiedlichen Varianten, in allen kapitalistischen Demokratien umgesetzt. Daher hat Wolfgang Schäuble deskriptiv recht, als er 2015 bemerkte: „Es darf nicht zugelassen werden, dass Wahlen etwas an der Wirtschaftspolitik ändern.“ Das gilt freilich nicht nur für die Wirtschaftspolitik. Groß angelegte empirische Studien renommierter US-Politologen haben gezeigt, dass der Einfluss der unteren 70 Prozent auf der Einkommensskala mit einem Gewicht von Null in politische Entscheidungen eingeht. Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung ist damit politisch schlicht irrelevant.

Politische Präferenzen, die vom überwiegenden Teil der Bevölkerung geteilt werden, jedoch zu sehr von denen des herrschenden Elitenspektrums abweichen — etwa eine stärkere Besteuerung großer Einkommen oder ein Privatisierungsverbot für sozialstaatliche Einrichtungen — können durchaus artikuliert werden, bleiben jedoch bei der Wahl politisch wirkungslos. Auch ist, wie der große Demokratietheoretiker Sheldon Wolin treffend feststellte, in unseren kapitalistischen Demokratien jede Form von Dissens erlaubt und als Revolutionsprophylaxe sogar erwünscht, solange der Dissens politisch unwirksam bleibt. So viel also zur politischen Realität in kapitalistischen Demokratien.

Wenn wir den Orwellschen Umdeutungen politischer Begriffe entgehen wollen, müssen wir uns zunächst daran erinnern, was diese Begriffe eigentlich bedeuten. Im Fall des Demokratiebegriffs ist nach jahrzehntelanger Indoktrination die eigentliche Bedeutung von „Demokratie“ schon fast aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Versuchen wir also, uns zu erinnern.

Die in einem mühevollen Prozess der zivilisatorischen Einhegung von Gewalt gewonnene Leitidee der Demokratie bedeutet eine Vergesellschaftung von Herrschaft. In der Aufklärung wurde dies präzisiert als eine ungeteilte gesetzgeberische Souveränität des Volkes zusammen mit einer strikten Gewaltenteilung. Der Wesenskern von Demokratie ist die Volkssouveränität. Diese bedeutet das Recht des Volkes, sich jederzeit eine Verfassung nach seinen eigenen Vorstellungen geben zu können. Zudem bedeutet es eine Unterwerfung aller Staatsapparate unter das demokratische Gesetz. Konkret heißt das: Alle Machtstrukturen, die nicht demokratisch — also von unten — legitimiert sind, sind illegitim und müssen beseitigt werden.

In der Volkssouveränität drückt sich also das Recht auf eine politische Selbstbestimmung aus. Diese Selbstbestimmung soll gerade sicherstellen, dass jeder Bürger einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen haben kann, die das eigene gesellschaftliche Leben betreffen. Zentrale Bereiche einer Gesellschaft dürfen nicht von einer demokratischen Legitimation und Kontrolle ausgeklammert werden. Da die Wirtschaft zweifellos hierzu gehört, sind — wie schon vor fast hundert Jahren der einflussreiche politische Philosoph John Dewey bemerkte — die Kriterien einer Demokratie so lange nicht erfüllt, wie die Wirtschaft autoritär organisiert und einer demokratischen Kontrolle entzogen ist. Das beantwortet noch einmal die Frage, ob es eine kapitalistische Demokratie geben kann.

Schauen wir uns nun unsere Verfassungswirklichkeit an. Im Grundgesetz findet sich in der floskelhaften Bestimmung des Paragrafen 20, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, die Idee der Volkssouveränität zwar wieder, doch wird sie sogleich durch den extrem repräsentativen Charakter des Grundgesetzes wieder unterlaufen. Das Grundgesetz ist durch tiefes Misstrauen gegenüber dem Volk gekennzeichnet. Dieser konstitutionelle Schutz vor dem Volk genügt indes den anti-demokratischen Bedürfnissen der Machteliten nicht. Schon seit den Anfängen sind sie daher bemüht, die in der Verfassung enthaltenen demokratischen Elemente zu schwächen, zu unterlaufen oder zu beseitigen. Dabei bediente und bedient man sich einer systematische Angsterzeugung durch wechselnde Feindbildern und Bedrohungskulissen, um die Duldung der Öffentlichkeit für immer weiterreichende autoritäre Maßnahmen und für einen Abbau von Grundrechten zu erreichen.

Erst war es die vorgebliche Gefahr durch Kommunisten — denken wir an den Radikalenerlass und die Berufsverbote der 1970er-Jahre —, dann in den 1980er-Jahren die vorgebliche Gefahr durch terroristische Kräfte aus dem Umfeld außerparlamentarischer Bewegungen, dann die vorgebliche Bedrohung durch, so Wolfgang Schäuble 1991, die „Asylantenflut“ — eine Bedrohungskulisse, die mit einer bis dahin beispiellosen Hetzkampagne aus den bürgerlichen Parteien einherging, der dann zahlreiche rassistische Ausschreitungen folgten.

Seit 2001 schließlich ist die Verfassungsrealität durch eine geradezu hemmungslose Selbstversorgung der Exekutive mit Sicherheitsgesetzen gekennzeichnet.

All diese Bedrohungskulissen werden aufgebaut, um Polizei und Geheimdienste autoritär zu ermächtigen und von demokratischer Kontrolle zu entbinden. Stück für Stück wird auf diese Weise eine Transformation zu einem Überwachungs- und Sicherheitsstaat betrieben. Der Bürger als solcher wird als Sicherheitsrisiko für die doch eigentlich von ihm auszugehende Staatsgewalt angesehen. Mit einer Flut von präventiven Sicherheitsgesetzen emanzipiert sich die Exekutive endgültig vom Souverän. Die zunehmend mit autoritären Elementen durchsetzte Verfassung wird genau mit diesen autoritären Elementen vor dem Volk geschützt, und der rechtliche Ausnahmezustand wird zu einem Dauerzustand. Diese Entwicklungen zeigen, dass es keine mächtigeren Verfassungsfeinde gibt, als in den Apparaten der Exekutive — wie es ja auch in konkreten Fällen das Bundesverfassungsgericht immer wieder festgestellt hat. Prominente Beispiele sind der Große Lauschangriff von 1998 und das Luftsicherheitsgesetz von 2005.

Heute sieht die Verfassungsrealität so aus, dass weder von Volkssouveränität noch von strikter Gewaltenteilung noch von angemessenen Partizipationschancen die Rede sein kann. Das Parlament als Repräsentant des Souveräns ist heute zu einem ein Hilfsorgan der Exekutive degeneriert — sozusagen ihr Demokratie-Inszenierungs-Organ; auch die Sicherheitsapparate des Staates haben sich einer demokratischen Kontrolle weitgehend entzogen. Militär und Medien ohnehin. Zentrale Bereiche der Gesellschaft sind also längst autoritär organisiert. Auch das mit der Leitidee von Demokratie eng verbundene Völkerrecht ist heute an seinen Wurzeln zerfressen worden.

Demokratie entstand nämlich aus den zivilisatorischen Bemühungen, den Frieden innerhalb der Gesellschaft und den Frieden zwischen den Völkern zu sichern. Auch dies findet seinen Widerhall im Wortlaut des Grundgesetzes, insbesondere in dem in Paragraf 26 festgelegten strafbewehrten Verbot eines Angriffskrieges. Seit dem völkerrechtswidrigen NATO-Überfall auf Jugoslawien, ein Angriffskrieg, an dem die Bundeswehr beteiligt war, ist der Krieg wieder als Mittel der Politik legitimiert worden — wenig überraschend, denn der Kapitalismus ist auf Kriege angewiesen und trägt bekanntlich „den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“.

Kurz: Die Verfassungsrealität sieht so aus, dass das Volk — so die große Verfassungstheoretikerin Ingeborg Maus — „realiter von den bloß Ermächtigten übermächtigt“ wird.

Der Souverän hat ausgedient. Nun muss er nur noch so gelenkt werden, dass er bei Wahlen so will, wie er wollen soll, und er muss so überwacht werden, dass er die Stabilität herrschender Machtverhältnisse nicht gefährdet.

Wenn man angesichts dieser schleichenden Entdemokratisierung den Blick auf unsere gesellschaftliche Verantwortung richtet, kann und muss man auch sagen, dass sich das Volk durch seine Duldung dieser Entwicklungen und durch sein Schweigen selbst entmächtigt hat.

Der Umbau der demokratisch angelegten Verfassung zu einem zunehmend autoritären Überwachungs- und Sicherheitsstaat ist keine zufällige Folge irgendwelcher historischen Konstellationen. Er ist eine geradezu zwangsläufige Folge der Tatsache, dass Demokratie und real existierender Kapitalismus grundlegend unverträglich miteinander sind. Daran ändert auch die kurzzeitige Symbiose nichts, die Demokratie und Kapitalismus in der Nachkriegszeit eingegangen sind.

Nun könnte man versucht sein, diese massiven demokratischen Defizite gerade zu Tugenden zu erklären, indem man argumentiert, dass eine Demokratie den Komplexitätsanforderungen moderner Gesellschaften nicht mehr gewachsen sei und das Gemeinwohl bei den rationalen und vernünftigen Eliten besser aufgehoben sei. Das ist ein beliebter und überaus geschickter Schachzug der Machteliten. Die sich darin zeigende anti-demokratische Haltung der selbstdeklarierten Eliten führt uns wieder zurück zum Schweigen der Lämmer und zu der Metapher von Herde und Hirte. So verführerisch plausibel diese Metapher, die die politische Philosophie des Abendlandes durchzieht, auf den ersten Blick erscheinen mag, so spiegelt sie tatsächlich nur das ideologische Bemühen wider, Herrschaft über Menschen zu rechtfertigen.

Denn natürlich ist der Hirte nicht dem Wohl der Schafherde verpflichtet, sondern dem Wohl des Herdenbesitzers.

Der jedoch kommt in dieser Metapher bezeichnenderweise gar nicht vor.
Die Hirtenmetapher dient, wie die Geschichte zeigt, vor allem der Rechtfertigung von Herrschaft. Erst mit dieser Metapher wird das Volk gedanklich zu einer Herde gemacht. Diese Metapher schafft die ideologische Idee eines unmündigen und launischen Volkes und verschleiert zugleich den Eigennutz derjenigen, die sich als Führer anbieten. Sie schafft erst die ideologische Unterscheidung von irrationalem „Volk“ und rationaler „Führungselite“, die das Fundament der gegenwärtig herrschenden Vorstellungen von kapitalistischer Elitendemokratie bildet.

In kapitalistischen Demokratien ist Politik, wie John Dewey lakonisch bemerkte, nicht mehr als der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt. In der neoliberalen Extremform des Kapitalismus ist dieser Spielraum nur noch ein Schrumpfraum, in dem die Bevölkerung als eigenständiger politischer Akteur gar nicht mehr vorkommt. Kapitalistische Demokratie bedeutet also, dass das Staatsvolk de facto von einer gesellschaftlichen Mitgestaltung ausgeschlossen ist. Nur auf der Basis einer Aushöhlung demokratischer Strukturen konnte seit den 1990er-Jahren der Neoliberalismus, also der globalisierte Finanzkapitalismus, seinen Siegeszug durchführen.

Die neoliberale Politik einer radikalen Umverteilung von unten nach oben und von der öffentlichen in die private Hand hat dazu geführt, dass immer breitere Bevölkerungsschichten verarmen und zugleich die Reichen mehr und mehr von Beiträgen zur Gemeinschaft „entlastet“ werden. Die katastrophalen Folgen der neoliberalen Zerstörung von Gemeinschaft werden, trotz massivster Indoktrinationsbemühungen, für immer breitere Teile der Bevölkerung spürbar und erkennbar — und erzeugen ein wachsendes Empörungspotenzial und Veränderungsbedürfnis. Diese Veränderungsbedürfnisse der Bevölkerung haben jedoch durch die neoliberale Entleerung des politischen Raumes keine Adressaten in der Politik mehr und gehen somit ins Leere.

Die Folgen sind ein drastisches Ansteigen von Gefühlen der politischen Ohnmacht, von Apathie, Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung. Diese Affekte müssen nun irgendwie bewältigt werden. Die traditionellen sozialstaatlichen Institutionen, die Gemeinschaft fördern und dadurch Identität stiften, die gesellschaftliche Sicherheit vermitteln und angstreduzierend wirken, sind im Zuge der neoliberalen Politik massiv beschädigt oder zerstört worden. Ein wachsender Teil der Bevölkerung erleidet also schwere Verlusterfahrungen: einen Verlust an Anerkennung, einen Verlust an gesellschaftlicher Wirksamkeit, einen Verlust an kollektiver Identität, einen Verlust an materieller Sicherheit, einen Verlust an gemeinschaftlichen Normen und Werten und einen Verlust an Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen.

Wenn über ein Fünftel der Gesellschaft in unsicheren und nicht mehr existenzsichernden Arbeitsverhältnissen arbeitet, wenn ein wachsender Teil der Gesellschaft keine politische Stimme hat, keine Organisationsform, keine mediale Repräsentanz, keine Lobbyisten für eine Vertretung ihrer Interessen, in weiten Teilen hochgradig überwacht und diszipliniert ist, kann die Bevölkerung die Bezeichnung „Demokratie“ nur noch als Hohn erleben.

Es ist daher wenig überraschend, dass sich die systematisch erzeugten Ohnmachtserfahrungen andere Wege einer Bewältigung suchen. Denn die gegenwärtige radikal anti-egalitäre und anti-pluralistische Politik von oben erzeugt zwangsläufig affektive Gegenreaktionen von unten. Diese Gegenreaktionen — die als Populismus bezeichnet werden — teilen oftmals die anti-egalitären und anti-pluralistischen Haltungen des Neoliberalismus, nur eben zugunsten anderer sozialer Gruppen. Populismus lässt sich also verstehen als eine anti-pluralistische Reaktion von unten auf eine anti-pluralistische Politik von oben. Im Rechtspopulismus verbindet sich dies darüber hinaus mit einer anti-egalitären Haltung zugunsten eines ethnisch aufgeladenen Volksbegriffs.

Die neoliberale Ideologie führt zu einer sozialen Fragmentierung der Gesellschaft und zu einer Zerstörung sozialer Identitäten. Sie führte in allen Bereichen zu radikalen Spaltungen der Gesellschaft. Diese reichen bis in die Psyche des Individuums, das, um im kapitalistischen Verwertungsprozess „erfolgreich“ zu sein, seine Fremdverwertbarkeit optimieren und sich „Flexibilisierungsanforderungen“ unterwerfen muss, die es nur durch psychische Spaltungen erfüllen kann. Auf diese Weise macht die neoliberale Ideologie das Individuum selbst für sein gesellschaftliches Scheitern verantwortlich.

Die dadurch erzeugten Spaltungen und Verluste an kollektiver Identität müssen nun psychisch bewältigt werden. Der Rechtspopulismus bietet zur Bewältigung eine Form der Re-Kollektivierung des Scheiterns an. Er entlastet gleichsam die Individuen vom Gefühl eines individuellen Versagens, indem er eine systematische Benachteiligung der eigenen Gruppe gegenüber einer anderen, oft ethnisch bestimmten Gruppe für das soziale Scheitern verantwortlich macht — eine gesellschaftlich fehlgeleitete und gefährliche, doch psychologisch erklärbare Gegenreaktion auf die Zerstörung von Gemeinschaft durch den Neoliberalismus.

Das Aufblühen des Rechtspopulismus ist also — wie vielfach in der Fachliteratur aufgezeigt wurde — eine direkte und wenig überraschende Folge der vorhergegangenen Jahrzehnte neoliberaler Politik und Ideologie der Alternativlosigkeit und der damit verbundenen Entleerung des politischen Raumes und der Zerstörung kollektiver Identitäten. Es ist also heuchlerisch, wenn nun die Parteien der neoliberalen Phantom-„Mitte“ zum Kampf gegen den Rechtspopulismus aufrufen, für dessen Aufblühen sie selbst verantwortlich sind.

Denn damit bieten sich die Täter den Opfern als Retter an. Tatsächlich jedoch nutzt die neoliberale Phantom-„Mitte“ den Rechtspopulismus für eine weitere systematische Angsterzeugung, um sich durch eine solche Bedrohungskulisse bei Wahlen zu stabilisieren. Da ihr dies immer schwerer fällt, bedient sich die Politik zunehmend autoritärer Maßnahmen, für die sie sich bereits präventiv rechtliche Legitimationen verschafft.

Kurz: Die Dinge stehen nicht gut für die Demokratie. Damit wird die Frage immer drängender: Was tun?

Die bequemste und daher beliebteste Option ist, ein paar Dinge, die uns stören, zu ändern und ansonsten im Großen und Ganzen so weiterzumachen wie bisher. Konkret bedeutet dies, auf eine Demokratisierung der Gesellschaft zu verzichten und immer wieder die Parteien zu wählen, die für die gegenwärtige Situation verantwortlich sind. Wer sich für eine solche Option entscheiden möchte, könnte zu seiner Rechtfertigung vielleicht darauf verweisen, dass die Dinge ja eigentlich gar nicht so schlecht stehen.

Denn zweifellos leben wir an bevorzugten Orten und in Zeiten, deren zivilisatorische Qualitäten weit herausragen in einer langen und gewaltreichen Zivilisationsgeschichte. Wir leben an einem Ort, an dem es seit mehr als 70 Jahren weder Krieg noch Hungersnot gibt und der den meisten einen Lebensstandard ermöglicht, der sehr viel höher ist als der ihrer Eltern und Großeltern. Das kapitalistische Wirtschaftssystem hat breite Bevölkerungsschichten von Hunger und Elend befreit. Eigentlich gibt es also Grund genug, mit der Entwicklung unserer Gesellschaft und mit dem, was wir erreicht haben, zufrieden zu sein, denn wir können uns zu den Gewinnern und Nutznießern der gegenwärtigen Weltordnung zählen.

Nun waren zu allen Zeiten die Nutznießer der gesellschaftlichen Ordnung mit ihrer Situation überwiegend zufrieden — auch zu Zeiten des Kolonialismus und der Sklaverei. Heute jedoch müsste sich unser Bild von der Welt grundlegend ändern, wenn wir den Blick weiteten und aus der Perspektive eines anderen geografischen oder sozialen Ortes, oft nur ein paar Straßenzüge oder aber einen Kontinent entfernt, oder aus einer anderen Zeit, nur wenige Jahre oder eine Generation entfernt, auf die Gesellschaft blickten. Wir müssten dann zugestehen, dass die mehr als 40 Millionen Menschen, die gegenwärtig Opfer moderner Formen der Sklaverei sind — etwa in Textilfabriken in Südostasien, auf Baumwoll- oder Kakaoplantagen, 300.000 Kinder allein auf Kakaofarmen der Elfenbeinküste; Zehntausende Kinder im Kongo, die mit bloßen Händen in engen Erdlöchern, bis zu 50 Metern tief, Coltan für unsere Handys schürfen —, dass sich all diese Menschen in einer weniger glücklichen Lage befinden und dass ihre Lage und die unsere irgendwie zusammenhängen.

Gleiches gilt für die im Jemen von deutschen Waffen getöteten Zivilisten oder für die afrikanischen Fischer, denen — zu unserem Nutzen — die EU-Politik ihre Lebens- und Arbeitsgrundlage entzieht. Diese Liste der Verlierer und Opfer unserer Lebensform ist so lang, dass irgendwann auch bei dem hartnäckigsten Verteidiger der gegenwärtigen Weltgewaltordnung die Erkenntnis aufkeimen sollte, dass sich die menschenunwürdigen Lebensbedingungen der anderen nicht einfach dadurch rechtfertigen lassen, dass diese nun einmal auf der falschen Seite der Geschichte stünden.

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Warum sind wir so blind für die zerstörerischen Folgen der kapitalistischen Weltgewaltordnung?

Das Erfolgsrezept des Kapitalismus ist seit je, dass er uns zu einem Teufelspakt verführen will. Er verspricht uns immerwährenden Fortschritt und eine kontinuierliche Verbesserung unseres Lebensstandards und sorgt zugleich dafür, dass wir unfähig sind, den dafür zu entrichtenden Preis überhaupt erkennen zu können.

Die Funktionslogik des Kapitalismus beruht auf einer zur Kapitalverwertung gehörenden radikalen Externalisierungslogik — zu der auch die gesamte staatliche Bereitstellung von Rahmenbedingungen wie Infrastruktur, Schulen, Gesundheits- und Sozialwesen gehört — und damit auf Substanzverzehr und Schädigung von Gemeingütern. Die Plünderung von Ressourcen und die Zerstörung unserer sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen ist also kein vermeidbares Nebenprodukt des Kapitalismus, sondern gerade Kern seiner Funktionslogik.

Die für uns bequemste Handlungsoption — nur ein paar Dinge, die uns stören, zu ändern und ansonsten im Großen und Ganzen so weiterzumachen wie bisher — muss geradezu zwangsläufig ins Verderben führen. Auch die Hoffnung, die Probleme, vor denen wir stehen, gleichsam im Dialog mit den Zentren der Macht zu bewältigen, muss als illusionär angesehen werden. Das zeigt bereits die Geschichte, denn alle großen emanzipatorischen Fortschritte wurden nicht im Dialog mit den ökonomisch Mächtigen erreicht — sie wurden den Mächtigen durch lange, mühevolle und oft verlustreiche soziale Kämpfe abgetrotzt. Warum auch sollten die Mächtigen in einer Situation überwältigender Macht in einem ernsthaften Umfang Macht an die Machtunterworfenen abtreten? Ein Dialog ist nur erfolgversprechend, wenn die Machtunterschiede nicht zu groß sind. Emanzipatorischer Fortschritt in Richtung einer Gesellschaft von Freien und Gleichen muss also stets erkämpft werden.

Diese Grundeinsicht in die Natur von Machtbeziehungen wurde schon in der Antike klar formuliert. Vor zweieinhalbtausend Jahren hat sie der griechische Dichter Aesop in die Form einer Fabel gefasst, also einer kurzen und schlichten Erzählung, die uns in belehrender Absicht den Witz einer Sache vermitteln soll. In dieser Fabel taucht auch das uns schon vertraute Lamm wieder auf: Es ist die Fabel vom Wolf und dem Lamm. Sie offenbart in wenigen Sätzen eine tiefe Grundwahrheit gesellschaftlicher Beziehungen. Daher wurde sie, vor allem in der Aufklärung, immer wieder aufgegriffen. Hier ist sie:

Zu demselben Fluss waren Wolf und Lamm gekommen; der Wolf stand weiter oben und viel weiter unten das Lamm. Dann von gewaltigem Hunger angetrieben, suchte das Raubtier einen Grund für Streit. „Warum trübst du mir das Wasser, sodass ich nicht trinken kann?“ Das Lamm antwortete: „Wie kann ich dir das Wasser trüben? Du trinkst doch weiter oben.“ Da der Wolf dies nicht bestreiten konnte, antwortete er: „Vor sechs Monaten hast du mich beschimpft.“ Das Lamm entgegnete: „Da war ich noch gar nicht geboren.“ Da antwortete der Wolf: „Welche Entschuldigungen du auch hast, soll ich dich deshalb nicht auffressen?“ Und er packte das Lamm und zerfleischte es.

Die Fabel zeige, so der Dichter, dass bei denen, die fest vorhaben, andere zu unterdrücken und zu schädigen, Argumente nicht zählen und letztlich das Recht des Stärkeren gelte.

In unserem Kontext möchte ich die Fabel noch einmal in moderner, weniger allegorischer Form erzählen, wobei Wolf und Lamm wohl keiner Übersetzung bedürfen: Beide begegnen sich an einem Fluss, also an etwas, das zum Gemeineigentum gehört. Der Wolf, der den Fluss als sein Eigentum betrachtet, behauptet, das Lamm stünde auf der falschen Seite der Geschichte und damit seinem Appetit entgegen. Das Lamm weist diesen Vorwurf stichhaltig zurück. Daher lässt sich der Angreifer einen zweiten Vorwand einfallen und bezichtigt das Lamm der üblen Nachrede über den Aggressor. Auch dies kann das Lamm zurückweisen. Nun macht der Wolf, ohne sich um einen weiteren Vorwand zu bemühen, klar, dass es nun einmal schlicht in seiner Natur liege, andere zu schädigen und zu fressen. -

Als Moral von der Geschichte folgt, dass selbst ein rücksichtsloser Aggressor nach Vorwänden sucht, um seine Aggressionen zu rechtfertigen — heute ist dafür ja der Kampf für „Demokratie und Menschenrechte“ sehr beliebt —, dass er letztlich jedoch schlicht das Recht des Stärkeren für sich in Anspruch nimmt. Womit schon vor zweieinhalb Jahrtausenden das Prinzip der Realpolitik, die heute die Weltgewaltordnung bestimmt, allegorisch prägnant formuliert wurde. Und damit natürlich auch die zivilisatorische Aufgabe, die wir zu bewältigen haben, wenn wir nicht in einer Weltgewaltordnung leben wollen.

Wenn wir also illegitime Macht einhegen wollen, so kann dies nicht in einem Dialog mit den Mächtigen gelingen. Wir benötigen dazu andere zivilisatorische Mittel, die wir uns erst kollektiv in entschlossenen sozialen Kämpfen schaffen müssen.

Damit bleiben uns nur zwei Möglichkeiten:

Entweder wir nehmen den Kampf auf — denn die Nutznießer einer Machtordnung haben keinen Grund, diese zu ändern — und kämpfen solidarisch in einer demokratischen Selbstermächtigung für eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft. Hierfür — und für eine Delegitimierung nicht-demokratischer Machtstrukturen — kann es natürlich keine allgemeinen Rezepte geben, nur Lehren aus der Vergangenheit. Doch für eine demokratische Selbstermächtigung haben wir viele Wege, viele Möglichkeiten und viele Anlässe, wie gegenwärtig auch die Klimabewegungen zeigen.

Oder wir finden uns mit den gegebenen Machtverhältnissen ab, machen weiter wie bisher, schweigen und überlassen es den nachfolgenden Generationen, die die Folgen unseres Schweigens zu tragen haben, über die Gründe unseres Nichthandelns und über die Gründe unseres Schweigens nachzudenken.

Die Entscheidung liegt bei uns.

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Samstag, 09. November 2019, 15:58 Uhr
~19 Minuten Lesezeit

Die gekaufte Revolution

Aus Ruinen der DDR hätte etwas ganz Neues auferstehen können — stattdessen siegte das alte BRD-System auf ganzer Linie. Exklusivabdruck aus „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“.

von Daniela Dahn
 

Foto: BravissimoS/Shutterstock.com

Die Geschichte des Endes der DDR, wie wir es aus Jubiläumsveranstaltungen und TV-Mehrteilern kennen, ist das Ergebnis lupenreiner Sieger-Geschichtsschreibung. Mythen und Legenden haben sich über die Jahrzehnte verfestigt. Etwa jene, die DDR-Bevölkerung habe sich „schon immer“ leidenschaftlich nach einem bedingungslosen Anschluss an die Bundesrepublik gesehnt. In Wahrheit wäre in den Wochen und Monaten der Wende sehr viel möglich gewesen — auch ein „Dritter Weg“, ein demokratischer Sozialismus mit rundumerneuerter Demokratie innerhalb der alten Grenzen der DDR. Die Geschichte der Wiedervereinigung ist die eigentlich traurige Geschichte sich immer weiter verengender Handlungsoptionen, verratener Träume und erstickter Aufbruchsimpulse. Was mit der Sehnsucht nach einem besseren Sozialismus begonnen hatte, mündete in devoten „Helmut“-Rufen und dem Ausverkauf der eroberten Teilrepublik an den kapitalistischen Westen.

Die Umstände der Einheit sind Schnee von gestern. Mit Folgen bis heute. Um die damaligen Abläufe haben sich vereinfachende Legenden gebildet, die das Verständnis nach wie vor belasten. Es herrscht ein konservatives Narrativ vor, wonach es für den gegangenen Weg keine Alternativen gab. Dieses einst von Margaret Thatcher geprägte Tina-Prinzip gehört zu den Glaubensbekenntnissen, die den Anforderungen an eine moderne, lebenswerte Welt am wenigsten gerecht werden. Schon weil wir weiterhin ständig an Scheidewegen stehen, sollte aus Gründen des nachholenden Dazulernens daran erinnert werden, welche Weichen damals falsch gestellt wurden.

Verfestigt hat sich ein wohl beabsichtigtes Bild, wonach gleich nach dem sogenannten Mauerfall die Massen zu schneller Einheit drängten, verbunden mit dem Wunsch nach bedingungsloser Übernahme der westlichen Ordnung. Derart seien die bedachtsam zögernden Bonner Politiker nur so zur Tempoeinheit getrieben worden. Doch schon zwei Tage nach Maueröffnung gab Kanzler Kohl vor der Bundespressekonferenz die Marschrichtung vor: „Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Deutschen die Einheit ihrer Nation wollen.“ Obwohl Ende November 1989 die meisten DDR-Bürger die Erfahrung hinter sich hatten, wie es ist, mit Begrüßungsgeld durch westliche Konsumtempel zu schreiten, entschieden sich 86 Prozent für „den Weg eines besseren, reformierten Sozialismus“, nur fünf Prozent wollten einen „kapitalistischen Weg“, neun Prozent einen „anderen Weg“ (1).

Rückblickend ist es eher erstaunlich, dass die Menschen der Minderheit von Oppositionellen, Theologen und Bürgerrechtlern mit ihren Angeboten einer grundlegenden Erneuerung für eine kurze Zeit die Regie überließen. Als der damalige Vorsitzende der Ost-CDU Lothar de Maizière zehn Tage nach Öffnung der Mauer der Bild am Sonntag ein Interview gab, konnte er sich sicher sein, mit seiner Meinung nicht allein zu stehen:

„Ich halte Sozialismus für eine der schönsten Visionen des menschlichen Denkens. (…) Wenn Sie glauben, dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet, dann müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind.“

Die Einheit sei nicht „Thema der Stunde“, sondern beträfe „Überlegungen, die vielleicht unsere Kinder und Enkel anstellen können“. Was weder de Maizière noch sonst jemand im Osten wusste: Drei Tage nach diesen Überlegungen legte das Direktoriumsmitglied der Bundesbank, Claus Köhler, auf einer internen Sitzung des Zentralbankrates ein Konzept für eine Währungsunion vor. Noch gab es Bedenken. Aber der keine Kosten scheuende Plan zum Aufkauf der Revolution war geboren.

Auf Seiten der als Revolutionäre Bezeichneten war die Zuversicht, endlich mitgestalten zu können, noch ungebrochen. Dass es wichtig war, den taumelnden Verhältnissen durch neue Gesetze Stabilität zu geben, war klar. Ich saß zu dieser Zeit in zwei Arbeitsgruppen, eine vom Schriftstellerverband, die ein neues Pressegesetz mit innerredaktioneller Mitbestimmung entwarf. Und eine von der ersten unabhängigen Untersuchungskommission der DDR, die sich nach den gewaltsamen Vorkommnissen im Oktober um ein bürgernahes Polizeigesetz kümmerte, wie es auch heute noch ein Fortschritt wäre.

Im Osten hoffte man noch, so könne Demokratie funktionieren. Wir gingen unverzüglich dazu über, den Augiasstall selbst auszumisten. Und ahnten nicht, dass finanzstarke Kräfte am Werk waren, die den Stall so schnell wie möglich mit allem Unrat kaufen wollten. Weil der Mist den Preis senkt und überdies bestens geeignet ist, ihn uns ein Leben lang vor die Nase zu halten. In seiner „Rede an die Deutschen in der DDR“ warnte der langjährige Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus:

„Während sonst Leute, die Geld haben, die Orte von Revolutionen fliehen, kann man hier, etwa im Palasthotel, wo ich wohne, die westlichen Gesichter studieren — die Aufkäufer sind da!“

Der Runde Tisch hatte Neuwahlen zur Volkskammer beschlossen und zugleich verlangt, dass sich die Westpolitiker aus dem Wahlkampf heraushalten mögen. Ich konnte im „Demokratischen Aufbruch“ beobachten, wie sich die Westler, wohlmeinend oder nicht, keinen Tag an diese Forderung hielten. Unsere improvisierten Büros wurden mit Spenden und Computern versorgt, die Westmedien boten rund um die Uhr Raum für Interviews und Berichte, Berater wichen uns nicht mehr von der Seite, und bei größeren Zusammenkünften gastierten und redeten huldvoll Spitzenpolitiker aus Bonn.

Die Dosis an besorgniserregenden Fakten zum finanziellen, moralischen und ökologischen Zustand der DDR, die die Medien verbreiteten, erhöhte sich von Stunde zu Stunde. Bankrottgerüchte waren aus politischen Gründen oft heftig überzogen, wie die Deutsche Bank später feststellte. Dazu gehörte auch der sagenumwobene Schürer-Bericht, der die DDR-Auslandsschulden aufgelistet, aber die Guthaben, die weit über die Hälfte davon abdeckten, aus taktischen Gründen weggelassen hatte. So war es für alle schwer, sich ein fundiertes Bild zu machen. Die Rolle von Fake News und Medien als Stimmungsmacher in diesen Wochen ist noch nicht untersucht.

Bei einem Besuch am 20. November in Berlin knüpfte Kanzleramtsminister Seiters Bedingungen an eine mögliche Finanzhilfe der Bundesrepublik, die darauf hinauslief: erst Abschaffung des Sozialismus, dann Geld. Drei Tage später schrieb Klaus Hartung in der taz:

„Solch eine Politik zerstört jenen zeitlichen Spielraum, den die Massen von Leipzig und die vielen oppositionellen Gruppen in allen Lagern unbedingt brauchen, um überhaupt das praktizieren zu können, was Selbstbestimmung heißt.“

Unheilbares Deutschland

Viele Wissenschaftler, Theologen, Juristen und Künstler aus dem Westen hatten seit Ende 1989 gewarnt. „Für Euer Land, für unser Land“, hieß am 2. Dezember eine Erklärung von drei Dutzend Autoritäten, deren Stimme inzwischen spürbar fehlt. Inge Aicher-Scholl, Heinrich Albertz, Annemarie Böll, Karl Bonhoeffer, Helmut Gollwitzer, Margarethe Mitscherlich, Ossip K. Flechtheim, Luise Rinser, Dorothee Sölle und andere schrieben:

„Nicht nur Euer Land, Ost und West stecken in einer tiefen Krise. In dieser Situation werden bewusst nationalistische Gefühle angeheizt. Bundeskanzler Kohl hat mit seinem ,Zehn-Punkte-Plan‘ die ,Wiedervereinigung‘ zu westdeutschen Bedingungen zum Programm erhoben. (…) Damit würde nicht nur Euer Versuch, einen Weg sozialistischer Demokratie aus der Krise Eurer Gesellschaft zu finden, verschüttet. Auch das reformerische Bemühen der sozialen Bewegungen in unserm Lande würde einen schweren Rückschlag erleiden.“

Ein Mitunterzeichner, der österreichische Futurologe Robert Jungk, flehte geradezu:

„Lassen Sie sich um Gottes willen nicht von den Konzepten kapitalistischer Staaten verführen. Wenn bei uns weiter in der bisherigen Art regiert und produziert wird, stehen unvermeidlich schwere, nicht wiedergutzumachende Krisen ins Haus.“

Inzwischen sind diese Krisen unsere ständigen Begleiter. Vom Keller bis unters Dach. Was anfangs den Euphemismus „Revolution“ verdiente, war der ansatzweise Wandel zu einer Demokratie, die den Bürgern mehr Möglichkeiten des Mitdenkens und Mitentwerfens bot als jede andere bisher praktizierte Regierungsform.

„Das könnte ein Modell für die Welt werden“, schwärmte Jungk. 30 Jahre nach dem Niedergang des Realsozialismus steht die Welt ohne jedes durchsetzungsfähige Modell da. Aber welches Land hört schon auf seine Intellektuellen. Von ihnen veröffentlichte im Dezember 89 die Frankfurter Rundschau die „Erklärung der Hundert: Wider Vereinigung“. Es werde unverhohlen ein Export der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik nach Osten angepeilt. Diese Großmannspolitik werde „die Wiedervereinigung in einem Scherbenhaufen enden lassen und den Aufbau des Europäischen Hauses gefährden“. Ein Scherbenhaufen als Humus für die AfD.

Auch die Vorhersage, dass Europa durch deutsche Großmannspolitik bedroht werde, war weitsichtig und zeigt zugleich: Man konnte das alles absehen. Die eingetretenen Entwicklungen hatten nichts mit einer vom Himmel gefallenen Globalisierung zu tun. Der neoliberale Raubmensch-Kapitalismus war nur insofern ein Naturereignis, als nicht zu bestreiten ist, dass auch Aasgeier natürliche Wesen sind.

Kohls Ausschüttung des eiligen Geistes hatte auch die Leipziger Montagsdemonstranten in rivalisierende Gruppen polarisiert.

Gegen Tausende Träger schwarz-rot-goldener Fahnen — wo immer die herkamen — rückte ein großer Trupp Studenten an mit Losungen wie: „Reinigen statt einigen“, „Kommt die DM zu früh, kommt die Vernunft zu spät“. Die meist etwas Älteren mit den Fahnen skandierten daraufhin: „Rote aus der Demo raus!“ Die Jungen wehrten sich mit: „Nazis raus!“ Es kam zu Tumulten. Plötzlich regnete es vom Himmel 100-DM-Scheine. Mit dem umseitigen Aufdruck: Schon eingekauft? Für einen Moment verschlug es beiden Seiten die Sprache. Wird die Demo als Erstes gekauft? Wer bei ARD und ZDF in der ersten Reihe saß, bekam künftig fast nur noch die nationale Flagge zu sehen und Demonstranten, die eine schnelle Einheit forderten, als das nachweislich noch nicht Mehrheitsmeinung war.

Am heftigsten wurde die DDR in dieser Zeit dadurch destabilisiert, dass täglich etwa 2.000 Menschen durch die offene Mauer das Land verließen. Der sowjetische Botschafter Kwizinskij sprach am 5. Dezember im Bundeskanzleramt vor. Die sowjetische Führung sei besorgt, dass die westlichen Massenmedien die Menschen in der DDR zur illegalen Ausreise aufstacheln.

Die Bundesregierung kam in dieser den Lebensnerv treffenden Frage dem Modrow-Kabinett keinen Millimeter entgegen. Euphorische Empfänge in den Aufnahmestellen, Begrüßungsgeld und bevorzugte Hilfe bei der Suche nach Wohnung und Arbeit waren garantiert und wurden öffentlichkeitswirksam propagiert. „Wir sind uns darüber im Klaren“, notierte Kohl-Berater Horst Teltschik in sein Tagebuch, dass erst „nach der Wahl Übersiedler so behandelt werden müssen wie Bundesbürger, die ihren Wohnort wechseln“ (2). Kohl frohlockte im In- und Ausland, dass die DDR „die Lage nicht im Griff“ habe. Und auf dem Ku’damm demonstrierten 20.000 Westberliner unter dem Motto: Unheilbares Deutschland.

Wahlbeeinflussung und endgültiger Bruch mit dem Sozialismus

Bei seinem ersten großen Wahlkampfauftritt in Erfurt verkündete der führende Historiker unter tosendem Beifall ein achtes Weltwunder. Nach den Hängenden Gärten zu Babylon nun die Blühenden Landschaften in Kohlrabien. Auf der Montagsdemo in Leipzig wurde indessen ein Bürgerrechtler, der vor drohender Arbeitslosigkeit warnte, von Aufhören-Rufen unterbrochen. Eine Sprecherin, die Wuchermieten prophezeite, falls westdeutsche Eigentümer zurückkehren, wurde ausgebuht. Verteilt wurden massenhaft Flugblätter der bundesdeutschen Parteien. Diese haben für den vom Runden Tisch unerwünschten Wahlkampf in der DDR 7,5 Millionen DM ausgegeben, wie erst später bekannt wurde. Der Löwenanteil ging von der CDU an die neue Ostschwester und von der CSU an die rechtskonservative DSU.

Hatte sich der „Demokratische Aufbruch“ (DA) in seiner Anfangsphase noch gegen die Unterstellung verwahrt, „die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen“, so hat er im Laufe des Herbstes einen Rechtsruck vollzogen und es dem machtbewussten Kohl leicht gemacht, den zwielichtigen Vorsitzenden des DA, Wolfgang Schnur, für die „Allianz für Deutschland“ zu vereinnahmen. Bei dem im kleinsten Kreis von Kohl-Vertrauten in Westberlin gegründeten Wahlbündnis dieser drei ging es wohlgemerkt um Volkskammerwahlen der DDR – kann man sich mehr Wahlbeeinflussung vorstellen? Doch, kann man. Und daran zu erinnern ist nicht der Schnee von gestern, sondern betrifft das bis heute im Osten anhaltende Dilemma.

Die Stärke jener Allianz war schwer zu beurteilen, Umfragen sagten immer noch einen Erdrutschsieg der SPD voraus. Am 6. Februar traf sich Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl (SPD) mit dem Staatsbankpräsidenten der DDR Kaminsky und der DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft und stimmte öffentlich deren Haltung zu, nach der eine schnelle Währungsunion eine völlig abwegige Idee sei. Luft hatte zudem klargemacht, dass ein so einschneidender Eingriff nur über einen Volksentscheid beschlossen werden dürfe. Schon um den Wählern die Tragweite eines solchen auf den ersten Blick verlockenden Angebotes bewusst zu machen.

Ohne Rücksicht auf die DDR-Regierung und den eigenen, damit desavouierten Bundesbankpräsidenten bot Kanzler Kohl am selben Tag eine baldige Währungsunion mit einem Umtauschverhältnis von 1:1 an. Der wie alle völlig überraschte SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel sprach sich aus guten Gründen dagegen aus. Die sowieso erregten DDR-Bürger waren nun elektrisiert.

Drei Tage später setzte Kohls engster Berater Horst Teltschik im Bundespresseamt noch einen drauf. Er sagte den nahen wirtschaftlichen Kollaps der DDR voraus, es zeichne sich ab, dass sie in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sei und erhebliche Stabilitätshilfen benötige. Am selben Tag distanzierte sich der sachkundige Präsident des Bundesverbandes Deutscher Banken und Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Wolfgang Röller, auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz von dieser Behauptung und sprach von „durchsichtigen Bankrottgerüchten“. Doch dieses Dementi fand in den Medien kaum Beachtung, die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit war Aufmacher jeder Zeitung.

Teltschik erklärt seinem Tagebuch: „Wir hatten angesichts der wirtschaftlichen Situation in der DDR sowie der ständig steigenden Übersiedlerzahlen seit Tagen über einen solchen Schritt diskutiert“ (mit wem wohl, wenn nicht mal mit dem Bundesbankpräsidenten? D. D.). „Unsere Überlegung war: Wenn wir nicht wollen, dass sie zur D-Mark kommen, muss die D-Mark zu den Menschen gehen“ (3).

Diese Formulierung vom 6. Februar ist bemerkenswert. Heißt es doch bis heute, die Straße habe nach dem Geld geschrien, sodass die Politiker nicht anders konnten, als es rauszurücken. Es ist aber erwiesen, dass die Losung „Kommt die D-Mark nicht nach hier — gehen wir zu ihr!“ erstmalig am 12. Februar auf der Montagsdemo in Leipzig auftauchte. Also mindestens sechs Tage, nachdem die Idee im Kreis der Kohlvertrauten ersonnen, auf unergründlichen Wegen in Leipzig die Massen ergriff und zur materiellen Gewalt wurde. Nun war klar, wozwischen die DDR-Bürger in einigen Tagen die Wahl haben würden: die D-Mark 1:1 oder Kollaps. Zumal der Begriff „Zahlungsunfähigkeit“ ein völliges Novum war und große Irritation auslöste.

In Gesprächen auf der Straße oder in der Sparkasse fragten sich die Menschen, ob denn die Auszahlung der Löhne und Spareinlagen noch gesichert sei. In den darauffolgenden Tagen kam es zu einer fast flächendeckenden Abkehr von allerdings längst brüchig gewordenen Überzeugungen. Der einzige programmatische Unterschied der Ost-CDU zur großen Schwesterpartei blieb vorerst die kompromisslose Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Ansonsten vollzog Lothar de Maizière, nur drei Wochen nachdem er dies noch den Kindern und Enkeln überlassen wollte, den endgültigen Bruch mit dem Sozialismus.

Die SPD mit ihrer völlig berechtigten zögerlichen Haltung zu übereilter Einheit stürzte in der Volkskammerwahl vom 18. März ab — von noch unlängst prognostizierten 54 Prozent auf 21,9 Prozent. Sie hat sich davon jahrelang nicht erholt. Der Riesenvorsprung der CDU erklärte sich aus deren Erlösungsversprechen. Die Leute glaubten, das Kapital zu wählen und wählten die Kapitulation.

Nebenbemerkung: Treffen mit Karl Otto Pöhl

In einem vierstündigen Gespräch, dessen Niederschrift er später autorisierte, erklärte mir drei Jahre später der inzwischen bei der Privatbank Saal-Oppenheim arbeitende Karl Otto Pöhl, warum die Währungsunion eine Katastrophe war: „Würde man über Nacht in der Bundesrepublik den viel stärkeren Dollar einführen, wäre die deutsche Wirtschaft sofort ruiniert. Oder wenn Österreich die D-Mark übernehmen würde — der Schilling stand 1:7 —, wäre es sofort völlig pleite. Ich habe allein die Idee für phantastisch gehalten.“

Pöhl war immer noch die Verbitterung anzumerken. Ohne ihm, dem Präsidenten der Bundesbank, beim persönlichen Gespräch am Tag zuvor auch nur eine Andeutung zu machen, hätten Kohl, sein CSU-Finanzminister Waigel und der FDP-Vorsitzende Graf Lambsdorff aus dem hohlen Bauch und unter Umgehung des Parlaments die unverzügliche Währungsunion angeboten. Er mache sich schwere Vorwürfe, dass er nicht sofort demonstrativ zurückgetreten sei.

In der Schicksalsstunde der Nation glaubte er loyal sein zu müssen, habe ihr damit aber nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch geschadet. Denn „es war doch absehbar, dass man nach Angleichung der Preise auch die Löhne angleichen muss und damit jeder Standortvorteil entfallen würde, dass das Ganze nur zu einem Zig-Milliarden-Beschäftigungsprogramm für die Westwirtschaft würde und im Osten Millionen Arbeitsplätze vernichtet werden.“ Auf meine Frage, wie man eigentlich den Bankrott einer Wirtschaft messe, meinte Pöhl:

„Die DDR war ja nicht extrem verschuldet, uns haben die Auslandsschulden nie beunruhigt. Und die Innenschulden waren vollkommen belanglos, die spielten überhaupt keine Rolle, waren eine rein buchhalterische Betrachtungsweise“ (4).

Beide Seiten hatten an der Nahtstelle konkurrierender Ideologien über ihre Verhältnisse gelebt. Gemessen an der Verschuldung pro Kopf, seien die Westdeutschen sogar drei Mal so verschuldet in die Einheit gegangen. Von Zahlungsunfähigkeit zu sprechen, sei eine Unverschämtheit gewesen. Die DDR sei nicht wegen ihrer Schulden gekippt, sondern weil das System moralisch diskreditiert war und Gorbatschow die Hand weggezogen habe.

Zweifellos. Und weil der Westen seine vereinnahmende Hand sofort ausgestreckt hat. Eine Mischung aus angestautem Frust über die diktatorischen Machenschaften der DDR, aus neuen Gerüchten und Desinformationen hatte bewirkt, dass die Leute die Faxen satthatten. Sie ließen Hammer und Sichel fallen, die Gärten sollten nun andere zum Blühen bringen.

Wandel durch Restauration — das war letztlich selbstzerstörerisch. Die schon nicht mehr ganz so neuen Länder können ihren Bedarf immer noch längst nicht selbst erwirtschaften, woran sich aufgrund der vollzogenen Deindustrialisierung in den nächsten Jahrzehnten auch nichts ändern wird. Die Treuhand hat eine Gegend zurückgelassen, die aus eigener Kraft weniger lebensfähig ist als zuvor, wenn auch auf deutlich höherem Niveau. Auf die Alimentierung durch Sozialleistungen gibt es einen gesetzlichen Anspruch, am Osten sparen geht nicht. Die alt aussehenden Länder sitzen in der Transfer-Falle.

Schon 2004 wollte laut Forsa jeder vierte Westdeutsche die Mauer wiederhaben, unter den Ostdeutschen waren es nur halb so viele, sie sehen sich mehrheitlich als Gewinner. Der Sieger muss zahlen, und sein Wertesystem bröckelt. Nach 30 Jahren ist die Erinnerung an Vorgänge, die damals die Gemüter auf beiden Seiten erregten, verblasst. Die Jüngeren haben vermutlich nie davon gehört, wie von so vielem anderen auch nicht. So sei hier nur im Zeitraffer an die wohl größte Kriminalgeschichte auf dem ungepflasterten Weg zur Einheit erinnert: an die Veruntreuungen der Treuhand.

Da die Gefahr kommender Raubzüge absehbar war — privare heißt rauben—, beschloss der DDR-Ministerrat der Regierung Modrow die Gründung einer „Anstalt zur Treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums“. Die Bewahrung des Volkseigentums war oberstes Gebot, die Art von sozialistischer Marktwirtschaft, in der es sich bewähren sollte, blieb in der Eile vage. Diese Anstalt sollte der Volkskammer unterstehen, Eingriffe in die Geschäftsführung der Betriebe waren nicht erlaubt. Doch am 18. März 1990 haben sich die Wähler mit großer Mehrheit für die blühenden Gärten in Kohlrabien entschieden. Die Fachleute aus der DDR, auch die DDR-Bürgerbewegung, waren damit abserviert. Sofort strömten Tausende westliche Wunderheiler als bestellte oder selbsternannte Berater ins Land. Unter deren heftiger Mitwirkung trat am 1. Juli 1990 der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in Kraft.

Nun bekamen die Ostdeutschen die ersehnte DM, aber die zentralen Verpflichtungen des Vertrages wurden nie erfüllt. Statt die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Unternehmen, wie darin zugesagt, zu stärken, brachen 80 Prozent der DDR-Industrie zusammen.

Statt den Bürgern „nach Möglichkeit“ ein „verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen“ einzuräumen, gab es nur ein Anteilsrecht an Schulden und nochmals Schulden. Statt „zu einem hohen Beschäftigungsstand“ führte die überstürzte Währungsunion zum Abbau von vier Millionen Arbeitsplätzen, während zur selben Zeit in Westdeutschland zwei Millionen neue geschaffen wurden.

Statt zu „außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum“ brach die Außenwirtschaft bei stetigem Wirtschaftsschwund zusammen. Statt dass die Verträge mit den osteuropäischen Ländern des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe wie vereinbart „Vertrauensschutz“ genossen und sogar ausgebaut werden sollten, sanken die Handelsumsätze ostdeutscher Betriebe mit den sogenannten Bruderländern von jährlich 50 Milliarden auf fünf Milliarden. Nach kurzer Zeit hatten westdeutsche Unternehmen den einstigen DDR-Export in diese Länder in vollem Umfang übernommen, hier klappte der Ausbau sehr lukrativ. Die osteuropäischen Märkte waren nicht weggebrochen, wie immer behauptet wird, sondern weggenommen.

Gleichzeitig mit diesem Bankrott-Vertrag für den Osten erließ die Volkskammer unter CDU-Ministerpräsident Lothar de Maizière ein neues Gesetz zur Treuhand. Diese unterstand nun nicht mehr dem Parlament, sondern der Regierung, Eingriffe in die Geschäftsführung der 8.500 Betriebe waren weitgehend erlaubt, und das Ziel wurde auf den Kopf gestellt: Privatisierung des Volkseigentums. Dabei sollte nach Möglichkeit angestrebt werden, die enteigneten Bürger mit Anteilsscheinen zu entschädigen. Es war immerhin noch eine DDR-Regierung, die ein Bewusstsein dafür hatte, dass dieses Eigentum denen zustehen sollte, die es erarbeitet hatten. So kam die gute Absicht, beschmunzelt von den Wunderheilern, in den Einigungsvertrag.

Nach dem Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 wurde die Treuhand sofort dem Bundesfinanzministerium unterstellt. Ein Leitungsausschuss aus 100 westdeutschen Experten — wo immer diese plötzlich herkamen — begann umgehend, etwa 2.000 Betriebe im Jahr abzuwickeln. Wie seriös die meist nur nach Aktenlage vorgenommene, betriebswirtschaftliche Prüfung ausfiel, mag erahnen, wer verstehen will, weshalb die leitenden Mitarbeiter der Treuhand von CSU-Finanzminister Waigel eine Freistellung vom Straftatbestand der „groben Fahrlässigkeit“ bekamen. Grob fahrlässig in staatlichem Auftrag — das war das eigentliche Programm der untreuen Hand. Ostdeutsche Interessen waren nur dazu gut, sie zu missachten. Der Einigungsvertrag wurde gebrochen, wo immer es ging. Oft genug wurden Betriebe dichtgemacht, die vollkommen intakt waren, aber als ökonomische oder kulturelle Konkurrenten störten.

Wie etwa die Untreuhänder den Auftrag des Einigungsvertrages verstanden, die „kulturelle Substanz Ostdeutschlands“ zu erhalten, beschrieb der Gründer des nach der Wende entstandenen Linksverlages, Christoph Links, in seiner Dissertation (5). Die ostdeutschen Verlage „wurden nicht ausgeschrieben, sondern ohne Konsultation der Betroffenen nach unüberprüfbaren Kriterien ,diskret‘ vergeben. Als zentrales Problem erwies sich dabei der vorrangige Verkauf an ihre direkten Konkurrenten im Westen des Landes. (…) Viele Verlage wurden für die symbolische eine Mark abgegeben“, unter Auflagen, die weder kontrolliert noch eingehalten wurden.

„Zu Beginn lag die Zuständigkeit für sämtliche DDR-Verlage bei einem einzigen Mitarbeiter, einem Bauingenieur. Ihm wurden — nach Protesten aus der Kulturwelt — zwei Teilzeitarbeiter für ein Jahr zur Seite gestellt.“

Deutlicher konnte das Mutterland seine Verachtung der Kultur der beigetretenen, vaterlandslos gewordenen Gesellen nicht demonstrieren. Das Ergebnis war das erwünschte: Von den einstigen 78 DDR-Verlagen existieren heute noch 12. Von 6.100 Arbeitsplätzen gingen 5.500 verloren. Da sind die heimatlos gewordenen Autoren nicht mitgezählt.

„Selbst mit den neugegründeten Verlagen zusammen werden in den ostdeutschen Bundesländern heute nur noch 2,2 Prozent der gesamten deutschen Buchproduktion erzeugt.“

Leipzig, jahrhundertelang die „Nummer eins der deutschen Buchstädte, rangiert inzwischen auf Platz 16 hinter Göttingen, Saarbrücken und Heidelberg“. Die Erinnerung an DDR-Kultur wurde so Gedanke um Gedanke ausgelöscht.

Innerhalb kürzester Zeit gelangten in derart kolonialer Manier 95 Prozent des Volkseigentums in die Hände westlicher Unternehmer. Dadurch wurden die Ostdeutschen zu der Bevölkerungsgruppe in Europa, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie lebt.

Ihr Bodenreformland, die Betriebe und Großkombinate wurden unter Konditionen privatisiert, die sie selbst aus dem Prozess weitgehend ausschlossen. Weder gehörten sie zu dem vernetzten Filz, der jetzt zuschlug, noch hatten sie das nötige Geld, noch die Kreditwürdigkeit, noch die Vorzugsbedingungen, die Alteigentümern eingeräumt wurden. Egon Bahr kommentierte damals bitter:

„In Ostdeutschland sind feudale, frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen worden, wie sie selbst in Afrika und im Orient vor zwei Generationen überwunden wurden.“

Es war schon erstaunlich, wie riesig das Kaufinteresse an als total marode beschriebenen Betrieben war. Natürlich wussten die östlichen Direktoren besser als alle anderen, wie heruntergekommen und veraltet ihre technische Ausrüstung teilweise war, aber auch, welche Anstrengungen und Devisen bereits erbracht worden waren, um zu modernisieren und auf elektronische Datenverarbeitung umzustellen.

Bald nach der Wende war mir in Bethlehem, im US-Staat Pennsylvania, ein riesiges, vor sich hin rostendes Stahlwerk aus den 20er Jahren aufgefallen, das bis vor kurzem produziert hatte. Ich machte damals aus naheliegendem Mitgefühl ein Rundfunkfeature mit entlassenen Arbeitern, deren Familien seit mehreren Generationen mit dem Werk verbunden waren. Dem einzigen größeren Anbieter von Arbeitsplätzen in der Region. Allzu gern hätten sie an den veralteten Hochöfen weitergearbeitet, schließlich wurde nicht dichtgemacht, weil alles so altmodisch und unproduktiv war, sondern weil die Nachfrage nach Stahl in den USA und weltweit drastisch zurückgegangen war. Erst da begann ich zu ahnen, dass es wohl nirgends auf der Welt, mit Ausnahme der Bundesrepublik natürlich, eine Wirtschaft gab, die nicht mit zum Teil veralteten Ausrüstungen produzierte.

Am Anfang der kurzen Rohwedder-Ära wurde der Gesamtwert des DDR-Volkseigentums noch zwischen 600 Milliarden und 1 Billion DM taxiert. Am Ende der Treuhandtätigkeit war es gelungen, den Wert einer gesamten Volkswirtschaft, mit ihren riesigen, exportstarken und nicht selten mit Westtechnik ausgerüsteten Kombinaten, mit dem schuldenfreien Grund und Boden und allen volkseigenen Immobilien zu einem Wert von minus 330 Milliarden DM herunterzufälschen. Eine größere Misswirtschaft hat es nie gegeben. Die Treuhandakten sind bis heute verschlossen.

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Samstag, 09. November 2019, 15:59 Uhr
~19 Minuten Lesezeit

Der Wiedervereinigungs-Mythos

Nur wer die Herrschaftslegenden zur Deutschen Einheit hinterfragt, versteht, warum es nach wie vor eine Ost-West-Spaltung gibt. Wir veröffentlichen daher unsere Sonderausgabe „30 Jahre Wende“, die vom 9. bis 16. November 2019 erscheint.

von Stefan Korinth
 

Foto: Animaflora PicsStock/Shutterstock.com

Vor 30 Jahren öffnete die DDR-Regierung für alle Bürger die Landesgrenzen gen Westen. Ursache dafür war der Druck der Straße. Keine elf Monate später war der Staat DDR Geschichte. Die „neuen Bundesländer“ gehörten nun zur BRD. Doch was viele Ostdeutsche zunächst als hoffnungsvollen Schritt hin zu mehr Wohlstand, Freiheit und Abrüstung verstanden, wuchs sich schnell zu einem veritablen Vereinigungsschock aus. Neue positive Möglichkeiten wurden brachial von Massenarbeitslosigkeit, sozialem Abstieg und öffentlicher Dauerdemütigung überlagert. Um die Negativfolgen der neoliberalen Schocktherapie für den Osten zu kaschieren, entwickelten Verantwortliche in Politik und Medien Rechtfertigungsmythen, die sie selbst heute teils kritisch hinterfragen, meist aber trotzig verteidigen. In seinem Themenschwerpunkt „30 Jahre Wende“ beleuchtet der Rubikon eine Woche lang solche Mythen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und mit wechselnden journalistischen Mitteln. Das ist notwendig, da das, was 1989 im Osten begann, bis heute fortwirkt. Es handelt sich nicht um Übergangsphänomene, die bald verschwinden. Insofern gilt: Wer die Gegenwart verstehen und Zukunft beeinflussen will, der muss zuerst in die Vergangenheit schauen.

„Niemand wird Dir helfen. Niemand wird kommen und Dir eine Arbeit anbieten. Du musst begreifen, dass Du nichts erreichen wirst, wenn Du Dich nicht selbst darum kümmerst.“

Noch heute habe ich die Worte meiner Mutter im Ohr. Besorgte Dauerpredigten, die einem 16-Jährigen zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr rausgehen. Scheinbar. Denn die Worte sind ja doch hängengeblieben. Es war etwa 1999 in meiner brandenburgischen Heimat. Als angehender Abiturient dachte ich vielleicht wirklich, die Welt fliegt mir nach der Schule zu, die Arbeitswelt warte nur auf tolle Leute wie mich. Ich weiß es nicht, an meine Gedanken von damals kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an die Worte meiner Mutter.

In den vergangenen Monaten habe ich mich intensiv wie nie mit der DDR, der Zeit der Wende und den folgenden Transformationsjahren in Ostdeutschland beschäftigt. Und immer wieder kamen mir die Sätze meiner Mutter in den Sinn. Warum? So besonders sind die nicht. Wahrscheinlich sagen Eltern solche Sätze in Deutschland tagtäglich zigtausendfach. Erst langsam erschloss sich mir, dass in diesen — und vielen anderen — Aussagen meiner Eltern schwer errungene, entscheidende Einsichten der Wendezeit geronnen sind. Zehn Jahre zuvor hätte mir meine Mutter solche Empfehlungen wahrscheinlich nicht gegeben. Sie wären ihr vielleicht nicht mal in den Sinn gekommen.

Der tägliche Blick auf einen hoffnungslosen Arbeitsmarkt

Sie ist Lehrerin. Sie wusste, wovon sie spricht. Seit Jahren erlebte sie täglich, wie gering die Möglichkeiten ihrer Gesamtschüler am hoffnungslosen Brandenburger Arbeitsmarkt weit außerhalb des Berliner „Speckgürtels“ waren. Die beiden großen Betriebe meiner Heimatregion waren geschlossen worden. Und meine Mutter erlebte, welche katastrophalen Folgen es für Betroffene hatte, so wie früher auf staatliche Strukturen zu vertrauen. In den 1980er Jahren war das noch völlig anders. In der DDR wurde ja niemand arbeitslos — nicht mal, wenn man es wollte.

Meine Mutter hatte Ende der 1990er Jahre ihre persönlichen Lehren aus den Geschehnissen der Nachwendejahre gezogen. Erfahrungen, die auch mein Vater machen musste, der sich mit Leidensbereitschaft nach 1990 aus der Arbeitslosigkeit kämpfen musste. Sie hatten Lehren ziehen müssen, die ihrer eigenen Sozialisation in der DDR total entgegenstanden. Lehren von Eigeninitiative, Konkurrenzdenken, Ellenbogenmentalität und Selbstverantwortung. Einstellungen, die meine Mutter inzwischen als unverzichtbar identifiziert hatte, um im Haifischbecken Arbeitsmarkt eine Chance zu haben.

Sie selbst hatte zwar das Glück, im selben Beruf weiterarbeiten zu können wie vor der Wende — ein Glück, das nur wenige Ostdeutsche hatten — aber sie erlebte täglich, dass sich im vereinigten Deutschland niemand um die Menschen kümmert, im guten wie im schlechten Sinne. Sie erlebt das übrigens bis heute.

Ich musste später schmerzlich feststellen, dass meine Mutter Recht mit ihrer Mahnung hatte — zumindest teilweise. Denn in der modernen Bundesrepublik kann zwar tatsächlich niemand bei der Suche nach Arbeit, Wohnung oder Kinderbetreuungsplätzen auf Unterstützung durch öffentliche Strukturen vertrauen. Aber auch hier im Westen, in Hannover, wo ich seit 16 Jahren lebe, hilft man sich. Nur eben in zwischenmenschlichen und beruflichen Netzwerken, und in die muss man erstmal hineinfinden. Zudem ist hier die wirtschaftliche Lage weitaus rosiger und es gibt — anders als in Brandenburg — viel bessere Chancen, eine Arbeit außerhalb des Niedriglohnsektors zu finden. Im Osten schützt ein Diplom nicht vor solch einem Schicksal.

Der Osten ist Niedriglohnland

In Ostdeutschland liegt die Arbeitslosenquote seit der Einheit durchgängig deutlich über der Quote des Westens. Jahrelang war sie annähernd doppelt so hoch. Diejenigen, die zumindest Arbeit haben, verdienen zu großen Teilen drastisch wenig Geld. Jeder dritte Arbeitnehmer in den neuen Ländern ist im Niedriglohnsektor tätig. Von den besser Bezahlten fürchten viele, genau da hineinzurutschen.

Entsprechend unterdurchschnittlich ist die Kaufkraft der Menschen im Osten verglichen mit den Westdeutschen. Noch auf Jahrzehnte hinaus werde die „Finanzschwäche“ der ostdeutschen Länder anhalten, berichtete kürzlich das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Die ökonomischen Unterschiede zwischen Ost und West werden sich laut Studie „in den kommenden 30 Jahren sogar wieder verstärken“.

Die verlängerte Werkbank des Westens

Von „Aufholen“ kann schon lange keine Rede mehr sein. Die Wirtschaftsleistung im Osten ist weitaus niedriger als im Westen — folglich auch die Steuereinnahmen der neuen Bundesländer. Ostdeutschland ist heute eine „Filialökonomie“ des Westens, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Roesler (1). Das bedeutet, die Betriebe im Osten sind fast ausschließlich Zweigwerke westdeutscher oder ausländischer Konzerne. Eine direkte Folge der Privatisierungs- und Liquidierungspolitik der Treuhand.

Ihre Steuern zahlen diese Unternehmen im Westen, wo die Konzernzentralen sitzen. Dort befinden sich meist auch die Abteilungen für Forschung und Entwicklung, das Marketing und das Controlling — mithin das gesamte höhere und der Großteil des mittleren Managements sowie alle weiteren höher qualifizierten Arbeitsplätze. Investitionsentscheidungen werden ebenfalls im Westen getroffen. Die Betriebsteile im Osten sind lediglich verlängerte Werkbänke, also die Teile mit der niedrigsten Wertschöpfung und der geringsten Entscheidungsbefugnis.

Zur Verdeutlichung: Roesler spricht hier nicht von der ungleichen Ost-West-Verteilung innerhalb eines einzelnen Unternehmens, sondern von einem flächendeckenden Strukturnachteil des gesamten Ostens. Der „brain drain“ — also die Abwanderung vieler sehr gut qualifizierter Einwohner — aus Ostdeutschland bleibt unter solchen Voraussetzungen noch lange erhalten.

https://youtu.be/d3WPc_FuGfo

ZDF: Die Anstalt vom 5. November 2019

 

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Die Holocaust-Manipulation
Samstag, 16. November 2019, 15:58 Uhr
~10 Minuten Lesezeit

Die Holocaust-Manipulation

Das in Westdeutschland gepflegte Klischee, in der DDR sei der Mord an den Juden verschwiegen worden, ist falsch. Exklusivabdruck aus „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“.

von Daniela Dahn

Foto: diy13/Shutterstock.com

Im christlich geprägten Westen Deutschlands wurde und wird gern beweihräuchert. Vor allem hebt man gern die eigenen Grandiosität und moralische Überlegenheit hervor. Der Ex-DDR kommt in diesem holzschnittartigen Weltbild die Rolle des Bösen und Unkorrekten zu. Selbst vor dem sensiblen Thema Holocaust macht das Ossi-Bashing nicht halt. In der BRD sei der Massenmord an den Juden auf höchst noble Weise kulturell und politisch aufgearbeitet worden. In der DDR dagegen sei die Shoa verschwiegen worden. Als Kommunisten hätten sich die Ost-Bürger dafür nicht zuständig gefühlt, hätten sich vielmehr selbst zu Nazi-Opfern stilisiert. Solche Behauptungen kursieren bis heute in historischen Rückblicken. Sie sind aber schlicht nicht wahr. Es ist nachweisbar, wie viele höchst ehrenhafte Filme und Bücher der DDR sich mit diesem dunklen Kapitel der gemeinsamen deutschen Vergangenheit befasst haben. Man denke nur an das großartige Buch „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers. Eine längst fällige Richtigstellung.

Zu viel gefallen ließen wir uns angesichts der leidenschaftlichen Anstrengungen, nicht auch den DDR-Antifaschismus beitreten zu lassen. Dafür wurden schwerste Geschütze aufgefahren. Hatte doch nichts diskriminierender sein können als die Behauptung, die DDR-Bürger hätten generell ein Problem mit ihrem Verhältnis zu Juden gehabt.

Wikipedia-Mainstream:

„Während man in Westdeutschland auf den Aufbau guter Beziehungen zu Israel setzte, wurden in der DDR die Juden als eigenständige Opfergruppe im Dritten Reich weitgehend verschwiegen.“

Medien-Mainstream: Moderation in ttt vom 10. März 2019: Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist in der DDR 1952 per Dekret für beendet erklärt worden, der Holocaust war kein Thema.

Forschungs-Mainstream:

„Ungeachtet einer zögernden Entkopplung von Kapitalismus und Genozid besonders in den 80er Jahren, blieb die Ermordung der europäischen Judenheit auch später noch ein verschwiegenes, wenngleich nicht mehr gänzlich unterdrücktes Thema“ (1).

Bis in die 1980er Jahre also war der Völkermord an den Juden in der DDR ein „gänzlich unterdrücktes Thema“. So viel Desinformation macht sprachlos. Ich habe es genau umgekehrt wahrgenommen: Die DDR-Kultur hat dieses Thema früher und häufiger als in der Bundesrepublik aufgegriffen, kontinuierlich über die Jahre verfolgt, und das in einem Umfang, der bei vielen Menschen Überdruss auslöste.

Ich empfinde solche Desinformation auch als persönliche Kränkung. Ich hätte nicht in einem Land leben wollen und können, in dem über den industriell betriebenen Völkermord, das perfideste Verbrechen seit Menschengedenken, nicht gesprochen werden sollte. Die Ostdeutschen als duldsame und unreflektierte Herde ohne Mitgefühl: An dieser Fiktion westliche Schuld- und Versagensgefühle abzuladen kann auf die Dauer nicht gutgehen. Neben der sozialen hat es seit dem Beitritt immer auch die intellektuelle Demütigung gegeben. Der entkommt man durch kräftezehrenden Widerspruch oder durch kräfteschonende Teilnahme am Belasten der Herde, was einen selbst über sie stellt. Die meisten, so fürchte ich, entkommen ihr nicht. Sie werden still, krank oder aggressiv.

Auch von einigen ostdeutschen Politikern, Journalisten oder Historikern höre ich gelegentlich die neue Lesart, wonach „das Schicksal der Juden im Dritten Reich aus dem offiziellen Erinnerungskanon der DDR so gut wie verschwunden“ war. Was verdiente in der DDR das Etikett offiziell? War es doch ein Verhängnis, dass alles, was öffentlich sein wollte, auch offiziell sein musste.

Jeder Film hatte eine staatliche Abnahme erfahren, jedes Buch brauchte eine staatliche Druckgenehmigung. In diesem Sinn war die DDR-Kultur, mit allen daraus folgenden Beschränkungen und Begünstigungen, eine offizielle Kultur. Sie übernahm, oft durchaus zu ihrem künstlerischen Nachteil, arbeitsteilig Themen, die die Medien oder offizielle Bekundungen entweder nicht oder nur undifferenziert wahrnahmen. Wer also die DDR-Kunst und Kultur aus dem „Erinnerungskanon“ ausschließt, der mag zu derart verengten Schlüssen kommen. Doch redlich ist das nicht. Denn für die Bundesrepublik lässt man gelten, dass keine akademische Forschung und keine amtliche Verlautbarung so massenwirksame Aufklärung und Sensibilisierung gegenüber der Shoa bewirkt hatten wie die Kunst.

Was gab es doch unlängst für einen Hype um den 40. Jahrestag der Sendung der US-Serie Holocaust, durch die 1979 das deutsche Publikum, und zwar das gesamtdeutsche, angeblich erstmalig eine Ahnung vom Ausmaß des den Juden zugefügten Leids bekommen habe. Was für ein Armutszeugnis! Nirgends war ein Hinweis darauf zu hören, dass im DDR-Fernsehen bereits sieben Jahre vor der Hollywood-Serie eine vierteilige Folge über eine jüdische Familie gesendet wurde, die nach Auschwitz deportiert wird. Erstmalig durfte dafür ein deutscher Filmstab im Lager Auschwitz drehen. Die Authentizität des Films rührte aber nicht nur vom schwer zu verkraftenden Originalschauplatz, sondern von dem Wissen, dass es sich hier um die Verfilmung des autobiographischen Romans des Juden Peter Edel handelt, der all diese Schrecken in Auschwitz selbst erlebt hat.

Und nicht nur er, auch einige der Hauptdarsteller hatten die fürchterliche Hürde zu nehmen, an die Stätte ihres grauenvollen Traumas zurückzukehren. In der Rolle des Stubenaltesten Tadeusz spielte August Kowalczyk ein Stück seines eigenen Lebens. Er war zwei Jahre Häftling in Auschwitz gewesen und hatte sich eigentlich geschworen, nie wieder an diesen Ort zurückzukehren. Peter Sturm, im Film der Elias, stammte aus einer sehr frommen, armen jüdischen Familie aus Wien. Er hatte das Martyrium der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und ebenfalls Auschwitz hinter sich. Und die Schauspielerin Marga Legal, im Film Frau Müller, bekam 1933 wegen ihrer jüdischen Vorfahren ein Arbeitsverbot und konnte sich nur durch eine sogenannte „privilegierte Ehe“ vor Verfolgung retten.

Nein, eine Seifenoper à la Hollywood waren diese vier Teile nicht. Schade, dass Marcel Reich-Ranicki, der die Holocaust-Serie als «trivial, oft kitschig, gelegentlich ärgerlich und ästhetisch ohne Wert» beschimpft hatte, nicht auch diesen Film bewertet hat. Der Westberliner Tagesspiegel war nach Ausstrahlung des 1. Teils am 25. 5. 1972 immerhin positiv überrascht:

„Der ‚Fernsehdienst Nr. 22‘, die Presseveröffentlichung des Deutschen Fernsehfunks, enthält 24 Seiten Bilder und Texte über einen neuen, auf vier Teile ausgelegten Fernsehfilm. Die ungewöhnliche Quantität lässt auf eine ungewöhnliche Qualität schließen, zumindest auf ein ungewöhnliches Gewicht, das die Produzenten dem Film beilegen. …

Es geht um die Verfolgung der Juden in den Jahren 1933 — 45. Das mag in Erstaunen versetzen: Man erwartet es einfach nicht, dass just zu diesem Thema ein großer Film fürs Fernsehen gedreht wird, der bis in die letzte Charge hinein von erstklassigen Schauspielern besetzt und von der ersten Garnitur in Sachen Dramaturgie und Regie eingerichtet wurde.

Im ersten Teil, dem als Rahmenhandlung eine Sabbatfeier in der Wohnung eines jüdischen Arztes im Jahr 1943 diente, wurde ein bestimmter Ausschnitt der jüdischen Gemeinde zu Berlin vorgestellt: Durchweg Angehörige des gehobenen Bürgertums, konservative Menschen im preußischen Sinne, der eigenen Religion bereits entfremdet — und fassungslos gegenüber den sogenannten Nürnberger Gesetzen und ihren schaurigen Folgen. Unter der äußeren Situation dieser gejagten Menschen wurde jedoch etwas sichtbar, was noch tiefer berührte: Ihre innere Situation, das moralische Spektrum, das nackte Angst und dumpfe Ergebenheit ebenso enthielt wie das Hadern mit dem Gott der Vater und dem Ansatz zum Widerstand. Wir kommen auf den sehenswerten Film jedenfalls zurück.“

Ich auch. Zuvor soll jedoch eines klargestellt werden. Dieser sicher aufwendigste Film zum Thema Massenmord an den Juden war nun wahrlich nicht der erste und letzte in der DDR. Um dies zu belegen, kann man auf ein sehr verdienstvolles Lexikon zurückgreifen, das die Filmwissenschaftlerin Elke Schieber, langjährige Mitarbeiterin im Filmmuseum Potsdam, in zehnjähriger, einsamer Forschungsarbeit erstellt hat (2).

„Tangenten“ ist 2016 in der Schriftenreihe der DEFA erschienen und hat auf 700 Seiten sämtliche DEFA-, Fernsehspiel- und Dokumentarfilme, publizistische Beiträge, Studenten-, Kinder- und Animationsfilme zusammengetragen, die zwischen 1946 und 1990 in der SBZ und der DDR zu folgenden Themen produziert wurden: Antisemitismus vor 1933, jüdisches Leben, Judenverfolgung im Nationalsozialismus, jüdische Vergangenheit in der Gegenwart, Palästina-Israel-Naher Osten. Das ergab eine stattliche Sammlung von über 1.000 Titeln.

Diese Zahl sagt nichts über die Qualität dieser Filme, nichts über mögliche Schwierigkeiten vor und während der Produktion, nichts über ihre Rezeption. Und sie schließt trotz dieser beeindruckenden Menge die Existenz eines unterschwelligen Antisemitismus nicht aus. Aber eins beweist sie: Die Behauptung, dass in der DDR Juden und Holocaust ein beschwiegenes, unterdrücktes Thema waren, ist vollkommen unhaltbar. Man hatte hoffen können, dass die bis heute diesen Fake verbreitenden Journalisten und Historiker nach Erscheinen des Lexikons zu einer Korrektur bereit gewesen waren. Aber realistisch sind solche Erwartungen nicht. Keines der Großmedien und keiner der sich mit dem Thema befassenden Großhistoriker haben das Buch zur Kenntnis genommen.

Es ist das zuverlässig Erwartbare, was so langweilt: Was den Mainstream stört, wird ausgegrenzt. Statt die Fakten zu erwähnen, wird scheinbar anlasslos umso heftiger gegen sie angeschrieben. Bei Wikipedia gibt es eine Liste von Filmen zum Holocaust aus aller Welt, in der wie von Zauberhand so gut wie alle in der DDR produzierten Spiel- und Dokumentarfilme fehlen.

Immerhin 14 Spielfilme und Serien von DEFA und Fernsehen haben die Judenverfolgung in der NS-Zeit zum eigentlichen Thema. 33 weitere DDR-Spielfilme tangieren diesen Stoff mehr oder weniger direkt.

Und das relativ gleichmäßig verteilt in den Jahren zwischen 1946 bis zum Ende der DDR. Die Stoffe hatten fast immer authentische Hintergründe, oft auch autobiographische, von den sie gestaltenden Künstlern. Ergänzend begleitet wurden die Spielfilme von Anfang an von dokumentarischen Beiträgen. So sah man 1947 im DEFA-Augenzeugen das in Auschwitz verlorene und in der Tschechoslowakei wiedergefundene, einzige überlebende Kind der Berliner Jüdischen Gemeinde — von einst 175 000 Seelen. Oder 1962 den Bericht über eine Mutter, die in Auschwitz von ihrer dreijährigen Tochter getrennt wurde, die sie erst 17 Jahre später in Moskau wiedertrifft. Es liefen Filme über Frauen in Ravensbrück, zu den Nürnberger Prozessen — beginnend 1966 mit: Robert Jackson klagt an — sowie mehrere Reportagen über Auschwitz.

Um den Fake über das Verschweigen des Schicksals der Juden zu widerlegen, ist man natürlich nicht allein auf die DDR-Filmproduktion angewiesen. Genauso aufschlussreich ist ein Blick auf die in der DDR erschienenen Bucher. Auch dazu gibt es eine verdienstvolle Bibliographie, in ähnlich einsamer, jahrelanger Arbeit zusammengetragen von der einstigen Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin, Renate Kirchner: „Jüdisches in Publikationen aus DDR-Verlagen 1945 — 1990“ (3).

Die Bücher sind in der Aufstellung durchnummeriert, sodass das Ergebnis leicht ablesbar ist: Es sind 1086 Titel. Sicher kann man im Einzelfall streiten, ob dieser oder jener Band dazugehört oder andere fehlen. Aber die Tendenz ist eindeutig: Das jüdische Thema war überaus präsent. Die Bibliographie umfasst alle Themen — jüdische Geschichte, Religion, Philosophie, Kultus und Brauchtum, Lebens- und Werkbetrachtungen bekannter Juden, Antisemitismus und Rassismus, jüdisches Leben in anderen Ländern, insbesondere die Welt der Ostjuden, auch Palästina und Israel.

Fast genau die Hälfte aller Bücher aber widmet sich dem Thema: Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Die meisten davon, nämlich 302, waren Sachbücher, Biographien, Tagebücher, Briefbände, auch einzelne Diplomarbeiten und Dissertationen, die der Jüdischen Bibliothek zum Dank für Unterstützung übergeben wurden.

Viele davon waren sachliche Faktensammlungen, andere unverkennbar der Systemauseinandersetzung und dem Legitimationsbedürfnis der DDR untergeordnet. So unterschiedlich sie waren, kann man ihnen eine verinnerlichte, humanistische Grundhaltung und einen tiefempfundenen Antifaschismus schwerlich absprechen.

Ohne den im Raum stehenden, monströsen Vorwurf der Unterdrückung jüdischer Themen in der DDR könnte ich mir den nun vielleicht schon pedantisch wirkenden Hinweis sparen, dass zu dem auch ästhetisch heiklen Thema Holocaust, für das erst eine Sprache gefunden werden musste, außerdem 238 belletristische Werke erschienen. Romane, Erzählungen, Novellen, Gedichtbande, Dramatik und Kinderbücher, in denen der Völkermord zentrales oder wesentliches Thema ist. (Darunter von DDR-Autoren wie Anna Seghers, Bruno Apitz, Jurek Becker, Johannes Bobrowski, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Walter Kaufmann, Gunter Kunert, Fred Wander, Arnold Zweig. Westdeutsche Autoren wie Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Paul Celan, Peter Härtling, Heinar Kipphardt, Wolfgang Koeppen, Luise Rinser und Peter Weiss wurden in DDR-Verlagen genauso verlegt wie die Generation davor: Lion Feuchtwanger, Frank Leonhard, Klaus Mann, Erich Mühsam, Erich Maria Remarque, Nelly Sachs, Franz Werfel. Schließlich wurde auch viel übersetzt, besonders aus Osteuropa: Josef Bor, Tibor Déry, Ladislav Grosman, Imre Kertész, Anatoli Kusnezow, Stanislaw Lem, Icchokas Meras, aber auch Natalia Ginzburg, Primo Levi, Elie Wiesel oder Jorge Semprún.)

Worüber es bisher keine Analysen gibt, das sind die Beiträge der Theater, der Musik, der Bildenden Kunst oder der Hörspiele und Features im Rundfunk. Dagegen existiert eine Untersuchung über die Behandlung des Völkermords im Deutschunterricht. Fazit des Autors Matthias Krauß über den Beitrag der DDR:

„Ihre ‚Nationalkultur‘ legte eindringliche und erschütternde Zeugnisse der faschistischen Judenverfolgung vor, es lässt sich begründet behaupten, dass die wichtigsten deutschen künstlerischen Zeugnisse zu diesem Thema in der DDR entstanden sind und nicht in der Bundesrepublik. Davon war der Deutschunterricht im sozialistischen Teil Deutschlands nicht allein berührt, davon war er durchtränkt“ (4).

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Die Geschichtsrevisionisten
Samstag, 16. November 2019, 15:57 Uhr
~12 Minuten Lesezeit

Die Geschichtsrevisionisten

Das Narrativ des ostdeutschen Unrechtsstaates ist falsch und gefährlich: Es relativiert die Naziverbrechen.

von Frank Schumann

Foto: Triff/Shutterstock.com

Im Osten stößt die Reduzierung der DDR auf Mauer, Stasi und Stacheldraht und deren Gleichsetzung mit dem Hitlerreich zunehmend auf Widerspruch. Dafür gibt es viele Gründe. Die Ablehnung, sich fortgesetzt von Westdeutschen erzählen zu lassen, wie man als Ostdeutscher angeblich gelebt und gelitten hat, ist ein Grund. Ein anderer die Okkupation der positiven Momente der DDR-Vergangenheit, wie sie aktuell zelebriert wird: Nicht die Ostdeutschen hätten die Mauer zum Einsturz gebracht, sondern Kohl und Genscher. Einer gleichermaßen ignoranten wie einseitigen Geschichtsbetrachtung muss entschieden widersprochen werden. Sie führt nämlich auch zum Verlust der Glaubwürdigkeit politischer Institutionen.

Seit dreißig Jahren mache ich Bücher. Als Verleger, als Autor, als Ghostwriter. Den Verlag gründete ich nach dem Untergang der DDR (und wenn ich das im Verkehr mit Westdeutschen sage, kommt oft und noch immer als Echo: Hoho, in der DDR wäre das nicht gegangen. — Ja, und?) Der Verlagsname sollte in einer Zeit, als die meisten Ossis rasch Wessis werden wollten, eine demonstrative Ansage sein: edition ost. Ich wollte zunächst heimatlos gewordenen DDR-Autoren eine verlegerische Heimat bieten. Und außerdem mochte ich an der gedankenlosen Beseitigung der gemeinsamen Vergangenheit nicht mittun. Überall füllten sich die Container vor Bibliotheken, Betriebskulturhäusern und Kultureinrichtungen. Ein Land entsorgte sich selbst: Das war nicht nur Metapher, sondern Realität.

Ich verweigerte mich aber nicht deshalb, weil ich mich gegen die Gegenwart und das, was da ungebeten auf mich, auf uns Ostdeutsche zurollte, grundsätzlich gesperrt hätte. Sondern weil ich eine Affinität zur Geschichte habe und um deren Bedeutung weiß. Geschichte ist der Grund, auf dem jeder Mensch steht, sie liefert die Koordinaten, um sich in der Welt zurechtzufinden. Hemden lassen sich wechseln wie die Fahnen auf den Zinnen, nicht aber die Vergangenheit. Die individuelle wie die kollektive. Sie hängt uns am Hacken, weil sie uns prägte.

Ich habe im Wortsinne Geschichte mit der Muttermilch aufgenommen: Mein Kinderbett im elterlichen Schlafzimmer stand neben dem Kirchenarchiv in einem sächsischen Pfarrhaus. Als Halbwüchsiger verbrachte ich halbe Tage darin, studierte neugierig die alten Bücher und fand dort Namen der Nachbarn, deren Vorfahren schon vor Jahrhunderten ihre Kinder in der Kirche neben unserem Pfarrhaus übers Taufbecken gehalten und ihre Toten zu Grabe getragen hatten.

Das stand dort alles, penibel aufgeschrieben für die Nachwelt. Und diese Mitteilungen, mit Federkiel notiert, faszinierten mich. William Faulkner, den ich erst später las, hatte recht mit seiner Feststellung: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Die Bauernhöfe und ihre Betreiber, mit deren Kindern ich in eine Klasse ging, besaßen eine lange Vorgeschichte, ohne sich ihrer vielleicht im Einzelnen bewusst zu sein. Ich entdeckte die Wurzeln meiner Schulfreunde in den Kirchenbüchern. Geschichte floss unablässig wie ein Strom durch die Zeit, egal, was an den Ufern geschah, und hier war die lokale Historie in Daten, Ereignissen und Abrechnungen nachlesbar, also mit Fantasie erlebbar.

Später, als Journalist bei einer Tageszeitung, war ich Geschichtsredakteur. Meine Neigung konnte ich ausleben und bekam sie auch noch bezahlt. Obendrein, was nun wirklich ein Privileg war, konnte ich deshalb auch in den Westen reisen. Ich besuchte für Recherchen Archive und Ausstellungen, wandelte auf den Spuren von Luther und Heine, von Marx und Thälmann und schrieb darüber.

Diese lange Einleitung war nötig um zu erklären, weshalb ich die kulturelle Entsorgung meines nunmehr verschwundenen Landes als Frevel empfand. Und was dieser Bruch mit der eigenen Vergangenheit mit den meisten Menschen anstellte.

Sie warfen alles von sich und berauschten sich an dem, was ihnen an billiger, aber bunter Alternative angeboten wurde. Bereitwillig tauschten sie Glasperlen gegen ihre Geschichte. Selbst die Sprache gaben sie her. Aus Kollektiv wurde Team, Kapitalismus durfte nur noch soziale Marktwirtschaft genannt werden, andernfalls setzte es Kritik.

Und Faschismus hieß nur noch Nationalsozialismus. Dabei galt es bis dato als gesicherte Erkenntnis, dass die Hitlerdiktatur weder sozialistisch — sie war in ihrem Wesen imperialistisch wie die Konzerne, die sie installiert hatten — noch national war: Die Nazis hatten Deutschland in die größte nationale Katastrophe ihrer Geschichte geführt, die später einer ihrer Jünger „Vogelschiss“ nennen sollte.

Im deutschen Namen waren Millionen Menschen im eigenen Land und in den besetzten Ländern ermordet worden. Und Millionen starben an den Fronten oder als Partisanen, weil sie sich in einer Anti-Hitler-Koalition dem Drang des deutschen Kapitals zur Weltherrschaft widersetzt hatten.

Im beigetretenen Osten erfolgte umgehend eine Revision aller Narrative. Initiiert und forciert wurde dieser Prozess von Westdeutschen, die in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft, in Justiz, Militär und in den Medien alle Schlüsselpositionen übernahmen — und sie bis heute auch halten. Dabei halfen ihnen Kollaborateure aus dem Osten, die auf Teilhabe hofften. Und einige bekamen auch tatsächlich ein Amt, und sei es nur das des Narren am Hofe der Mächtigen.

Von den Menschen, denen tatsächlich in der DDR Unrecht widerfahren war, liehen sie sich die Opfergeschichten. Die wurden benötigt, um das Bild eines durch und durch verbrecherischen Staates zu erfinden, dessen Besetzung folglich zwingend und demokratisch legitim war. Weil sich jedoch keine Leichenberge fanden, nahm man die Aktenberge der Stasi als solche. Und man erfand das „Auschwitz der Seelen“ und zog die weiße Linie der dortigen Selektionsrampe bis zu jener auf dem Bahnsteig im Grenzbahnhof Friedrichstraße.

Nein, natürlich könne man die Diktatur der Nationalsozialisten nicht mit der Diktatur der Kommunisten gleichsetzen, beschwichtigte man jene, die sich darüber empörten. Aber Vergleiche seien ja wohl zulässig.

Ach, diese deutsche Neigung zum Vergleich. „Verglich“ jemals ein Historiker oder Journalist den Genozid kaiserlich-deutscher Kolonialtruppen an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika mit der Unternehmenspolitik deutscher Konzerne, die Profite unter der Apartheid in Südafrika scheffelten?

Oder dass man den vom Apartheid-Regime jahrzehntelang inhaftierten Nelson Mandela und seinen ANC seinerzeit in der BRD als Terroristen verurteilte und später, als er frei und die Apartheid beendet war, auf den Schild hob und ihn nun als Friedensnobelpreisträger feierte? Vergleiche, die nicht nur Erscheinungen, sondern das Wesen der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung infrage stellen, sind jedoch unzulässig.

Übrigens — und das weiß ich von einem, der damals in der Schorfheide im Dezember 1981 beim Treffen des Bundeskanzlers mit dem Staatsratsvorsitzenden und SED-Generalsekretär dabei war — verglichen Helmut Schmidt und Erich Honecker, in welchem Staat es sich leichter regieren ließe. Schmidt meinte ironisch-neidisch, dass es Honecker mit seinem Politbüro leichter, er es hingegen schwerer habe, weil — und nun O-Ton des Bundeskanzlers — die Bundesrepublik kein Rechtsstaat, sondern ein Gerichtsstaat sei. Da war der Begriff „Unrechtsstaat“ noch nicht erfunden.

In dem Zusammenhang sei auch der anschließende Besuch der beiden in Güstrow erwähnt. Schmidt wollte im dortigen Dom den schwebenden Engel des von ihm verehrten und von den Nazis verfemten Bildhauers Ernst Barlach sehen. Wir kennen die gespenstischen Bilder der menschenleeren Straßen, die von Polizeiketten gesäumt waren. Und seither gelten diese Fotos als Beweis für den Polizei- und Stasi-Staat DDR. Tatsächlich jedoch gingen diese Maßnahmen auf Forderungen der Sicherungsgruppe Bonn zurück: Im Spätsommer hatte die RAF einen Bombenanschlag auf das Headquarter der US-Luftstreitkräfte in Ramstein verübt, und zwei Wochen später entging US-General Frederick J. Kroesen nur knapp einem Raketenanschlag. Das Bonner akute Sicherheitsinteresse war verständlich groß und führte zu entsprechenden Forderungen an die DDR-Adresse. Hier waren bis dahin noch nie Gullydeckel zugeschweißt und das Öffnen von Wohnzimmerfenstern verboten worden, wenn auswärtige Staatsgäste unterwegs waren.

Nach 1990 entstanden im Osten nach der Wiederherstellung der Eigentumsverhältnisse, wie sie bis 1945 dort geherrscht hatten, auch neue, spezielle Unternehmen. Zum Beispiel eine Erinnerungs- und Aufarbeitungsindustrie. Millionen und Abermillionen D-Mark wurden in ein Netzwerk zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Deutschland investiert.

Inzwischen existiert in Ostdeutschland kaum eine Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus, der nicht ein Ort des Gedenkens an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft zugesellt ist. Warum? Um an die Menschen zu erinnern, denen wirklich und wahrhaftig in der DDR Leid angetan wurde? Das auch.

Vornehmlich aber soll damit ein Gleichheitszeichen zwischen den „beiden Diktaturen auf deutschem Boden“ gesetzt und das schlimme Schuhmacher-Wort aus der Hochzeit des Kalten Krieges, das von den „rotlackierten Faschisten“, postum bezeugt werden. Dafür beugte man bisweilen auch die Wahrheit.

Zweckdienlich. Etwa die „Wasserzellen“ im vermeintlichen Stasi-Folterknast in Hohenschönhausen und die krebsauslösenden „Strahlenkanonen“: reine Erfindungen. So wenig belegt wie die Behauptung, Ulbricht sei ein Lügner, weil er erklärt hatte, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Ulbricht konnte es an jenem 15. Juni 1961 nicht besser wissen und log darum nicht, denn die Entscheidung wurde erstens Anfang August in Moskau und zweitens von Chruschtschow getroffen (3).

Medien machten Stimmung, die Justiz besorgte ihren Teil. „Juristische Formeln sind oft wichtiger als Bajonette“, wusste schon im Februar 1952 Otto Lenz, Staatssekretär im Kanzleramt und Adenauers rechte Hand.

Allerdings, so konstatierte Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen in der Neuen Justiz vom Januar 2000 im Rückblick auf „Zehn Jahre Aufarbeitung des Staatsunrechts der DDR“ betrübt, seien die Ergebnisse der intensiven Ermittlungen hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Von den über 100.000 beschuldigten Ex-DDR-Bürgern waren nach Schaefgen bis Anfang 1999 „nur etwa 300 rechtskräftig verurteilt“ worden.

Von diesen 289 Verurteilten erhielten 86 eine Geldstrafe, 184 eine Bewährungsstrafe und lediglich 19 eine Freiheitsstrafe. Keine Rede von Folter, Zwangsadoptionen, Einweisungen in die Psychiatrie und all die Stereotype, die einen Dauerplatz im „öffentlichen Diskurs“ hatten. Die Enttäuschung wurde mit dem Hinweis auf die Vorzüge des demokratischen Rechtsstaats kaschiert. Erst wenn ein Verbrechen bewiesen ist, kann man von einem Verbrechen sprechen.

Eben!

So war’s aber nicht gemeint. Sondern: Die „Verbrecher“ hätten ihre Untaten verschleiert. Deshalb wären trotz intensiver Suche Dokumente ihrer verbrecherischen Direktiven nicht auffindbar.

Doch zunehmend widersprachen Zeitzeugen den kruden und konstruierten Behauptungen. Nach dem doppelten Kulturschock meldeten sich immer mehr Ostdeutsche zu Wort, die den verteufelten Staat anders in der Erinnerung hatten, als man es nun dem deutschen Volke weiszumachen versuchte.

Das medial verbreitete Narrativ, wie die Ostdeutschen im Unrechtsstaat gelebt haben sollten, deckte sich nicht mit ihren eigenen Bildern. Ihre Einlassungen wurden zunächst als Ostalgie belächelt, später als Gejammer Ewiggestriger, und schließlich, als der Widerspruch vermeintlicher Betonköpfe nicht verstummte, zieh man sie des Geschichtsrevisionismus.

Die Vorhaltungen wurden immer schriller und die Argumente immer abstruser. Auch Verlage wie die edition ost, die Zeitzeugenberichte veröffentlichten, bekamen ein solches Etikett verpasst. Vorsorglich kaufte sich der seinerzeitige Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz, Helmut Roewer, über einen Strohmann als Aktionär bei uns ein. Als dann noch herauskam, dass auch die CIA mit ihrem Agenten Wolfgang V. am Verlagstisch saß, beschloss der Aufsichtsrat mit Lothar de Maizière, Peter Brandt und Hans Modrow, die edition ost AG zu liquidieren.

Wir sind seither eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Aber mit dem unveränderten Anspruch, den Wissenslücken, Halbwahrheiten und ganzen Lügen zu widersprechen — und wurden darum unverändert als Geschichtsrevisionisten diffamiert. Wobei das mediale Urteil in einer Uniformität geäußert wurde, die die von Politbüro-Mitglied Joachim Hermann weiland verordnete Gleichschaltung noch überbot. Von der letzten Postille bis hin zum gehobenen Feuilleton galt:

„Bücher und Autoren der edition ost (...) stellen kontrastierend zum historisch verbürgten Mainstream knallhart auf Geschichtsrevisionismus ab“ (1).

Selbst 2019 hieß es, wenngleich schon ein wenig subtiler, in einer durchaus wohlmeinenden Rezension:

„Der Band versammelt die über einen längeren Zeitraum aufgezeichneten Gespräche zwischen Bruno Flierl und Frank Schumann, der als Verleger von Egon Krenz und Margot Honecker einen durchaus speziellen zeithistorischen Ackersaum der untergegangenen DDR bewirtschaftet“ (2).

Schumann hatte auch sieben Bücher von Günter Gaus verlegt, druckte Texte von Egon Bahr, Heribert Hellenbroich, Christoph Andreas Graf von Schwerin von Schwanenfeld, Katharina von Bülow und anderen westdeutschen Autoren — das war (und ist) ohne Belang für das Verdikt, am Rand vulgo Ackersaum zu stehen.

Allerdings, so will es die Dialektik: Jede öffentliche Schmähung war und ist zugleich objektiv Werbung. Und darum gelingt es immer wieder, mit solch gewiss unbeabsichtigter öffentlicher Unterstützung Bücher in die Spiegel-Bestsellerlisten zu bringen. Aktuell sind das, natürlich, dieser Egon Krenz mit „Wir und die Russen“ und — über den Verlag „Das Neue Berlin“ — Peter-Michael Diestel, der letzte Innenminister der DDR, mit „In der DDR war ich glücklich. Trotzdem kämpfe ich für die Einheit“.

Ich bin kein Freund absoluter Aussagen, weshalb ich den Satz „Sieger schreiben Geschichte“ nicht uneingeschränkt teile. Wäre es so, gäbe es keine Auseinandersetzung um die Geschichtsdeutung. Wenn die „Sieger“ das Feld so eindeutig beherrschten, würden sie nicht den Vorwurf des „Geschichtsrevisionismus“ erheben. Die Vorhaltung wird nicht nur unverblümt und diffamierend formuliert, sondern auch sanft geäußert, wie dies der Honecker-Biograf Martin Sabrow tut, indem er von einer „schleichenden Entmachtung der Historikerzunft“ durch Zeitzeugen spricht, oder direkter, wie es sein Kollege Wolfgang Kraushaar formulierte — für ihn ist der Zeitzeuge der Feind des Historikers.

Ich reklamiere für mich Zeitzeugenschaft. Ich bin ein Geschichtsrevisionist in dem Sinne, dass ich die seit dreißig Jahren kolportierten falschen Aussagen und Bilder von der DDR zu revidieren oder zu differenzieren versuche.

Mich rief seinerzeit eine Sekretärin des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert an, die von mir eine Auskunft wünschte. Das Gespräch war offen und uferte aus, weshalb ich an einer Stelle erklärte, dass ich mich als bekennender Ossi und ehemaliges SED-Mitglied nicht des Eindrucks erwehren könne, dass die Mehrheit der politischen Klasse der Bundesrepublik ideologisch vernagelter sei, als es die SED zu meiner Zeit war. Darauf sagte die kluge Frau: „Herr Schumann, Sie erwarten von mir gewiss kein Dementi.“

Je weiter die Zeit voranschreitet, desto bornierter und hilfloser scheint man in dieser Klasse zu werden. So weigerte sich etwa die Berliner CDU im Herbst 2019 einer von den Regierungsparteien SPD, Grüne und Linke eingebrachten Resolution zum 30. Jahrestag der „Friedlichen Revolution“ zuzustimmen, weil die Linke sie unterzeichnet hatte. „Wenn wir hier die historischen Ereignisse würdigen wollen, halten wir es für unangemessen, die Linkspartei als ebenbürtig zu behandeln“, erklärte Fraktionschef Burkard Dregger, Sohn von Alfred Dregger, einst exponierter Vertreter des nationalkonservativen Flügels der CDU und bisweilen „Stahlhelmer“ genannt.

Stattdessen brachte die Dregger-CDU eine eigene Resolution ein, in der Kanzler Kohl und sein Vize Genscher als Wegbereiter der Einheit gewürdigt wurden. Diese Leute hatten nun nachweislich überhaupt nichts mit dem Herbst 89 in der DDR zu tun. Sie nutzten die Gunst der ihnen günstig erscheinenden historischen Stunde. Die Mauer wurde vom Volk der DDR eingerissen — weder mit Moskaus noch mit Bonner Segen. Dass kein Schuss fiel, entschied allein Berlin (Ost).

Und so werden immer wieder Fakten aus der Geschichte verdreht, umgedeutet, zweckdienlich interpretiert und massenhaft verbreitet. Was etwa von der AfD, deren ostdeutsche Häuptlinge ausnahmslos aus dem Westen unseres Vaterlandes kommen, sehr konsequent verfolgt wird. „Vollende die Wende“, forderte der Faschist Höcke. Und sagt: Wir sind eine bürgerliche Partei. Womit er ausnahmsweise recht hat.

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Im Zerrspiegel der Sieger
Samstag, 16. November 2019, 15:30 Uhr
~7 Minuten Lesezeit

Im Zerrspiegel der Sieger

Die Wortschöpfung „Unrechtsstaat“ verhindert, dass aus dem Anschluss der DDR an die BRD eine Wiedervereinigung wird.

von Volker Bräutigam

Foto: sondem/Shutterstock.com

Der Diskurs über die DDR wird vom Standpunkt des vorläufigen Siegers im Kampf der Systeme geführt. Es ist zugleich der Standpunkt eines erbarmungslos bornierten Rechthabers, der alle Argumente niederzumachen sucht, die seiner Selbstgerechtigkeit und seinem Überlegenheitsgefühl entgegenstehen. Im Buch „DDR — Meilenstein der Geschichte“ beschreiben 70 Zeitzeugen ihre Erlebnisse und Wahrnehmungen in der DDR. Sie möchten verhindern, dass das Positive in Vergessenheit gerät und vermitteln mit Herzblut nachfolgenden Generationen, was für sie das Leben in 40 Jahren Deutsche Demokratische Republik ausmachte. Der Autor empfiehlt dieses Buch und ergänzt die Berichte mit diesem Beitrag durch seine eigenen Erfahrungen.

Ich schreibe als ein „Wessi“, der bis zum Ende der DDR dort familiäre und politische Kontakte hatte und der sich regelmäßig und gerne in der „Zone“ aufhielt, also sein Leben in beiden deutschen Staaten leben durfte.

Im Diskurs über die DDR überwiegt der typisch westdeutsche Standpunkt eines kriminellen Straßenräubers, der das Eigentum seines Überfallopfers zusammenraffte und den Darniederliegenden wegen dessen Mittellosigkeit auch noch verhöhnt. Die Forderung, den Staat DDR als „Unrechtsstaat“ auszugeben, weil er ein Zwangssystem organisiert habe, in dem das Recht des Individuums nichts galt, finde ich indiskutabel. Sie ist in dieser generalisierten Form eine propagandistische Maßlosigkeit. Was machte die „Stasi“ Schlimmes, das nicht die westdeutschen Geheimdienste heute in noch größerem Umfang vollführen, nur filigraner und perfektioniert, unauffälliger, aber weit effektiver? Welche widerwärtigen Morde und Attentate auf politische Gegner des Systems, die nicht ihre Entsprechung im Westen gehabt hätten?

DDR-Bürger konnten regimekritische Bemerkungen nicht äußern, ohne schwerwiegende Nachteile für sich, ihre Familie und ihren Alltag befürchten zu müssen. Falls das wirklich ein Alleinstellungsmerkmal der DDR war: Heute können sie ihre Meinung frei äußern. Bloß hört ihnen niemand zu.

Es gab keine schrankenlose Reisefreiheit in der DDR. Heute können die Bürger in alle Welt reisen — falls sie das Geld dafür haben. Haben sie es?

Offen aktive Systemgegner der DDR kamen dort in Haft. Dokumentiert ist nicht, um wie viele Fälle es sich handelt, westliche Schätzungen liegen bei 200.000. Unsäglich! Blicken wir bitte einmal auf den deutschen Staat westlich des Zauns und auf die Zeit nach 1956, so stellt sich die Frage: Wie verhält es sich mit den 280.000 Kommunistinnen und Kommunisten, die nach dem verfassungswidrigen KPD-Verbot entweder in westdeutsche Zuchthäuser wanderten, verfemt ins soziale Elend gestürzt wurden oder sich zur Emigration gezwungen sahen?

Waren die sogar im Jahre 2004 noch durchgeführten 1,4 Millionen Überprüfungen auf „Verfassungstreue“ zur BRD, die insgesamt 11.000 Verfahren wegen „Verdachts verfassungsfeindlicher Bestrebungen“ und die annähernd 2000 ausgesprochenen Berufsverbote ein bundesrepublikanischer Nachweis für besondere Rechtsstaatlichkeit? Wie viel rechtsstaatliches Bewusstsein bewies die Bonner Republik bei der strikten Überwachung, geheimdienstlichen und polizeilichen Verfolgung und gesellschaftlichen Ächtung von abertausenden DKP-Mitgliedern und dem Drangsalieren ihrer Angehörigen – unter Missachtung des Grundrechts auf Schutz der Wohnung, des Briefgeheimnisses, der Unverletzlichkeit der Würde des Menschen und so weiter? Politische Gesinnungskontrollen sind hierzulande auch heute noch nicht abgeschafft, sie führen in aller Stille ihr Unwesen weiter ...

Mit unserer Geschichte können wir nicht zürnen, wir müssten aus ihr lernen. Die „double standards“, das heute übliche verlogene Messen mit zweierlei Maß, die sollten uns empören.

Die Mauertoten und die Todesopfer an den Sperranlagen? Grauenhaft. In einem Vierteljahrhundert starben dort an die 200 Menschen. Staatlich veranlasstes Unrecht, fraglos. Aber: Sind die seit 1990 an den Außengrenzen des deutsch geführten Westeuropa gewaltsam gestorbenen 30.000 Mitmenschen keine Opfer staatlichen Unrechts? Auch nicht die tausenden Toten des völkerrechtswidrigen NATO-Krieges gegen Jugoslawien, in dem die BRD eine Vorreiterrolle spielte? Welches Maß zählt hier? Wessen Maß?

Mit welchen Mitteln hätte wohl die Bundesrepublik reagiert, wenn die DDR in der Lage gewesen wäre, Millionenbeträge aus dunklen Kanälen hervorzuholen? Wenn sie mit hohen Kopfprämien tausende Ärzte und Ingenieure aus dem Westen in den Osten gelockt hätte? Die Gefahr eines Zusammenbruchs der Gesundheitsfürsorge heraufbeschworen und die westdeutsche Wirtschaft vor den Kollaps gesteuert hätte?

Denkt niemand beim Urteilen über den Mauerbau mehr darüber nach, dass zuvor die DDR auch materiell ausgesaugt wurde? Westlicher, offiziell geduldeter Schwarzmarktkurs: Für 1 DM gab es bis zu 6 Mark der DDR! Butter aus dem Osten ließ sich zum dreifachen des Ost-Einkaufspreises im Westen wieder verkaufen, Fleisch- und Wurstwaren zum fünffachen, Schallplatten mit klassischer Musik sogar zum neunfachen. Der auszehrende Warenschmuggel von Ost nach West erlebte in jener Zeit eine nie gekannte und später nie mehr erreichte Hochblüte.

Mag heute niemand mehr berücksichtigen, dass dieser fürchterliche Mauerbau in Berlin und die menschenverachtenden Sperranlagen durchs ganze Land auf Druck aus Moskau entstanden und letztlich einen Krieg der USA gegen die Sowjetunion auf deutschem Boden verhindern halfen?

Ich habe in der DDR viele Menschen gekannt, aber nicht einen, der Sorgen gehabt hätte, seinen Arbeitsplatz zu verlieren und keine Zukunft mehr zu haben. Nicht einen, der sich darüber Gedanken hätte machen müssen, wie er seine „Arztnebenkosten“, die sogenannten IGeL-Leistungen, bezahlen, die Kindergartenrechnung begleichen, die Wohnungsmiete aufbringen soll.

Ich kannte Bäuerinnen mit einer Fünf-Tage-Woche und einem Acht-Stunden-Tag, Gymnasiasten, die auf dem Land wohnten und zur Schule gingen, Mütter, die nach der Geburt und dem Babyjahr das Recht zur Rückkehr auf ihren alten Arbeitsplatz hatten, nicht nur auf einen „vergleichbaren“. Ich kannte Frauen, die nicht einen Gedanken an Gleichstellungsfragen zu verschwenden brauchten, weil sie eine Souveränität besaßen, um die sie heute beneidet würden — wenn bundesdeutsche Frauen das politische Bewusstsein dafür beziehungsweise davon Kenntnis hätten.

Ich sah ein Bildungssystem, das dem des Westens weit überlegen war und deshalb von Finnland kopiert wurde; finnische Kinder führen bis heute bei allen Pisa-Studien. Ich wusste, dass der Durchschnitts-DDR-Bürger pro Jahr 11 gute Bücher las, während sich im Westen gerade mal der Trend zum Zweitbuch entwickelte.

Ich erlebte das SERO-System, eine Recycling-Wirtschaft, die aus der Not eine ökologische Tugend zu machen verstand, von der wir heute Meilen entfernt sind mit unserem betrügerischen Grünen Punkt und Gelben Sack.

Und das Wichtigste von allem: Ich erlebte friedenswillige Menschen. Ihr Staat schickte seine Armee nicht zu Mord und Totschlag in fremde Länder und ließ keine fremden Städte bombardieren, wie es die Bundeswehr unter Bruch des Völkerrechts und des Grundgesetzes längst gewohnheitsmäßig macht.

Wenn ich zu meinen jährlichen längeren Aufenthalten in die DDR fuhr, traf ich Freunde und Bekannte wieder, die sich selbst nach einem Jahr beim Wiedersehen an Details meines westlichen Alltags, meiner Angehörigen, Freunde und Kollegen erinnern konnten, von denen ich ihnen erzählt hatte. Ich erlebte in der DDR eine Zugewandtheit, mitmenschliches Interesse und Solidarität, von denen wir im bundesdeutschen kalten, entsolidarisierten Alltag Lichtjahre entfernt sind.

Nach der Selbstauflösung der DDR ging das Volksvermögen von mehr als 620 Milliarden DM an die von Detlev Karsten Rohwedder geführte Treuhand über. Rohwedder entwickelte den Plan, dieses Vermögen an die DDR-Bürger auszuzahlen, in Anteilen von je 30.000 DM pro Kopf. Der Plan war kaum geboren, da kam Rohwedder bei einem bis heute nicht restlos aufgeklärten Attentat ums Leben. Seine Nachfolgerin Birgit Breuel verwarf Rohwedders Konzept, ließ die Vermögenswerte der DDR von westdeutschen Firmen plündern und erzielte letztlich Treuhandschulden von mehr als 180 Milliarden DM, die heute in schwarzen „Nebenhaushalten“ versteckt sind.

Die DDR sei „marode“ gewesen, sagen die begnadet Bornierten heute dazu und übersehen dabei geflissentlich, dass die Bundesrepublik mit 2.1 Billionen Euro verschuldet ist, während das reine Geldvermögen in privater Hand auf 6 Billionen Euro wuchs.

Ich besaß ein kleines Vorderkajütboot aus Holz. Es wurde auf einer DDR-Werft in der Nähe von Schwerin gebaut. Kürzlich habe ich es jungen Leuten geschenkt, die damit glücklich sind. Noch heute ist es schön, stabil, zuverlässig, ein „Hingucker“. Trotz unsäglicher Auseinandersetzungen mit der Wasserschutzpolizei und den Wasser- und Schifffahrtsbehörden und einem bis hinauf in die zuständigen Ministerien für Verkehr und für Justiz getriebenen Schriftwechsel fuhr ich das Boot grundsätzlich unter der Flagge der DDR. Unter dem Symbol eines deutschen Staates, der im Unterschied zu allen vor und nach ihm keine Kriege führte. Und der, bei allem behördlichen Missbrauch, größeren sozialen Frieden nach innen kannte, als es die Bundesrepublik zustande bringt.

Diese BRD darf sich ihrer zwei Millionen Kinder in Armut schämen, denen oft das Geld für eine warme Mahlzeit fehlt. Ihrer sieben Millionen Empfänger von „Stütze“. Und darf stolz sein auf ihre 120 Multimilliardäre und 1,4 Millionen Multimillionäre.

Ich bin ein „Wessi“, aber wenn das Wort „Unrechtsstaat“ fällt, denke ich nicht „DDR“, sondern schaue vor unser aller gemeinsame Tür.

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Die ewigen Prügelknaben
Samstag, 16. November 2019, 13:00 Uhr
~17 Minuten Lesezeit

Die ewigen Prügelknaben

Man kann die Rechtstendenzen einiger Ostdeutscher nicht erklären, ohne den Kapitalismusschock der Nach-Wende-Jahre zu berücksichtigen.

von Wolfgang Engler

Foto: Natasa Adzic/Shutterstock.com

Die Ostdeutschen sind wieder im Gespräch. Der Quell, aus dem sich das neu erwachte öffentliche Interesse speist, ist denkbar trübe: NSU-Komplex, Pegida und dann auch noch die AfD, die im Osten einen Wahlerfolg nach dem anderen verzeichnet. Sind ehemalige DDR-Bürger der Demokratie entwöhnt, gar nicht demokratiefähig? Stürzten sie sich allzu bereitwillig vom einem Autoritarismus in den nächsten? Mit solch gängigen Erklärungsmodellen machen es sich westdeutsche Ossi-Flüsterer zu einfach. Ostdeutsche haben das Demokratie- und Freiheitsversprechen der BRD-Eliten als zutiefst unglaubwürdig erlebt, nachdem sie quasi über Nacht von einer verschärften Form des Raubtierkapitalismus überrollt worden waren. Es geht nicht an, noch nach 30 Jahren alle Verantwortung für mögliche Fehlentwicklungen dem gestürzten SED-System anzulasten und den Bürgern in den „Neuen Bundesländern“ pauschal die demokratische Reife abzusprechen.

1. Das emanzipatorische Paradox

Die Ostdeutschen sind wieder im Gespräch, politisch wie medial. Der Quell, aus dem sich das neu erwachte öffentliche Interesse speist, ist denkbar trübe: NSU-Komplex, Pegida und dann auch noch die AfD, die im Osten auf Landes- wie auf Bundesebene einen Wahlerfolg nach dem anderen verzeichnet. Militante Aufmärsche mit unverhüllt rassistischen Parolen wie im September 2018 in Chemnitz taten ein Übriges, um die Ostler in Verruf zu bringen. Im 30. Jahr des demokratischen Aufbruchs in der DDR, so der Vorwurf, seien viele noch immer nicht im wiedervereinigten Deutschland angekommen. Geld und gute Worte hätten es offenkundig nicht vermocht, Demokratie, Rechtsstaat und zivilgesellschaftliches Engagement unverrückbar im Beitrittsgebiet zu verankern.

Was ist da los? Spukt womöglich die DDR noch immer in den Köpfen allzu vieler? Nimmt derart die Diktatur späte Rache für ihr schmähliches Ende?

Man muss diese Vermutungen nicht teilen, um das fortbestehende, teils sogar sich verfestigende West-Ost-Gefälle in den Ansichten, Gewohnheiten, den politischen Haltungen zumindest sonderbar zu finden. Daniel Dettling verlieh der verbreiteten Irritation speziell westlicher Interpreten in einem Gastkommentar für die Neue Zürcher Zeitung vom 10. November 2018 wie folgt Ausdruck:

„Den Menschen im deutschen Osten geht es heute so gut wie noch nie. Der Abstand zwischen Ost- und Westdeutschland ist geringer denn je. Wirtschaftlich gesehen stehen die Ostdeutschen immer besser da. Um 75 Prozent wuchs ihr Vermögen seit der Jahrhundertwende von 2000. Seit der deutschen Einheit vor fast dreißig Jahren ist die Lebenserwartung um sieben Jahre gestiegen. Produktivität, Löhne und Renten wuchsen in letzter Zeit schneller und die Arbeitslosigkeit geht stärker zurück als im Westen. Und dennoch dominieren in den neuen Bundesländern ein Gefühl der Ohnmacht und ein politischer Populismus, der daraus Nahrung zieht. (…) Der ökonomische Aufbau hat bisher nicht zu einem Abbau an politischem Verdruss geführt.“

Es ist hier nicht der Ort, diesen Befund im Einzelnen zu diskutieren. Zahlreiche ökonomische Daten vermitteln ein weniger optimistisches Bild des Aufholprozesses, legen nahe, dass dieser sich in jüngerer Zeit verlangsamt hat bzw. auf der Stelle tritt. Dagegen trifft zu, dass Wohnungen, Häuser, Städte modernisiert, Infrastrukturen ertüchtigt oder neu geschaffen wurden; etliche Unternehmen produzieren mit modernster Technik, behaupten sich im Wettbewerb.

Nur fragt sich in diesem Fall, in wessen Hand sich all das befindet, wer effektiv darüber verfügt. Oft genug schauen die Ostdeutschen, wenn sie durch heimische Gefilde streifen, fremden Reichtum an, und das trübt die Freude über das vor dem Verfall Gerettete bzw. das neu Geschaffene. Am Eigentumsvorsprung der Westdeutschen werden die Ostler absehbar nicht rütteln können. „Aufholen, ohne einzuholen“ lautet da die knappe Auskunft; einer der Gründe dafür, dass Angleichungsprozesse unter solchem Vorbehalt durchaus mit „politischem Verdruss“ vereinbar sind.

Einen weiteren Grund benennt die Ko-Direktorin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, Naika Foroutan, in einem Interview mit der Wochenzeitschrift Die Zeit vom 1. April 2019.

„In den Strukturdaten holt der Osten tatsächlich auf. Die Arbeitslosenzahlen gehen zurück, die Armutsraten sinken, wenngleich es in der Vermögensbildung noch immer eklatante Unterschiede gibt. So lässt sich das folgende Phänomen beobachten: Je stärker man im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft aufholt, umso größer wird zu Recht die Unzufriedenheit darüber, was noch nicht aufgeholt ist. Das nennt man Emanzipation. Und dadurch fragen sich auch im Osten immer mehr Menschen, wie kann es sein, dass wir strukturell aufholen, man uns kulturell aber noch immer als nicht zugehörig betrachtet?“

Der Erste, der dieses Paradoxon emanzipatorischer Prozesse formulierte, war Alexis de Tocqueville. „Sehr oft geschieht es, dass ein Volk, das die drückendsten Gesetze ohne Klage und gleichsam, als fühlte es sie nicht, ertragen hatte, diese gewaltsam beseitigte, sobald ihre Last sich vermindert“, schrieb er in seinem Klassiker „Der alte Staat und die Revolution“ von 1856. Eine bis heute gültige Erkenntnis, geeignet, die Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher mit dem bereits Erreichten aus eben jener emanzipatorischen Logik heraus zu verstehen, die keine Halbheiten gelten lässt und stets aufs Ganze zielt, in ihrem Fall auf die Anerkennung als Bürger erster Klasse. Ihnen Mal um Mal ihr doch recht kommodes Dasein im neuen Gemeinwesen vor Augen zu führen, an ihre Dankbarkeit zu appellieren, fruchtet ebenso wenig wie der Versuch, die Frauenemanzipation mit dem Verweis auf ihre bisherigen Erfolge abzufrühstücken. Diese Pflichtübung von Festrednern gelegentlich allfälliger Jubiläen verfehlt regelmäßig ihren Zweck und kann daher getrost entfallen.

2. Eine Frage der Zurechnung

Die Ostdeutschen segeln politisch in markant höherem Grad, als ihr Anteil an der bundesrepublikanischen Bevölkerung das erwarten ließe, in neurechtem Fahrwasser, und nicht wenige tummeln sich im rechtsradikalen Sumpf. Wie lässt sich das erklären?

Eine lange dominante Sicht macht die DDR dafür verantwortlich und beruft sich auf die Spätfolgen der zweiten deutschen Diktatur. Anders als die Westdeutschen seien die Menschen im Osten nach 1945 binnen Kurzem von einem „totalitären Regime“ ins nächste gestolpert. Sie hätten sich an die Üblichkeiten einer weithin „geschlossenen Gesellschaft“ äußerlich wie innerlich angepasst, einen kollektiven Habitus entwickelt, der unverkennbar autoritäre Züge trug. Nach dem Aufbruch von 1989 und dem nachfolgenden Beitritt zur Bundesrepublik unversehens in die „offene Gesellschaft“ entlassen, erlebten sie diese jähe Wende vielfach als Schock und klammerten sich, um damit zurechtzukommen, an ihr mentales Erbe. Derart blockierten sie die innere Ankunft im Westen, ihre Integration in die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Ihre Aversion gegen Neues, Fremdes und Fremde, ihre Phobien, ihr bald latenter, bald manifester Rassismus seien Ausdruck des Fortschleppens ihres in der DDR erworbenen und seither nicht abgeworfenen Gepäcks.

Angenommen, es verhielte sich so, wie diese Betrachtung es nahelegt, dann drängt sich sogleich eine Frage auf: Warum wurde diese toxische Mitgift im Verlauf der zurückliegenden drei Jahrzehnte gesamtdeutscher Geschichte wenn schon nicht entsorgt, so doch zumindest etwas aufgezehrt? Diese Frage richtet sich an die Überzeugungskraft der neudeutschen Gesellschaft für die Ostdeutschen. Ihr dadurch auszuweichen, dass man dieses Geschichtskapitel kurzerhand überspringt, als wäre es keiner eingehenderen Untersuchung wert, und stattdessen stur auf die DDR als einzigem Grund des Übels rekurriert, ist ignorant.

Gewiss, die Ostdeutschen lebten bis 1989 in einer ethnisch und kulturell sehr homogenen Gesellschaft. Deren hochbeschleunigte Verwandlung in einen Schauplatz ökonomischer Globalisierung, kultureller, religiöser Vielfalt verstörte häufig, verunsicherte, führte zu Abstoßungsreaktionen, die in den frühen 1990er Jahren eskalierten. Dass seinerzeit vor allem Jugendliche und junge Erwachsene an der Front der fremdenfeindlichen Ausfälle standen, weist in der Tat auf die DDR zurück, insbesondere auf deren letzte Dekade.

Ihre Ablehnung des Staates, der alltäglichen Enge und Gängelung des Lebens unmissverständlich zu markieren, griffen Teile der Jüngeren zu radikalen Ausdrucksmitteln. Hooligans skandierten rassistische Slogans, verwüsteten Züge, prügelten sich mit Ordnungshütern. Andere richteten ihren Frust gegen „linke“ Bands oder Umweltbewegte, staffierten sich mit NS-Symbolen aus und gerierten sich offen als „Faschos“. Die Aus- und Überfälle der frühen Umbruchjahre verweisen auf Wurzeln in der (späten) DDR. Aber je weiter man sich von dieser Zeit abstößt und auf die jüngere Gegenwart zubewegt, desto fragwürdiger wird diese Art der Zurechnung. Das Durchschnittsalter der heutigen Ostdeutschen liegt unter 50 Jahren. Die meisten absolvierten den Großteil ihres Lebens unter den gewandelten Verhältnissen, jene insbesondere, die ihre rechte, rechtsradikale Gesinnung auf die Straße tragen.

Wer deren Demokratiefeindschaft unbeirrt der DDR zuschreibt, begeht einen dreifachen Fehler: Er infantilisiert die im Osten lebenden Menschen, indem er die Erfahrungen, die sie sie seit 1989 sammelten, für irrelevant erklärt; so, als hätten die Umstände ihres Lebens nach der DDR keine mentalen Abdrücke hinterlassen. Er betrachtet des Weiteren das habituelle Erbe der DDR nicht in seiner Widersprüchlichkeit, vielmehr eindimensional als Handicap, Ballast, den es nun endlich abzuwerfen gilt. Schließlich rechtfertigt er, fast wie auf Bestellung, die Fehlentwicklungen, Ungerechtigkeiten, Kränkungen, die mit dem Umbruch einhergingen, zahllose Menschen aus der Bahn warfen, zeitweise oder auf Dauer zu Bürger zweiter Klasse stempelten.

Die notorische Ausblendung der Nachwendegeschichte bei der Ergründung der Ursachen für die „Rechtslastigkeit“ der Ostdeutschen ist interessengeleitet, ist ordinäre Ideologie.

Mit gelernten Duckmäusern hätte es den 89er Herbst niemals gegeben, so viel steht fest. Gerade weil der ostdeutsche Staat seinen Bürgern demokratische Grundrechte in der Praxis vorenthielt, war das Begehren nach politischer und bürgerlicher Selbstbestimmung so verbreitet wie lebendig. Die Rechtfertigungsdenker unserer Tage leugnen diese Dialektik. Uwe Johnson, dem Autor der „Jahrestage“, der die DDR 1959 verließ, war sie wohl bewusst. „Man könnte sagen“, äußerte er in einem Interview 1964, „dass die Idee einer demokratischen Regierung lebendiger ist und schärfer konturiert wird in einem Staat, der nicht demokratisch regiert wird. Der Mangel an Demokratie prägt Demokratie viel entschiedener aus; und durch die scharfen und oft sehr weitgehenden Eingriffe des Staates in das persönliche Leben seiner Bürger kristallisiert sie sich noch deutlicher heraus.“

Diese Worte im Kontext nachzulesen sei ausdrücklich empfohlen („Wo ich her bin ...“ Uwe Johnson in der D.D.R., herausgegeben von Roland Berbig und Erdmut Wizisla, Berlin 1994), abermals mit der Frage verbunden, aus welchen Gründen sich viele Ostdeutsche von der Demokratie abwandten, die sie selbst herbeigesehnt und gemeinsam erkämpft hatten.

3. Der Preis des Beschweigens

Ein realistisches, ungeschminktes Bild des gesellschaftlichen Umbruchs im Osten und seiner lebenspraktischen Konsequenzen — daran fehlte es staatlicherseits und in den Massenmedien noch bis vor Kurzem ganz entschieden. Namentlich die Regierenden mochten sich dazu lange nicht bequemen und begriffen den Ernst der Lage erst, als das Wahlvolk zwischen Elbe und Oder auffällig nach rechtsaußen aus der Reihe tanzte. Nun rang man sich zu späten Einsichten durch, wie Martin Dulig, der Ostbeauftragte der SPD, in einem Beitrag für Das Parlament vom 1. Oktober 2018:

„Die Nachwendezeit ist vorbei, ihre Aufarbeitung beginnt aber erst jetzt. Es war ein zentraler Fehler, über die damaligen Umbrüche, die Kränkungen und die Ungerechtigkeiten nicht öffentlich zu debattieren. Es wird Zeit, über die Form und Fehler des Systemwandels zu sprechen, der damals unter marktradikalen Vorzeichen ablief.“

Günter Nooke, ab 2000 für viele Jahre Sprecher der ostdeutschen CDU-Abgeordneten im Bundestag, räumte in einem Gespräch mit der Zeit vom 3. März 2019 das Scheitern der alten Politik der „Aufarbeitung“ ein:

„Ich weiß noch, dass ich damals eine Rede im Bundestag hielt. (…) Ganz selbstverständlich habe ich von Ostdeutschland gesprochen. Denn ich finde: Wer den Osten nicht kennt, der kann auch nichts für ihn fordern. Einen Tag später fuhr ich nach Thüringen zu einem Besuch beim damaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel. (…) Vogel bat mich, nicht diese ‚Ostkarte‘ zu ziehen. Er war der Meinung, dass wir sonst der Spaltung des Landes das Wort redeten. (…) Der Zeitgeist war so. Manche waren von der Einheit so berauscht, dass sie sagten: Das dürfen wir auf keinen Fall gefährden, indem wir weiter in Ost und West unterscheiden. (…) Kritik an der SED wollten die Westdeutschen hören, aber Kritik an der aktuellen Lage im Osten? Besser nicht. Heute befinden wir uns in einer Situation, in der sich der Osten vielfach nicht repräsentiert und verstanden fühlt. Wir, also meine Generation, hat es nicht geschafft, dieses Problem zu lösen, und jetzt müssen die Jüngeren mal sehen, wie sie das anstellen.“

Nun also Aufarbeitung der Aufarbeitung, ihrer Einseitigkeiten, Versäumnisse. Fehlerdiskussion, Benennung der wahren Ursachen für die beunruhigende Rechtsverschiebung im politischen Spektrum in den neuen Ländern, und Dulig gibt einen Fingerzeig für den gedanklichen Spurwechsel: „Systemwandel unter marktradikalen Vorzeichen“. Das trifft den Kern der Problematik. Den hauptsächlichen Schlüssel zur Erklärung der unbestreitbaren Misere liefern die 1990er Jahre, insbesondere deren erste Hälfte.

4. Mehr Kapitalismus wagen!

Die Erzählungen der meisten Ostdeutschen, die die Jahre unmittelbar nach dem Systemwechsel bewusst erlebt haben, kreisen bis heute um den geschichtlich beispiellosen wirtschaftlichen Kahlschlag im gesamten Beitrittsgebiet. Von den 150 Großbetrieben der DDR mit mehr als 5000 Beschäftigten verschwanden alsbald 145 von der Bildfläche, desgleichen die an diese Unternehmen gebundenen sozialen, medizinischen und kulturellen Einrichtungen.

In weiten Landstrichen verödete das Leben, kam das gesellschaftliche Miteinander beinahe schlagartig zum Erliegen. Die Stützpunkte des geselligen Verkehrs schlossen ihre Türen, Bahnen fuhren nun oftmals vorbei, Busse kamen nur mehr selten, das Gefühl, abgehängt, Provinz zu sein, griff um sich. Wer noch etwas vorhatte mit seinem Leben, suchte das Weite, und genau das taten Millionen von Ostdeutschen in den frühen 1990ern. Wer seine Arbeit behielt oder neue fand, schätzte sich glücklich und willigte aufgrund dieses Privilegs in außertarifliche Beschäftigungsverhältnisse ein. Ansonsten drohten prekäre Beschäftigung, Leih- und Zeitarbeit, Maßnahmekarrieren oder Arbeitslosigkeit, die Metamorphose vom Citoyen zum Klienten der Behörden, zum Transferempfänger, Inbegriff einer großen, bis heute nicht verwundenen Kränkung.

Binnen weniger Jahre wurde der Osten Deutschlands zum Experimentierfeld einer raueren, hart auf das Leben der Einzelnen zupackenden Gangart des Kapitalismus. „Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit!“, „Sozial ist, was Arbeit schafft, welcher Güte auch immer!“, so lauteten die Schlagworte dieser Zeit.

Der Osten war insofern „Avantgarde“, als die hier einstudierten Verhältnisse und Verhaltensweisen einen Paradigmenwechsel der Wertschöpfung im ganzen Land befördern sollten — die Abkehr vom Teilhabekapitalismus und dessen Ersetzung durch eine marktkonforme Demokratie.

Diese raumgreifenden ökonomischen Flurschäden und sozialen Verwerfungen prägten die ostdeutsche Erfahrung, nährten Zweifel an der Demokratie im Maßstab von etlichen Hunderttausenden.

Singulär aufgrund des atemberaubenden Tempos, in der dieser Form- und Funktionswandel des Kapitalismus hier vonstattenging, korrespondiert die ostdeutsche Erfahrung gleichwohl mit der Erfahrung von Millionen von Menschen, die denselben Umbruch, nur zeitlich gestreckter, durchliefen und die nie auch nur einen Tag in einer Diktatur gelebt hatten.

Im Rust Belt in den Vereinigten Staaten, in den klassischen Industrieregionen in England und Frankreich vollzog sich dieselbe, tief greifende Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft — mit demselben Resultat: der massenhaften Entfremdung der Bürger von demokratischen Institutionen, Verfahren und Prozessen sowie des dazu komplementären Aufstiegs nationalistischer, vulgärdemokratischer Strömungen und Parteien. Mit diesem Aspekt der hier untersuchten Thematik hat die DDR rein gar nichts zu tun.

5. Zweierlei Demokratieerfahrung

Demokratische Grundrechte, Westbindung, soziale Marktwirtschaft — auf diesen drei Säulen stand und entwickelte sich die Bundesrepublik seit ihrer Gründung im Mai 1949. Das demokratische Gehäuse, in das die Westdeutschen einzogen, war vorgefertigt, ausgearbeitet vom Parlamentarischen Rat unter Mentorschaft der westlichen Alliierten. Sein wirtschaftlicher Unterbau, gleichfalls vorgedacht, konzipiert noch in den Kriegsjahren, erwies sich als trag- und ausbaufähig, bescherte den Bundesdeutschen eine spürbare und lang anhaltende Verbesserung ihres materiellen Daseins. Zwar geschah kein Wunder, aber es ging kontinuierlich bergauf, und je länger der Aufschwung währte, desto mehr festigte sich das Gefühl, es im Ganzen doch gut getroffen zu haben, und so lebte man sich nach und nach in den politisch-rechtlichen Rahmen des neuen Gemeinwesens ein.

Das Drehbuch des deutsch-deutschen Einigungsprozess von 1990ff. stellte diese Abfolge in jeder Hinsicht auf dem Kopf. Diesmal war die Demokratie von unten erkämpft, die Wiedervereinigung von der Mehrheit bejaht und gegen alle Einwände und Bedenken vorangetrieben. Kaum war das primäre Ziel des ostdeutschen Aufbruchs erreicht, verbriefte Grundrechte und elementare Freiheiten für jedermann, verloren Millionen von Ostlern den wirtschaftlichen und sozialen Halt. Bestimmungsgewinn in politischer und rechtlicher Hinsicht und sozialökonomischer Bestimmungsverlust gingen Hand in Hand. Der Boden, auf dem man sich bewegte, gab nach, und genau das untergrub die Identifizierung mit dem Rahmen, in dem man sich bewegte. Ohne Kenntnisnahme dieses Grundwiderspruchs wird die gesamte nachfolgende Entwicklung unverständlich.

Weder versteht man den harten Kampf um Selbstbehauptung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre noch die aufkeimenden antidemokratischen Affekte der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts, die sich bereits damals weit ungemütlicher hätten äußern können, wenn die Tränen der Enttäuschung und auch der Wut nicht auf den Kissen der parlamentarischen, demokratieaffinen Linken getrocknet wären. Spätestens seit der Flüchtlingskrise von 2015 erlitt dieses Zweckbündnis Schaden, ob dauerhaften, bleibt abzuwarten. Seither adressieren veritable Teile der Frustrierten und Verprellten ihren Protest an den rechten Gegenpol der politischen Landschaft.

Nun schreiten sie zur Generalabrechnung mit dem „System“ und seinen Trägerschichten. Treuhandpolitik, Hartz-Gesetze, Bankenrettung, offene Grenzen für Flüchtlinge — alles über ihre Köpfe hinweg beschlossen und ins Werk gesetzt; „Schluss damit, jetzt reden wir“. Und mit einem Mal strömen Politiker, Journalisten, Wissenschaftler in den von ihnen so lange verschmähten Osten, um herauszufinden, was da schiefläuft. „Dann haben wir das doch richtig gemacht“, sagen sich die bis dato Abgeschriebenen. „Genau das war der Zweck unseres Radikalprotestes: die öffentliche Wahrnehmung unserer Lage, der Misere, die hier herrscht.“

6. Der Osten als Lehrstück

Die Schockwellen des großen Bebens der frühen Umbruchjahre pflanzen sich bis in unsere Tage fort und zwingen zur Bestandsaufnahme: ökonomischer Kahlschlag, Abwanderung, infrastrukturelle Verödung, Überalterung, Vermännlichung der „Restbevölkerung“. Das gilt nicht für den gesamten Osten, aber für umfängliche Areale. Bleiben oder gehen, die Gretchenfrage in der DDR, stellt sich für jeden nachwachsenden Jahrgang erneut. Und sie beantwortet sich in den kritischen Regionen auf altvertraute Weise.

Die Beweglicheren, Ambitionierteren, Jüngeren, die mit den besseren Schulabschlüssen, verlassen ihre Heimat. Sie schwächen, indem sie gehen, die gesellschaftliche Mitte, diesen Garanten schlechthin für die Verteidigung demokratischer Errungenschaften. Die ostdeutsche Mittelschicht ist gleichsam „von Hause aus“ verwundbarer, vom sozialen Abstieg bedrohter, weil merklich ressourcenarmer als ihr westdeutsches Pendant. Der massenhafte Exodus zehrt ihr politisches Mobilisierungspotenzial zusätzlich auf. Oftmals steht sie auf verlorenem Posten, wenn die radikale Rechte aufmarschiert. Gar nicht so selten reihen sich Teilfraktionen der Mittelschicht in diese Märsche ein.

Wortführer, Anhänger und Mitläufer dieser rechten Bewegung treten umso selbstbewusster auf, als sie um die Stärke wissen, die ihnen aus der Schwäche von ostdeutscher Mittelschicht und Zivilgesellschaft erwächst. Je mehr von denen, die ihnen die Stirn bieten könnten, abwandern, desto größer wird ihr politisches Gewicht vor Ort, in Wahlkreisen und Kommunen. Das wiederum gibt Menschen, die das schwer erträglich finden, den letzten Anstoß zur „Flucht“; ein Teufelskreis. Etwa noch verbleibende Zweifel an diesem Zusammenhang räumte das ebenso umfängliche wie detaillierte Dossier zur Ost-West-Wanderung auf, das Die Zeit in ihrer Ausgabe vom 2. Mai 2019 veröffentlichte. Je gravierender der Abgang, desto stärker färbt sich die politische Landschaft blau. Durch den Rekurs auf die DDR wird diese Korrelation um keinen Deut plausibler.

Die Lehre aus diesem Dilemma ist einfach, jeder, der seinen Verstand gebraucht, kann sie verstehen. Ein derart umfassender und radikaler gesellschaftlicher Umbau, wie er sich im Osten Deutschlands nach 1990 vollzog, muss in allererster Linie die Ressourcen und die Kraft der einheimischen Bevölkerung stärken. Die schnell um sich greifende sozialökonomische Demobilisierung der Ostdeutschen war ein Unglück, das sich nicht hätte ereignen dürfen, und dessen nun allseits sichtbare Ausläufer das ganze Land betreffen.

Die Vita activa ist die Mutter der Demokratie, und dieser Geist, diese Haltung, Mitzutun, in erster Reihe, aus eigenem Vermögen, in eigener Regie kam in viel zu vielen Fällen zum Erliegen, kaum dass das Hauptwerk, die Eroberung demokratischer Freiheiten, verrichtet war.

P.S.

Ein Gutes hat die hier skizzierte Entwicklung — sofern man mit ihr umzugehen weiß. Der Auftrieb der Neuen Rechten bewirkte eine Repolitisierung der Gesellschaft, die bis heute anhält. Die Wahlbeteiligung steigt, die Profile der Parteien schärfen sich, die derweil weitverzweigten Kanäle der öffentlichen Meinungsbildung reflektieren die wachsende Polarisierung der Gemüter und verstärken sie zugleich. Der Druck, selbst Stellung zu beziehen, wächst. Zuschauer des politischen Geschehens werden zu Akteuren. Und das ist gut so.

Wer handelt, trifft Entscheidungen, die so, aber auch anders möglich wären. Behaupte niemand, die Umstände diktierten seinen Willen, denn das ist eine Lüge. Noch die drückendsten Lebensbedingungen bringen eine Vielfalt individueller Antworten hervor. Es gibt, um wieder den Osten ins Spiel zu bringen, Dutzende von Gründen, warum professionelle Frustverstärker hier solchen Zulauf finden. Kein einziger legitimiert den Beitritt ins Lager der Neuen Rechten. Es gibt keinen Notstand, auch keinen sozialen, auf den man sich bei dieser Option berufen könnte. Hannah Arendt hat in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ von 1964 alles Nötige dazu gesagt.

„Wenn der Angeklagte sich entschuldigt, er habe nicht als Mensch, sondern als bloßer Funktionär gehandelt, dessen Funktionen von jedem anderen ebenso gut hätten ausgeführt werden können, so ist es, als ob ein Verbrecher sich auf die Kriminalstatistik beruft, derzufolge soundso viele Verbrechen pro Tag an dem und dem Orte begangen werden, er also nur getan habe, was die Statistik von ihm verlangt habe — denn einer muss es dann doch schließlich machen.“

Die politische Rechte, die radikale zumal, hat die wahren Ursachen des verbreiteten Unbehagens am Zustand der Gesellschaft seit je zu kaschieren gewusst, und sie wird diesen auch derzeit nicht zu Leibe rücken. Man optiert, wenn man für sie optiert, gegen seine eigenen Lebensbedürfnisse. Das kann man wissen. Und viele wissen es. Und handeln, ihrem berechtigten Ärger Luft zu machen, wider besseres Wissen. Das ist ihr wunder Punkt. Da kann man sie packen.

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Eine Liebeserklärung an die Ostdeutschen
Samstag, 16. November 2019, 12:00 Uhr
~8 Minuten Lesezeit

Eine Liebeserklärung an die Ostdeutschen

Die ehemalige DDR sollte zukünftig nicht mehr „ehemalig“ heißen.

von Jens Lehrich

Foto: canadastock/Shutterstock.com

Nach 30 Jahren sind Ost und West nur auf dem Papier wiedervereinigt. Regierung und Mainstreammedien befeuern die Spaltung und stellen die Ostdeutschen pauschal in die naive und meist sogar rechte Ecke. Da ich seit knapp 27 Jahren als Wessi den Osten bereise, sich meine Tourneecrew komplett aus Ostdeutschen zusammensetzt und ich dort auch intensive Freundschaften geschlossen habe, nehme ich ein ganz anderes Bild des Ostdeutschen wahr, als es medial vermittelt wird. Der Versuch einer Liebeserklärung.

Der Kapitalismus lebt von Spaltung und Kontrolle. Er muss zerstören, um wieder aufbauen zu können, nur das garantiert ihm ewiges wirtschaftliches Wachstum; er muss immer stärker kontrollieren, um seine Bürgerinnen und Bürger auf Kurs zu halten. Damit der Mensch sich im Kapitalismus frei fühlt, bekommt er großzügig ein paar Wahlmöglichkeiten, am Ende aber darf er nie das große Ganze in Frage stellen, sonst wird er als Verschwörungstheoretiker diffamiert und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. So sichert sich der Kapitalismus gegen Angriffe von außen ab, manchmal aber macht er es noch geschickter. Dazu ein Beispiel aus der vergangenen Woche.

In der aktuellen KenFM-Sendung „Zur Sache“ fällt in der 11. Minute ein bemerkenswerter Satz. Einer der Talkgäste zum Thema „9. November ‘89 — der Beginn vom Ende des Neuanfangs?“ fragt Moderator Ken Jebsen, warum dieser in seiner Moderation eigentlich immer „ehemalige DDR“ sage, schließlich würde es im normalen Sprachgebrauch ja auch nicht ehemaliges Mittelalter heißen, oder ehemaliges Römisches Reich.

Jebsen, der für mich derzeit einer der investigativsten alternativen Medienmacher im deutschsprachigen Raum ist, pariert in gewohnter Manier mit einer zynischen Frage: „Bin vielleicht auch ich bereits ein Opfer der Propaganda der Tageschau geworden?“

Diese Szene bringt eines brillant auf den Punkt: wie wir nämlich alle, selbst die intelligentesten Köpfe unseres Landes, durch den Framing-Effekt immer und immer wieder völlig unbewusst „gehirngewaschen“ werden. Denn durch den im deutschen Sprachgebrauch weitverbreiteten und durch die Mainstreammedien unterstützten Begriff „ehemalige DDR“ wird dieses Land praktisch doppelt beendet. So soll auch nach 30 Jahren beschworen werden, dass so etwas wie die DDR, respektive der Sozialismus, niemals wieder „passieren“ dürfe.

Mit den Jahren habe ich gelernt, in genau solchen Augenblicken in die Vogelperspektive zu schalten. Und aus eben dieser betrachtet stellt sich für mich die Frage, in wessen Interesse es eigentlich ist, die DDR so zu verteufeln.

War denn am Sozialismus wirklich alles so schlecht, wie es von unseren Leitmedien und beispielsweise auch in Kinofilmen oder TV-Serien immer wieder episch dargestellt wurde und wird. Kann denn wirklich immer nur der Ossi vom Wessi lernen, wie der Mainstream es uns subversiv immer wieder ins Ohr haucht — oder vielleicht doch auch der Wessi vom Ossi?

Allein durch diese Einseitigkeit spaltet der kapitalistische Staat, der ja vorgibt, versöhnen und vereinen zu wollen. Wie passt das alles zusammen: Schaut man sich die Bemühungen der Bundesregierung an, Jahr für Jahr den Tag der Deutschen Einheit bundesweit zu einem Freudenfest für alle Deutschen auszurufen und gleichzeitig aber die Ostdeutschen immer und immer wieder medial pauschal zu diffamieren?

In einer Podiumsdiskussion mit unserem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, die ich im vergangenen Jahr auf Einladung der Demokratischen Stimme der Jugend in Hannover moderiert habe, erklärt dieser, dass er jedes Mal, wenn er in Sachsen sei, den Menschen sage, er habe Angst um die Ostdeutschen und ihre Haltung zu Fremden.

Rumms, da hat sie wieder zugeschlagen, die „Nazikeule“. Daraus ergeben sich für mich zwei Fragen. Erstens: Wie kann man als ehemaliges Staatsoberhaupt Fremdenhass pauschalisieren und alle dort lebenden Sächsinnen und Sachsen über einen Kamm scheren? Und vor allem zweitens: Bekommt man durch solch eine Äußerung tatsächlich Verständnis und Frieden oder spaltet sie am Ende umso stärker? Ich denke die Antwort an dieser Stelle ist mehr als offensichtlich …

Meine nächste Frage an Wulff, ob wir nicht auch empathisch sein müssten mit Menschen und herausfinden sollten, „wo es weh tut“, um eine friedliche Lösung zu erreichen, bügelt dieser mit einer Gegenfrage ab: „Sie wollen mir jetzt aber nicht etwa Sympathie für die AFD abgewinnen?“ Nein, lieber Herr Wulff, das wollte ich ganz und gar nicht. Auch für mich ist die AFD nicht im Entferntesten eine Alternative, aber mit Ausgrenzung und weiterer Spaltung unterstützen wir am Ende genau das System, das wir nicht wollen. Wulff ist grundsätzlich in der persönlichen Begegnung ein charismatischer Mann, der Freundlichkeit und Wärme ausstrahlt. Ich bin davon überzeugt, er sagt das, was er sagt, nicht in einer bewusst bösartigen Absicht. Aber sein Weltbild scheint eben wie das der meisten Menschen ausschließlich in gut und böse unterteilt zu sein, in schwarz und weiß. Er spaltet, ohne es zu merken, und glaubt, mit seinen Mahnungen grundsätzlich Gutes zu tun.

Rückblende: Der 9. November 1989 war einer der aufregendsten Tage in meinem Leben. Ich saß vor dem Fernseher und rief meine Mutter ins Wohnzimmer: „Die Mauer ist gefallen, die DDR-Bürger dürfen reisen.“ Meine Mutter stürmte aus der Küche unserer Altbauwohnung herbei und gebannt starrten wir eine halbe Ewigkeit auf den flackernden Telefunken-Farbbildschirm. Wir konnten das Glück der Menschen auf der anderen Seite unseres Landes förmlich durch den Fernseher spüren.

Bereits einen Tag später saß ich, elektrisiert durch die Medienberichte, im völlig überfüllten Intercity von meiner Heimatstadt Bad Salzuflen nach Berlin. Ich wollte die deutsch-deutsche Geschichte mit eigenen Augen sehen, wollte dabei sein, wenn die Menschen aus Ost und West sich in die Arme fallen. Es waren Bilder, die ich ein Leben lang nicht vergessen werde, denn die 24-stündige Dauerparty an der Berliner Mauer wurde zu einem der beeindruckendsten Ereignisse in meinem Leben. Dass ich drei Jahre später als junger Radiojournalist dann auch noch Michael Gorbatschow in Gütersloh persönlich treffen und um ein Autogramm bitten durfte, setzte meiner neu gewonnenen Ostromantik die Krone auf.

Doch der Osten Deutschlands hielt noch mehr Überraschungen für mich bereit. In Kiel entwickelte ich 1994 mit einem Kollegen die Radio-Comedyserie Baumann & Clausen, die schon kurze Zeit später auch in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auf tägliche Sendung ging. Ich war damals ein junger Redakteur und hatte ja gar keine Ahnung, welchen Hype wir in der DDR mit dieser Bürokraten-Comedy auslösen würden. Stundenlang standen die Magdeburger für uns Wessis im Landesfunkhaus für ein Autogramm an, auch in Dessau, Cottbus, Rostock, Halle an der Saale oder Schwerin das gleiche Bild.

Wenn ich heute an diese Jahre zurückdenke, dann kommt es mir immer noch vor wie ein verrückter Traum, denn auch unsere ersten Bühnen-Tourneen waren in den neuen Bundesländern von Anfang an immer restlos ausverkauft. Was dabei auffiel: die Herzlichkeit der Menschen, ihre Geduld, ihr Humor und ihre grenzenlose Freundlichkeit im Umgang mit uns und auch miteinander.

Eine alte Dame, um die 80 Jahre alt, kam in Dessau nach einem Auftritt auf uns zu, schüttelte uns die Hand und bedankte sich mit zitternder Stimme einfach dafür, dass es uns gibt. Sie erzählte mit Tränen in den Augen, dass ihr Mann vor zwei Jahren verstorben sei und wir am Morgen ihr einziger Grund wären, noch aufzustehen. Dutzende solcher Erlebnisse hatte ich in den vergangenen fast drei Jahrzehnten.

Der Kritiker könnte an dieser Stelle einwerfen, ja klar sind die freundlich zu euch, ihr seid ja auch bekannt aus Funk und Fernsehen. Aber eben genau das ist es nicht. Die meiste Zeit, in der ich nicht als die Comedyfigur Hans Werner Baumann verkleidet und geschminkt auf der Bühne stehe, werde ich nicht erkannt und dennoch fühle ich mich im Osten pudelwohl.

2013 schloss ich in Erfurt mit einem Straßenmusiker Freundschaft, unsere gesamte Tourneecrew kommt aus den neuen Bundesländern, auch mit unserem Rubikon-Herausgeber Jens Wernicke, der ebenfalls aus der DDR stammt, verstand ich mich auf Anhieb prächtig. Aber vor allem sind es die ganz normalen Menschen im Osten, die mich immer wieder berühren. Egal ob morgens beim Bäcker, im Supermarkt, im Schuhgeschäft, im Taxi oder in der Straßenbahn — die Menschen sind selten arrogant, sind unglaublich hilfsbereit und liebenswürdig. Immer wieder staune ich auch in unserer Tournee-Crew über die Kreativität, wenn es darum geht zu improvisieren, weil etwas mal nicht so läuft wie geplant.

Warum also empfinde ich als Wessi den Ossi so anders, so positiv? Liegt es vielleicht daran, dass der Kapitalismus immer dann seine hässliche Fratze zeigt, wenn es ihm gelingt, im Menschen den Dämon zu wecken, den gierigen Zeitgenossen, der nie genug bekommen kann?

Ist der Kapitalismus sauer auf die Ostdeutschen, weil diese noch eine andere Gesellschaftsordnung kennen und viele von ihnen im Dauer-Konsum nicht ihr Lebensglück sehen? Weil es mehr um Zwischenmenschlichkeit geht und nicht um ständig größer, weiter, höher? Weil der Kapitalismus ein Kaputtalismus ist, der erst die Menschlichkeit und dann den Menschen zerstört?

Und was macht man in solch einem Fall, wenn der Mensch im Kapitalismus nicht so mitspielt, wie es das System gerne hätte? Man spaltet, man diffamiert, man holt die Nazikeule raus oder andere Keulen, die den Ungehorsamen wieder auf Kurs bringen sollen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Rechtes Gedankengut, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind immer zu verurteilen, egal aus welcher Himmelsrichtung sie kommen. Wichtig wäre jedoch, Ursachen gründlich zu hinterfragen und auch kritische Themen aufzugreifen, statt pauschale Urteile zu fällen.

Die Frage ist nun aber: Was ist die Alternative? Der Sozialismus ist ebenfalls gescheitert, die DDR war eine Diktatur, die ihre Menschen eingesperrt und an der Mauer eigene Landsleute erschossen hat. Keine Frage, die DDR hatte brutale Seiten. Doch wenn wir endlich eine Wiedervereinigung im wahrsten Sinne des Wortes erreichen wollen, dann müssen wir es selbst in die Hand nehmen. Wir müssen beginnen uns kennenzulernen und vor allem voneinander zu lernen, und ohne Arroganz und Überheblichkeit die guten Seiten beider Systeme in einem zusammenführen. Und am Ende hat sich der liebe Gott vielleicht doch etwas dabei gedacht, dass die Sonne im Osten aufgeht und nicht im Westen.

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Die russische Sicht
Freitag, 15. November 2019, 15:00 Uhr
~20 Minuten Lesezeit

Die russische Sicht

Igor Maximytschew, Gesandter der Botschaft der Sowjetunion in Berlin, berichtet, wie er 1989 die Maueröffnung miterlebte.

von Ulrich Heyden

Foto: patrice6000/Shutterstock.com

Igor Maximytschew wurde 1932 in der turkmenischen Stadt Tachta-Basar, nicht weit von der Grenze zu Afghanistan, geboren. Nach der Ausbildung an der Moskauer Diplomatenschule MGIMO wurde er 1958 Referent der gerade erst eröffneten Botschaft der Sowjetunion in Bonn und später Referent der sowjetischen Botschaften in Paris und Berlin. In Deutschland ist Maximytschew durch Kolumnen in der Wochenzeitung „Freitag“, Auftritte bei Maybrit Illner und verschiedene Bücher und Aufsätze über die deutsch-russischen Beziehungen bekannt, zum Beispiel „Der Anfang vom Ende. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1933 — 1939“ aus dem Jahr 1987, „Russland begreifen“ von 2018. Als Mitarbeiter der Botschaft in Bonn hatte Maximytschew häufig Kontakt mit Konrad Adenauer und westdeutschen Industriellen, die der Sowjetunion damals Milliardenkredite versprachen, wenn der sowjetische Botschafter auf die DDR-Führung einwirken würde, damit sie von ihrem Plan, den Sozialismus aufzubauen, Abstand nähme. Ulrich Heyden interviewte diesen wichtigen Zeitzeugen und ergänzt sein Interview durch einige eigene Betrachtungen.

Ulrich Heyden: Sie arbeiteten von 1987 bis 1992 in der Botschaft der Sowjetunion in Berlin als Gesandter und 1992 als Geschäftsträger. Was empfanden Sie am Abend des 9. November 1989, als der Parteisekretär Günter Schabwoski auf einer Pressekonferenz von einem Zettel ablas, die Grenzübergänge aus der DDR nach Westberlin und Westdeutschland seien jetzt offen für DDR-Bürger?

Igor Maximytschew: Die Entscheidung der DDR-Regierung, die Kontrolle an der Mauer fallen zu lassen, war richtig, weil die Erwartung auf diese Entscheidung in der Bevölkerung sehr groß war. Bereits seit dem Jahr 1987 waren diese Erwartungen in der Bevölkerung sehr verbreitet, weil im Jahr 1987 die offizielle Reise von Erich Honecker in die Bundesrepublik Deutschland stattfand. Und wenn der Chef solche Reisen macht, dann haben die Bürger eine berechtigte Erwartung, dass auch sie einmal eine solche Möglichkeit bekommen müssen.

„Die Massen forderten: Die Mauer muss weg!“

Die Forderung „Die Mauer muss weg“ war wirklich eine Forderung der Masse. Das einzige, was dabei falsch gemacht wurde, war die Verkündung, dass die neuen Regelungen an der Mauer sofort in Kraft treten. Das gab den westdeutschen und Westberliner Medien die Möglichkeit zu behaupten, dass die Mauer gar nicht mehr steht. Ich erinnere mich an die Erklärung eines Sprechers des Ersten Deutschen Fernsehens, der sagte: „Die Mauer gibt es nicht mehr, kommt alle zu uns!“

Und eben diese falsche Auslegung der Entscheidung hat die Situation gleich auf den Kopf gestellt. Es gab den Druck der Masse, die Menschen sofort nach Westberlin zu lassen. Die Grenzer hatten überhaupt keine Instruktionen. Die Instruktionen sollten noch kommen. Die Veröffentlichung des Regierungsbeschlusses hatte man eigentlich für den 10. November geplant. Es gab also einen doppelten Fehler. Die verfrühte Veröffentlichung und die falsche Angabe über das Datum des Inkrafttretens der Anordnung.

Aber hätte es eine Alternative gegeben? In einem Aufsatz schreiben Sie, die Sowjetunion hätte den Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten verlangsamen können, damit es nicht so chaotisch wird. Gab es wirklich so eine Alternative zu diesem chaotischen Ablauf und dieser schnellen, überstürzten Vereinigung?

Selbstverständlich. Das war nicht nur die Absicht der Sowjetunion, die Sache in vernünftige Zeitabläufe einzubinden, sondern auch die Absicht der DDR, der Masse der DDR-Menschen, die daran interessiert waren, dass die Bedingungen der Schaffung eines gemeinsamen Staates nicht überstürzt geschieht.

Das sagen Sie jetzt als erfahrener Diplomat. Aber die Millionen Bürger der DDR waren doch schon in einer Euphorie. Zumindest ein großer Teil wollte, das alles schnell passiert.

Ja, natürlich. Es war ein sehr verbreiteter falscher Eindruck, dass wenn die deutsche Mark kommt, dann wird jeder in der DDR den gleichen Wohlstand erreichen, den es in der Bundesrepublik gibt. Man hätte den Leuten eigentlich klar machen müssen, dass das eine Illusion ist.

Aber wer konnte das damals klarmachen? Die SED, die Parteisekretäre?

Das hätte Bundeskanzler Helmut Kohl machen müssen, als verantwortlicher Staatsmann, als einer, der die Situation in der Hand hatte, als einer, der überhaupt alles plante, was in dieser Zeit geschah. Das wäre seine Aufgabe gewesen. Aber er hat es umgekehrt gemacht. Er hat „die blühenden Landschaften“ versprochen. Obwohl diese Landschaften in weiter Ferne liegen. Und wir sehen heute, dass diese weite Ferne noch nicht nähergekommen ist.

Gab es Pläne, dass die 450.000 in der DDR stationierten Soldaten der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte diese chaotische Vereinigung stoppen, dass sie die Demonstrationen einschränken?

Nein. Also man muss wissen, dass das Ziel der Präsenz der Westgruppe der sowjetischen Truppen eine gemeinsame Verteidigung, eine Sicherung des Friedens für die DDR-Bevölkerung wie auch für das ganze sozialistische Lager war. Nicht mehr und nicht weniger. Jeder Versuch, die DDR von außen anzugreifen oder zu besetzen, wäre ein Casus Belli gewesen. Dann hätte die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte eingegriffen. Aber die innere Situation in der DDR, die ging unsere Soldaten überhaupt nichts an.

„Bei Angriffen hätten sich die sowjetischen Soldaten wehren müssen.“

Und was passierte, wenn Demonstranten in der DDR vor KGB-Gebäuden aufmarschierten, oder vielleicht sogar vor Kasernen? Gab es solche Situationen? Was sollten die sowjetischen Soldaten in diesem Moment machen? Sollten sie Warnschüsse abgeben? Oder sollten sie mit den Leuten sprechen?

Sie haben Recht. In dem Fall, wenn die Truppen angegriffen werden, von den Demonstranten oder den Agenten des Westens, hätten sich die Soldaten wehren müssen.

Sehen Sie, zum Jahreswechsel 1989/1990 war eine sehr gefährliche Lage entstanden. Die Nationale Volksarmee war aufgelöst, das Ministerium für Staatssicherheit war eigentlich abgeschafft. Die Polizei wurde terrorisiert. Die Polizisten wagten nicht, in Uniform auf die Straße zu gehen.

Wenn es bürgerkriegsähnliche Ereignisse gegeben hätte, wäre da nur eine Kraft gewesen, welche Ruhe und Sicherheit hätte wiederherstellen können. Und das war die Westgruppe der Truppen. Aber wenn die Demonstranten ein bisschen vernünftig blieben, dann war diese Gefahr überhaupt nicht vorhanden.

Es gibt diese Erzählung über Wladimir Putin, der in Dresden vor dem KGB-Gebäude stand, als Demonstranten kamen. Da hat er angeblich gesagt: „Ich bin ein Soldat“, und dann hat einer der KGB-Bewacher die Maschinenpistole durchgeladen und dann sind die Demonstranten weitergezogen. Das wird in den westlichen Medien immer wieder erzählt.

Das kann ich weder bestätigen noch widerlegen. Die Geschichte entspricht ein bisschen der Wahrheit. In Dresden gab es eine kleine Vertretung des KGB, weil in den Wäldern um Dresden die Panzerarmeen konzentriert waren. Und die waren eine Schlagkraft der Westgruppe der sowjetischen Truppen. In dieser Eigenschaft waren sie …

… ein sicherheitsempfindlicher Bereich?

Ja, sie waren Objekt der westlichen Geheimdienste. Und deshalb gab es auch diesen KGB-Stützpunkt in Dresden.

Am 4. November hatten auf einer Kundgebung auf dem Ostberliner Alexanderplatz noch 300.000 Menschen für eine sozialistische, aber stark erneuerte DDR demonstriert. Welche Chancen haben sie dieser Bewegung derjenigen, welche die DDR nicht so einfach aufgeben wollten, damals eingeräumt?

Die Veranstaltung vom 4. November auf dem Alexanderplatz war eigentlich die letzte große Tat der wirklichen Revolution in der DDR. Eine Revolution, die zum Ziel hatte, den Sozialismus zu reformieren und eine Realität zu schaffen, die den ursprünglichen Ideen der DDR-Gründer entsprochen hätte.

„Die Oktoberrevolution der DDR war am 9. November zu Ende.“

Die Historiker sprechen von einer Oktoberrevolution in der DDR, die damals zum Sturz von Erich Honecker geführt hat. Das war richtig. Und am 4. November versammelten sich in Berlin nicht 300.000, sondern fast eine Million Teilnehmer. Das war die größte Demonstration der DDR-Geschichte. Es gab eine Menge von Losungen und Forderungen in dieser Demonstration. Aber es gab keine einzige Losung, in der die Vereinigung Deutschlands gefordert wurde. Alle Losungen konzentrierten sich auf die Reformen in der DDR.

Es gibt eine Meinung — und die teile ich — dass der 4. November 1989 der Höhepunkt und gleichzeitig die letzte Aktion der Oktoberrevolution in der DDR war. Denn am 9. November, als ganz unerwartet, ganz unvorbereitet, die Kontrollen an der Grenze, auf der Linie der Sektorenabgrenzung in Berlin abgeschafft wurden, war das das Ende dieser Revolution und es begann die Zeit der Eingliederung der DDR in den Bestand der Bundesrepublik Deutschland.

Die Mauer war eine Grenze zwischen zwei gesellschaftlichen Systemen. Es war die Grenze zwischen zwei Militärblöcken. Es war die Grenze zwischen Armeegruppen im Westen und im Osten.

Aber es tut auch Ihnen leid, dass an dieser Grenze Menschen gestorben sind?

Aber natürlich. Und ich bin bis heute Gott dankbar, dass trotz aller negativen Seiten, welche die Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik hatte, dass bei allen diesen negativen Dingen kein einziger Schuss gefallen ist. Ich bin dem lieben Gott und der Vernunft der damaligen Politiker in Moskau dankbar.

Sie haben schon über die sowjetischen Soldaten gesprochen. Die haben nicht geschossen. Aber was ist mit dem Ministerium für Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee? Warum haben die nicht geschossen? Es gab doch auch orthodoxe Kommunisten, die gesagt haben, wir geben die DDR nicht her. Wir stoppen das.

Wissen Sie, ich bin nicht die richtige Adresse für solche Fragen. Ich weiß es nicht.

Wurde in der Botschaft der Sowjetunion darüber gesprochen?

Nein, niemals.

Das heißt, Sie haben darauf vertraut, dass die staatlichen Organe der DDR …

… wir trugen keine Verantwortung für die Stasi oder die Nationale Volksarmee.

Aber als Bruderpartei haben Sie doch einen Rat gegeben. Und Mielke war in Moskau gewesen. Ich glaube, das war 1989.

Die Botschaft hatte überhaupt nichts damit zu tun. Man muss doch ganz genau unterscheiden zwischen den Botschaftern, dem diplomatischen Dienst und der Parteihierarchie. Für die Parteihierarchie trage ich keine Verantwortung. Ich erzähle Ihnen nur, was wir in der Botschaft gemacht, gehört oder gefühlt haben.

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der zwischen den Siegermächten und den beiden deutschen Staaten abgeschlossen wurde, sieht vor, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen darf. Seit der Ukraine-Krise gibt es aber eine massive Manövertätigkeit. Es wurde eine schnelle Eingreiftruppe der NATO aufgestellt. Die fährt über das ehemalige Territorium der DDR nach Polen und Litauen. Ist das nicht schon eine Verletzung des Zwei-plus-Vier-Vertrages?

„Wenn ein Vertragsbruch nicht geahndet wurde, warum dann nicht so weitermachen?“

Sie haben vergessen zu sagen, dass dieser Vertrag schon einmal gebrochen wurde. Das war beim Angriff der NATO auf Jugoslawien 1999. Eben damals wurde diese These, dass vom deutschen Boden kein Krieg mehr ausgehen darf, gebrochen. Damals war die Luftwaffe der Bundeswehr an dem Angriff auf Jugoslawien beteiligt, obwohl es keine Aggression von Jugoslawien gab und obwohl es keinen Beschluss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen gab. Wenn man einen Vertrag schon einmal gebrochen hat und das nicht geahndet wurde, warum dann nicht so weitermachen?

Das ist eben der Grund der heutigen Schwierigkeiten in den internationalen Beziehungen, dass diese Verträge, welche die Welt nach der Konfrontation formen sollten, nur noch ein Fetzen Papier sind.

Was sagen Sie als erfahrener Diplomat und Kenner von Frankreich — Sie sprechen Französisch und Deutsch, Sie haben in Paris, Bonn und Berlin gearbeitet — zur heutigen Weltlage? Was muss man tun, um den Frieden zu erhalten? Haben Sie einen Rat?

Ja, natürlich. Man muss das erfüllen, was man 1990 in der Charta von Paris (1) versprochen hat. Man hat versprochen, ein gemeinsames, ein großes Europa aufzubauen. Solange dieses Verspechen nicht realisiert ist, solange werden wir diese Schwierigkeiten immer wieder haben.

Sehen Sie in Deutschland irgendwelche positiven Tendenzen, dass dort stärker besonnene Kräfte zu Wort kommen, dass die besonnenen Politiker mehr geachtet werden, oder sind sie eher pessimistisch, was Deutschland betrifft?

Im Moment sehe ich keine Anzeichen, dass man die Linie der Bundesregierung irgendwie reformieren will. Diese Linie, die man nach der Kanzlerschaft Gerhard Schröders begonnen hat. Diese Linie läuft auf eins hinaus: Die Beziehungen, die unter Bundeskanzler Kohl noch gut waren, auf den Nullpunkt zu bringen. Dieses Ziel ist fast realisiert worden.

Gibt es ein persönliches Erlebnis in Deutschland, an das sie sich gerne erinnern?

Es gibt sehr viele gute Dinge, an die ich mich mit Freude und mit Genugtuung erinnere. Es ist sehr schwierig zu sagen, welches davon das Hauptereignis war. Aber ich habe in den Jahren meiner diplomatischen Arbeit in Deutschland den Eindruck gewonnen, dass die meisten Deutschen doch eher russlandfreundlich sind und nur die Politik sich immer wieder darauf versteift, die Beziehungen zwischen den Russen und den Deutschen zu zerstören. Ohne ein gutes Verhältnis zwischen den Russen und den Deutschen ist ein dauerhafter Frieden in Europa nicht möglich.

Sie haben als Wissenschaftler zu dem Problem der Russophobie Aufsätze geschrieben. Was ist die Wurzel dieser Russophobie, die immer mal wieder hochkommt? Gibt es da eine konkrete Wurzel oder sind das verschiedene Momente, die da zusammenkommen?

Wissen Sie, die Russophobie hat in Europa eine lange Tradition. Russophobie gab es schon im Mittelalter, als die Vertreter der europäischen Staaten über Russland sehr viel hinzugedichtet hatten an Befürchtungen, die entstehen, wenn man mit den Russen zu tun hat.

Aber heute ist die Frage, ob Russland überhaupt ein Recht hat, zu existieren. Denn die Russophoben gehen davon aus, dass so ein Staat wie Russland nicht existieren darf. Man muss den Staat zerschlagen. Und wenn man anstelle eines russischen Staates ein Dutzend oder zwei Dutzend kleine Staatsgebilde hat, die miteinander im Clinch liegen, die miteinander immer wieder Kriege führen, dann ist die ganze Welt gerettet und glücklich. Doch das stimmt nicht. Wir sehen jetzt zum Beispiel in Syrien, dass Russland ein fester Grundstein für den Frieden nicht nur in seiner Region, sondern auch darüber hinaus ist. Und die Ergebnisse des gestrigen Gipfels Russland-Afrika gehören zu den Beweisen für die glückbringende Existenz Russlands.

Wie ist ihre Position zu Syrien?

Putin rettet die unglücklichen Kurden. Die Türken hätten dort ein Gemetzel angerichtet. Es drohte die Vernichtung der Kurden. Die türkische Armee ist die zweitstärkste Armee der NATO. Die amerikanische Armee ist von dort abgezogen, obwohl die Kurden alles für die Amerikaner gemacht haben.

Verstehe ich Sie richtig, Russland hat verhindert, dass es zu einem Gemetzel an den Kurden kam?

So ist es.

Russland ist aber doch immer für die territoriale Unversehrtheit von Syrien eingetreten. Warum lässt es jetzt die türkische Armee einmarschieren?

Erdogan hat sich schriftlich verpflichtet, die territoriale Unversehrtheit Syriens nicht zu verletzen. Glauben Sie etwa, dass Putin seine Autorität in Russland stark vergrößern kann, wenn jetzt russische Militärpolizisten in Syrien sterben? Jeder Tote dort ist ein großes Risiko. Putin geht dieses Risiko ein, um die Kurden zu schützen. Hier haben Sie wieder ein Beispiel für Russophobie. Alles was Russland macht und sogar das, was Russland nicht macht, ist schlecht.

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Igor Maximytschew, 1989 Gesandter der Botschaft der UdSSR in Berlin, Foto: Ulrich Heyden 2019

Das Interview führte Ulrich Heyden am 25. Oktober 2018 in Moskau.

Gorbatschow hat die DDR aufgegeben

Der Sowjetunion fehlten die Kraft und der Wille, den kleinen, deutschen Bruderstaat in ihrem Einflussbereich zu halten.

Die DDR war ein Kind der Sowjetunion. Sie war zugleich ein Zeugnis des Kalten Krieges. Die westdeutsche Elite hatte sich in den 1950er Jahren immer gegen Vorschläge aus Moskau gesperrt, Deutschland zu vereinen. Als dann 1989 die Menschen in der DDR für eine Reform der Gesellschaft, ein Mehrparteiensystem und freies Reisen auf die Straße gingen, sah die Sowjetunion dieser Entwicklung tatenlos zu. Der Grund war, dass sich das sowjetische System selbst in einer schweren Krise befand und die Sowjetunion außerhalb seiner eigenen Grenzen nicht mehr handlungsfähig war. Die Rüstungskosten bremsten die wirtschaftliche Entwicklung und die Versorgung der Bevölkerung. Dazu kam, dass der sowjetischen Gesellschaft der Enthusiasmus abhandenkam, der den Menschen noch bis in die 1940er Jahre das Gefühl gegeben hatte, sie seien die Erbauer einer gerechten Gesellschaft.

Michail Gorbatschow erkannte das Problem und versuchte das schier Unmögliche: mit dem Erzfeind im Westen ins Gespräch zu kommen, um endlich den Druck der Rüstungskosten loszuwerden und eine moderne Entwicklung einzuleiten. Aber wie sich bald herausstellte, war der Plan nicht bis zu Ende durchdacht.

Es fing hoffnungsvoll an. Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Washington die INF-Verträge über die Abrüstung von Mittelstreckenraketen. Trägersysteme und Abschussvorrichtungen wurden beseitigt.

Parallel zur Abrüstung propagierte Gorbatschow unter der Parole „Perestroika und Glasnost“ — Umbau und Transparenz — eine Erneuerung des Sozialismus. Unterstützung fand das von Gorbatschow verkündete Erneuerungsprogramm bei der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, die schon lange mehr Mitsprache in der Politik und mehr Eigenständigkeit für die Betriebe forderte.

Millionen Menschen von einer Erneuerung des Systems zu überzeugen, war nicht schwer, denn vor den Lebensmittelläden in der Sowjetunion bildeten sich Ende der 1980er Jahre lange Schlangen. Gutes Fleisch bekam man nur über Beziehungen.

Angesichts dieser Zustände waren die Menschen bereit für einen Wandel. Was Kapitalismus in der Praxis bedeutete, wussten die Menschen allerdings nicht. Denn bis auf ein paar Diplomaten, Sportler und Künstler war noch niemand im „kapitalistischen Westen“ gewesen.

Unter Kapitalismus stellten sich die Sowjetbürger etwas sehr Angenehmes vor. Sie hatten viel vom „schwedischen Sozialismus“ gehört. Und so etwas wollten sie auch für Russland.

Dass sich die russischen Wirtschaftsreformer um Jegor Gajdar und Anatoli Tschubais, die unter Präsident Boris Jelzin an die Macht kamen, an den Konzepten von Milton Friedman orientierten, der den Abbau staatlicher Leistungen und „freie Märkte“ propagierte und an dem sich auch die Putschisten in Chile 1973 orientierten, war den Russen nicht bekannt.

Kritik an der Perestroika wurde in Russland erst 1992 laut, als die Bevölkerung die Auswirkungen der von Jegor Gajdar und Anatoli Tschubais durchgeführten wirtschaftlichen Schocktherapie zu spüren bekam. Am 2. Januar 1992 trat ein Beschluss des Volksdeputiertenkongresses in Kraft, die staatliche Regulierung der Preise abzuschaffen. Die Abschaffung der vom Staat festgesetzten Preise führte zu einer Hyperinflation und vernichtete über Nacht faktisch fast die gesamten Sparguthaben der einfachen Russen. Nach der Preisfreigabe gab es dann bald wieder Waren in den Läden, aber die Menschen hatten kein Geld mehr, sie zu kaufen.

An die 1990er Jahre erinnern sich die meisten Russen und Russinnen mit Schrecken. Die Zeit unter Breschnjew erschien dagegen als Idylle. Von 1989 bis 1997 sank die Industrieproduktion um 42 Prozent. 1995 waren die Realeinkommen im Verhältnis zu 1991 um 45 Prozent gesunken.

Die Preisfreigabe war nicht die einzige Maßnahme der Schocktherapie. Die Einführung des Kapitalismus in Russland war nach Meinung von Gajdar und Tschubais nur möglich, wenn der Superstaat Sowjetunion zerschlagen wird. Das deckte sich mit den Interessen des Westens. Der hoffte auf einen leichten Zugang zu den Rohstoffen des Riesenlandes.

Im Dezember 1991 lösten die Präsidenten Russlands, Weißrusslands und der Ukraine ohne vorherige öffentliche Debatte die Sowjetunion auf. Die Auflösung führte zu einem dramatischen Wirtschaftseinbruch, denn die Betriebe in den 15 Sowjetrepubliken, die untereinander eng vernetzt waren, wollten ihre Produkte jetzt nur noch gegen Dollar an ihre Abnehmer verkaufen.

Nach einem dilettantisch organisierten und schnell zusammengebrochenen Putsch der Gegner von Gorbatschow und Jelzin im August 1991 holte Jelzin zum Gegenschlag aus. Die KPdSU wurde verboten, konnte sich aber später als Kommunistische Partei der Russischen Föderation neu konstituieren.

Honecker wurde nach Moskau ausgeflogen

Dramatisch war die ideologische 180-Grad-Wendung in der Führung Russlands für den ehemaligen Generalsekretär der SED, Erich Honecker. Vor dem „August-Putsch“ in Moskau fand der schwerkranke Honecker noch im sowjetischen Militärkrankenhaus Beelitz in Brandenburg Zuflucht. Und am 13. März 1991 wurde er sogar mit einer sowjetischen Militärmaschine nach Moskau ausgeflogen. Das verärgerte die Bundesregierung, denn gegen Honecker lag seit dem 30. November 1990 ein Haftbefehl des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten wegen eines angeblichen Schießbefehls an der Mauer vor.

Dass die Sowjetunion Honecker half, sich den Fängen der westdeutschen Justiz zu entziehen, war nicht völlig selbstverständlich. Denn zwischen Gorbatschow und Honecker gab es Widersprüche. Honecker betrachtete die Entwicklung in der Sowjetunion während der Perestroika mit Sorge. Er kritisierte den großen Bruder zwar nicht, doch ersetzte alles daran, dass die Ideologie der Perestroika in der DDR keine Verbreitung fand. So ließ die DDR-Regierung am 18. November 1988 die Auslieferung der deutschsprachigen Zeitschrift „Sputnik“, welche Aufsätze aus sowjetischen Medien nachdruckte, einstellen.

Doch kaum in Moskau angekommen, war Honecker auch dort nicht mehr sicher. Boris Jelzin, der selbst jahrzehntelang hohe Funktionen in der sowjetischen Parteibürokratie bekleidet hatte und im Juni 1991 zum Präsidenten Russlands gewählt worden war, forderte den ehemaligen SED-Generalsekretär im Dezember 1991 auf, Russland zu verlassen, worauf Honecker mit seiner Frau Margot in die chilenische Botschaft in Moskau flüchtete.

Nun fuhr Bonn neue Geschütze auf. Die Bundesregierung erklärte, wenn Chile ein Rechtsstaat sei, müsse es Honecker, gegen den ein Haftbefehl vorliege, ausliefern.

Am 29. Juli 1992 war es dann soweit. Der schwerkranke Honecker wurde nach Berlin ausgeflogen. Er wurde in die Justizvollzugsanstalt Moabit eingeliefert, wo er auch schon unter den Nazis inhaftiert gewesen war.

Der Verfolgungseifer gegen Honecker zeigte, dass die deutsche Justiz einem Symbol des Sozialismus auf deutschem Boden unbedingt den Prozess machen und der ganzen Welt zeigen wollte: Wir haben gesiegt.

Der Fall Honecker wird hier so ausführlich dargestellt, weil sich an diesem Fall zeigt, wie schwach Russland gegenüber dem Westen in jenen Jahren war.

Gorbatschow verlor die Kontrolle

Gorbatschow, der 1986 angab, den Sozialismus modernisieren zu wollen — von Abschaffung war nie die Rede —, entglitt schon bald die Kontrolle über den Reformprozess. Als die Zentrale in Moskau die Zügel lockerer ließ, begannen regionale Parteieliten ihre eigene Politik zu machen. In der Sowjetunion geregelte Konflikte und alte Wunden brachen wieder auf. 1988 kam es in den Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan zu gewalttätigen Konflikten zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Im Frühjahr 1990 erklärten die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit.

Der von Unterstützern der alten sowjetischen Ordnung am 19. August 1991 begonnene Putsch gegen den Präsidenten der Sowjetunion verhinderte faktisch Gorbatschows Plan, am 20. August 1991 einen neuen Unions-Vertrag zu unterzeichnen, der den Sowjetrepubliken mehr Freiheiten gegeben hätte. Der „Putsch“, der nach Angaben seiner Initiatoren das Auseinanderbrechen der Sowjetunion verhindern sollte, beschleunigte die zentrifugalen Kräfte in dem Riesenland und lieferte den Radikalreformern um den am 12. Juni 1991 gewählten Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, das Argument, mit der Sowjetunion und dem Sozialismus müsse man nun endgültig Schluss machen.

Unklar ist bis heute, warum der „Putsch“ — bei dem kein einziger Schuss fiel — schon nach drei Tagen wieder abgebrochen wurde und warum Radikalreformer Boris Jelzin, der sich während der Putsch-Tage in Moskau frei bewegen konnte, nicht verhaftet wurde.

Das Ende der DDR wurde in Westdeutschland und auch von vielen Ostdeutschen bejubelt. Doch die gesamte Entwicklung war tragisch, denn es war absehbar, dass die westdeutschen Eliten mit allem, was die DDR hinterlassen hat, nicht zimperlich umgehen würden.

Die Gründung der DDR im Jahre 1949 wäre ohne die Hilfe der Sowjetunion nicht möglich gewesen. Doch als die Sowjetunion selbst in eine politische Krise geriet und die politische Führung zentrale Bausteine des sowjetischen Staatswesens und der Staatsideologie aufgab, gab es in Moskau weder den Willen noch die wirtschaftliche Kraft, die Existenz eines zweiten deutschen Staates zu sichern.

In ganz Osteuropa wurden Unabhängigkeitsbewegungen stark

Offenbar spürten die Eliten in Osteuropa, dass die Führung der Sowjetunion nicht mehr willens und in der Lage war, eigene Wege zu unterdrücken, wie noch 1968 in Prag. Überall kam es zu Demonstrationen für Unabhängigkeit. Am 26. April 1989 hatte das Militärbündnis „Warschauer Pakt“ beschlossen, dass die Mitgliedsstaaten nun frei seien in der Entscheidung über ihren politischen Weg.

In der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei wurden Stimmen laut, die den Abzug der sowjetischen Truppen forderten. Am 11. September 1989 gestatte Ungarn DDR-Bürgern offiziell die Ausreise nach Österreich. Im August 1989 demonstrierten Hundertausende Menschen im Baltikum für die Unabhängigkeit.

Wie Karen Brutenz, stellvertretender Leiter der internationalen Abteilung im ZK der KPdSU, berichtete (2), hatte Gorbatschow schon im Januar 1989 bei einem Treffen mit dem US-Sicherheitsexperten Henry Kissinger in Moskau zu verstehen gegeben, dass die Sowjetunion eine Liberalisierung in Osteuropa nicht verhindern werde. Im Gegenzug erwarte man von den USA, dass sie die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion achte.

Anfang Dezember 1989, bei einem Treffen mit dem US-Präsidenten George Bush auf Malta, definierte Gorbatschow das erste Mal seine Haltung zu den Unabhängigkeitsbestrebungen in Osteuropa:

„Wir sind für friedliche Wechsel, wir wollen uns nicht einmischen und werden uns nicht in zukünftige Prozesse einmischen. Sollen die Völker ohne Einmischung von außen entscheiden, wie sie leben wollen.“

Die russische Erzählung von den glücklichen Deutschen

Nachdem in Moskau die Radikalreformer um Boris Jelzin die Macht im Staat übernommen hatten, schwenkten die russischen Medien auf die westliche Erzählung „von der glücklichen Vereinigung der Deutschen“ ein. Diese Erzählung hält bis heute an. Dass die starken sozialen Verwerfungen in Ostdeutschland nach der Wende einer der Gründe für das Erstarken der Rechtspopulisten und Faschisten sind, darüber berichteten die russischen Medien nicht.

Die Russen waren in den 1990er Jahren bereit, sich in den Kapitalismus einzuleben. Was jedoch bei vielen Russen damals ein mulmiges Gefühl hinterließ, war der Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Ostdeutschland, ohne dass es von deutscher Seite eine entsprechende Gegenleistung gab, etwa die schriftliche Verpflichtung der NATO, sich nicht nach Osten auszuweiten. Im Endeffekt fühlt sich ein Großteil der Russen von Jelzin und Gorbatschow bis heute um soziale Sicherheit und Sicherheit vor der NATO betrogen. Die Popularitätsrate von den im Westen einst bejubelten Politikern Gorbatschow und Jelzin liegt in Russland bis heute bei nur wenigen Prozentpunkten.

Ulrich Heyden, Moskau, 30.10.19

 

 

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Betrieb zum Nulltarif
Freitag, 15. November 2019, 12:00 Uhr
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Betrieb zum Nulltarif

ROW, der größte Brillenhersteller Europas, wurde 1990 von Bundesregierung und Treuhand zerlegt und ausgeweidet.

von Stefan Korinth

Foto: Dusan Petkovic/Shutterstock.com

Die Rathenower Optischen Werke (ROW) waren bis zur Wende der größte Brillenproduzent Europas. 4.300 Menschen arbeiteten bis 1991 in dem brandenburgischen Betrieb, 500 weitere im zugehörigen Zweigwerk Osterburg. Die Einführung der D-Mark machte den ROW den Garaus. Trotz teils moderner Technik, gut qualifizierter Belegschaft und zügig modernisierter Brillenkollektion hatte das Werk keine Chance. Die Treuhand spaltete es auf und entließ die meisten Mitarbeiter. Große westliche Augenoptikfirmen sicherten sich die Filetstücke und übernahmen den Markt. Die ROW-Abwicklung ist ein typisches Beispiel für Ablauf und Folgen der ostdeutschen Deindustrialisierung.

Meist haben Pressesprecher schöne Gründe, wenn sie die Medien einladen. Doch Randolph Götze war im Januar 1991 kein angenehmer Grund vergönnt. Der Pressesprecher der Rathenower Optischen Werke (ROW) musste die große Medienkonferenz organisieren, auf der die von der Treuhand angeordnete Entlassung von 1.200 ROW-Mitarbeitern bekanntgegeben wurde. Mit der Veranstaltung sollte sogar noch Hoffnung verbreitet werden. „So etwas kriegt man nicht aus dem Kopf“, sagt Götze heute, 28 Jahre später. „Das war und bleibt eine frustrierende Sache.“

Jemand habe ihn danach für die Organisation gelobt und gesagt, es sei eine gelungene Veranstaltung gewesen, erinnert sich Götze. Organisatorisch vielleicht. Aber menschlich? „Das war alles andere als gelungen.“

Es war der 24. Januar 1991 und die Massenentlassung war der Anfang des Schlusskapitels der ROW. Die Hoffnung wurde aufrechterhalten, doch eine zweite Kündigungswelle folgte. Laut Treuhandkonzept sollten von den rund 4.800 Menschen, die in dem Betrieb insgesamt arbeiteten, nur 560 bleiben. Das Werk sollte aufgespalten und privatisiert werden. Und so kam es auch. Die Geschichte der ROW nach der Wende ist eine Geschichte, wie sie in der ostdeutschen Wirtschaft, so oder so ähnlich, tausendfach ablief.

Wiege der optischen Industrie

Rathenow wird als „Wiege der optischen Industrie“ bezeichnet. Rückblende: In der Kleinstadt westlich von Berlin tüftelte der Pastor Johann Heinrich August Duncker Ende des 18. Jahrhunderts an der Produktion augenoptischer Geräte. Er baute selbst Mikroskope und Brillen, schließlich erfand er eine revolutionäre Vielschleifmaschine (1), die gleichmäßig geschliffene Gläser etwa für Lupen, Ferngläser und Brillen lieferte und relativ leicht durch Drehen einer Handkurbel zu bedienen war.

Tatsächlich war er es, der erstmals Brillen produzierte, die Menschen mit Sehproblemen wirklich halfen. Die Brillen, die es bis dahin in den deutschen Ländern gab, waren Billigprodukte von äußerst miserabler Qualität. Duncker gründete eine optische Industrie-Anstalt — die erste in Preußen —, um die herum in den folgenden 150 Jahren in Rathenow eine differenzierte augenoptische Industrie mit hunderten kleinen und mittleren Firmen entstand.

Europas größte Brillenfabrik

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die größeren Optikfirmen in der schwer zerstörten Stadt an der Havel nach und nach enteignet und ab 1948 im Volkseigenen Betrieb (VEB) Rathenower Optische Werke zusammengefasst. Die kleineren Firmen schlossen sich zu einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) zusammen. Der VEB wuchs immer weiter an und wurde 1966 dem Kombinat Carl Zeiss Jena unterstellt. Jena stellte die eigene Brillenproduktion ein, womit sich die ROW zum einzigen Brillenproduzenten in der DDR und zum Hauptversorger mit Sehhilfen für den gesamten Ostblock entwickelten.

1988 produzierte der Betrieb mit seinen verschiedenen Fertigungsstandorten in Rathenow 7,8 Millionen Brillengläser und 5,1 Millionen Fassungen. Gebaut wurden in den ROW aber noch viele andere optische Produkte wie Mikroskope, Ferngläser, Kinoprojektoren oder Schleif- und Poliermaschinen für Optiker. Auch die bekannte Weltzeituhr auf dem Berliner Alexanderplatz wurde 1969 in Rathenow geplant und gebaut.

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Bild 1: ROW-Produktionsgebäude in der Nachwendezeit 1992. Foto: Mikroskop-Technik Rathenow GmbH

Besonders groß war die Vielfalt der Brillenmodelle verglichen mit westlichen Verhältnissen in den 1980er Jahren nicht. „Wir hatten keine Chance auf modische und medizinische Aspekte Rücksicht zu nehmen“, erinnert sich Randolph Götze. Dies habe für Konfliktpotenzial zwischen den ROW und der Kombinatsleitung in Jena gesorgt. Dort ging es nur um Stückzahlen. Kombinatsdirektor Wolfgang Biermann habe den Spruch geprägt: „Jedem eine Brille — aber nicht jedem seine Brille.“

Überlebenskampf statt Charme-Offensive

Den Kundenärger bekamen jedoch nicht Biermann und Jena ab, sondern die ROW. Hier musste Direktor Albrecht Todte eine Mitarbeiterin abstellen, die sich ausschließlich mit der Bearbeitung von Eingaben — also Kundenbeschwerden — beschäftigte. Eigens um den ROW in der Bevölkerung ein besseres Image zu verpassen, wurde Randolph Götze im September 1989 als Pressesprecher eingestellt. Doch seine Aufgabendefinition änderte sich sehr schnell. Statt um Charme-Offensive ging es bald um wirtschaftlichen Überlebenskampf.

Die äußerst turbulente Wendezeit brach über die ROW herein. Ein sozialistisches Ehrenbanner, das der Betrieb noch am 7. Oktober zum 40. Jahrestag der DDR erhielt, musste Götze schon vier Wochen später ins Rathenower Museum tragen. „Was sich in dieser kurzen Zeit alles gedreht hat, war irre.“

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Bild 2: Der frühere ROW-Pressesprecher Randolph Götze erläutert im Optik Industrie Museum in Rathenow verschiedene ROW-Brillenmodelle der 1970er und 80er Jahre. Foto: Stefan Korinth

1990 versuchte die Betriebsleitung eine Menge, um bei Brillen den Anschluss an den westlichen Standard zu schaffen, betont der heute 66-Jährige. Um die Qualität zu verbessern, hatte die Betriebsleitung bereits in den letzten Jahren der DDR für 35 Millionen D-Mark in moderne Produktionstechnik aus dem Westen investiert — dazu gleich mehr.

Eine neue Kollektion in Windeseile geschaffen

Die Betriebsleitung hatte bereits im Wendeherbst erkannt, dass nun sehr schnell Veränderungen nötig sein werden. Mit Managementkursen durch westdeutsche Anbieter wurden die ROW-Verantwortlichen an Wochenenden geschult. In Windeseile stampfte das Werk mit „Concept 90“ ein völlig neues Angebot aus dem Boden. Im Frühling 1990 präsentierten Götze und Kollegen die neue Kollektion bei verschiedenen Veranstaltungen, darunter der Leipziger Fachmesse — da schaute sogar SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine am Stand vorbei.

„Die Präsentation war gut, die Produkte wettbewerbsfähig, die Gäste beeindruckt“, erinnert sich Götze. Es gab viele Liefervertragsabschlüsse vor allem mit osteuropäischen Abnehmern. Doch plötzlich traten zwei schier unlösbare Probleme für die nun als GmbH firmierenden ROW auf den Plan. Die Einführung der D-Mark in der noch existierenden DDR am 1. Juli 1990 und die Ablehnung der ROW-Produkte durch ostdeutsche Optiker. Ersteres ließ den bisherigen osteuropäischen Absatzmarkt für ROW-Brillen einbrechen, Letzteres den bisherigen Absatzmarkt in der DDR.

Die gescheiterte Kollektion

Günter Schwolow war 27 Jahre bei den ROW beschäftigt. Von seiner Berufsausbildung zum Werkzeugmacher ab 1964 über sein Studium der Werkzeugtechnik in Jena und Rathenow arbeitete sich der Ingenieur bis zum Abteilungsleiter Brillenfassungen hoch. „Die Wende war eine ganz schwierige Phase, in der wir schnell lernen mussten, bedarfsgerecht zu produzieren und offensiv zu verkaufen“, erläutert der heute 71-Jährige.

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Bild 3: Günter Schwolow, einst ROW-Abteilungsleiter für Brillenfassungen, zeigt auf Lupenbrillen, die in seiner Firma Obrira produziert werden. Das kleine Unternehmen wird heute von seinem Sohn geführt. Foto: Stefan Korinth

1990 seien den ROW-Verantwortlichen durch die Treuhand westdeutsche Manager an die Seite gestellt worden, um den Rathenowern bei Entwicklung und Vertrieb wettbewerbsfähiger Produkte zu helfen. Schwolow arbeitete eng mit einem Manager der Holsten-Brauerei aus Hamburg zusammen. Der hatte zwar keine Ahnung von Augenoptik, aber er engagierte sich für das Überleben des Betriebs.

In Zusammenarbeit mit einem Brillen-Designer entwickelten die ROW 1990 eine neue Brillenkollektion. Schwolow fuhr nach Italien, kaufte dort die nötigen Bauteile in großen Stückzahlen ein und ließ sie galvanisch und farblich entsprechend bearbeiten. Mit zehntausend Brillen im Kofferraum fuhr er zurück. Der Zusammenbau erfolgte bei den ROW. „Wir haben in sehr kurzer Zeit eine moderne, anspruchsvolle Kollektion erstellt“, erinnert sich der Rathenower.

Ost-Optiker wollten nur West-Brillen

Doch dann kam der Knackpunkt. Schwolow, sein westdeutscher Kollege und andere fuhren die Brillengeschäfte quer durch Ostdeutschland an, um den Optikern dort die neue Kollektion anzubieten. Doch sie erlebten eine Abfuhr nach der anderen.

„Ihr habt uns 40 Jahre lang verarscht. Bleibt uns weg mit ROW. Wir nehmen die Brillen aus dem Westen.“

Das waren zugespitzt die Reaktionen der erhofften ostdeutschen Abnehmer. „Die meisten von denen haben uns nicht mal reingelassen“, sagt Schwolow. „Die wollten Westware. Wir waren chancenlos.“

Sobald die deutsch-deutsche Grenze im November 1989 offen war, waren westdeutsche Vertreter großer Marken zu ostdeutschen Augenoptikern geströmt. Sie konnten dort mit ihren Waren protzen. Teilweise boten sie den Optikern an, sie könnten die Ware sofort übernehmen, müssten aber erst nach der Währungsunion zahlen, erklärt Randolph Götze. Diese hätten begeistert zugegriffen. So seien die Vertreter auch viele Brillen losgeworden, die im Westen Ladenhüter waren.

Moderne Technik rettet den Betrieb nicht

Die ROW hatten in den 1980er Jahren hunderte Millionen DDR-Mark in westliche Produktionstechnik investiert. Am Rathenower Stadthof wurde 1984 ein neues Gebäude zur Rezeptglasfertigung fertiggestellt, in dem moderne Schleifautomaten aus dem Westen benutzt wurden. Die ROW kauften neue programmierbare Fräsmaschinen aus der BRD und vom damaligen Weltmarktführer Italien. Die Maschinen ermöglichten neue Designs. Aus Pforzheim, dem Zentrum der westdeutschen Brillenfertigung, wurde ein Ränderwickelautomat eingekauft.

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Bild 4: Neue Brillenglas-Randschleifmaschinen im ROW-Fräszentrum 1992. Foto: Mikroskop-Technik Rathenow GmbH

In der ROW-Zweigstelle Osterburg bei Stendal wurde im Oktober 1989 eine neue Fertigungshalle mit einer Großanlage für gespritzte Brillenfassungen übergeben. Noch im Frühling 1990 konnte in einem ganz neu errichteten Gebäude am Rathenower Standort Hasenweg eine Kunststofflinsenfertigung in Betrieb gehen. Die Technik darin kam aus Frankreich. Das war die größte Investition in der Geschichte der ROW, sagt Günter Schwolow.

Doch die neue Technik rettete den Betrieb nicht. „Das waren alles punktuelle Lösungen, um wettbewerbsfähiger zu werden“, ergänzt er. Aber in anderen Bereichen wären noch enorme Investitionen nötig gewesen. Und die Abnehmer fehlten ja sowieso.

Devisenbringer Mikroskope

Viele Abnehmer im Westen hatte der Rathenower Betrieb noch zu DDR-Zeiten für seine Mikroskope. Ralf-Peter Lautenschläger kann viel darüber erzählen — er war ab 1983 in der ROW-Entwicklungsabteilung für wissenschaftlichen Gerätebau tätig. Auch er hatte zuvor seine Werkzeugmacherausbildung in Rathenow gemacht und anschließend in Jena Feinwerktechnik studiert. Die ROW-Mikroskope gingen — unter einem anderen Namen — über den Exportvertrieb von Carl Zeiss Jena in die Bundesrepublik, in die Niederlande, aber auch nach Australien und Afrika.

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Bild 5: Mikroskopfachmann Ralf-Peter Lautenschläger blättert im Archiv des Optik Industrie Museums in Rathenow durch Zeitungsartikel aus der Wendezeit. Foto: Stefan Korinth

„Unsere Produkte waren von internationaler Qualität und gut am Weltmarkt positioniert, weil Zeiss-West sie gar nicht im Angebot hatte“, erläutert Lautenschläger (2). Labor- und Stereomikroskope der ROW waren gute Devisenbringer. Pro eingesetzter DDR-Mark brachten sie einen Erlös von 48 Pfennig-West. Also etwa 2:1. Das war gut, auch wenn die Mikroskope nicht an die begehrten Teleskope aus Jena herankamen — die brachten pro DDR-Mark sogar sieben D-Mark ein. Der Umsatz allein des wissenschaftlichen Gerätebaus in den ROW lag Ende der 1980er Jahre bei 64 Millionen DDR-Mark pro Jahr.

Bruderbetrieb in Jena wird zum Konkurrenten

Doch auch für diese ROW-Sparte war die Wendezeit eine knüppelharte Phase. Denn die Währungsunion schlug hier ebenso ins Kontor. Kontrollmikroskope, die ein niederländischer Subunternehmer etwa für Phillips einkaufte, waren plötzlich mehr als doppelt so teuer. Zudem wurde der große Bruder in Jena, der ebenfalls Mikroskope fertigte, nun plötzlich zum Konkurrenten für den Rathenower wissenschaftlichen Gerätebau.

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Bild 6: Mitarbeiter justieren im Jahr 1992 Polarisationsmikroskope. Das Foto entstand in den Räumen des wissenschaftlichen Gerätebaus der ROW, der zu diesem Zeitpunkt bereits unter dem Firmennamen „Askania“ abgespalten worden war. Foto: Mikroskop-Technik Rathenow GmbH

Ein schon zugesagter Rathenower Export von 300 Mikroskopen in die USA scheiterte beispielsweise, weil Jena die gleichen Mikroskope im Lager hatte und sie plötzlich verbilligt anbot. Hinzu kam: Da Jena die Namensrechte an den Mikroskopen besaß, mussten alle ROW-Geräte schnell und kreativ umbenannt werden. Und weil die Begriffe ROW oder Rathenow beim bisherigen DDR-Export über Jena immer geändert wurden, war die Marke im Westen praktisch unbekannt. Die Havelstädter mussten sich erst einmal mühsam internationale Bekanntheit verschaffen.

Objektive mit dem Hammer zerschlagen

Lautenschläger, der damals viel in Jena unterwegs war, sah, wie in der Nachwendezeit unzählige aus Rathenow gelieferte Objektive mit dem Hammer zerdroschen wurden. Man konnte diese bei Carl Zeiss nicht mehr gebrauchen. Einiges konnte er vor der Vernichtung retten.

„Als Rathenower geht man da wie in Trance durch. Unsere Arbeitsleistung flog in die Container. Das hat mich auch emotional getroffen.“

Die Rathenower Optischen Werke haben in der Wendezeit alles versucht, sie hätten wenig besser machen können, sagt Ralf-Peter Lautenschläger. Die äußeren Bedingungen seien unwirtlich und nun mal nicht zu beeinflussen gewesen. Einen zu großen Betrieb zu verkleinern, sei sehr schwierig. Zum Überleben, das heißt zur weiteren Modernisierung, zum Arbeitsplatzerhalt und zum Aufbau internationaler Vertriebskontakte wären große Summen von außen nötig gewesen.

Man hätte die ROW gleich schließen und ein ganz neues Produktionszentrum bauen können. Die Fachkräfte waren ja da. Hinter vorgehaltener Hand habe ihm ein von der Treuhand beauftragter Wirtschaftsberater das damals gesagt. Doch trotz besseren Wissens seien diese Berater damals mehr an ihrem Anteil an staatlichen Liquiditätssicherungskrediten interessiert gewesen, sagt Lautenschläger. Und die gab es nur, wenn alles so weiter lief.

Treuhand fehlte der Wille zum Erhalt

Und was tat nun die Treuhand? Ihre Rolle bei der folgenden Abwicklung der ROW ist bis heute nicht untersucht, sagen alle Gesprächspartner unisono. Während die Betriebsleitung versuchte, das Werk als Ganzes zu erhalten, beschloss die Treuhand, die bis dahin Eigentümer der ROW GmbH war, im November 1991 deren Aufspaltung und Privatisierung. „Der entsprechende politische Wille zum Erhalt fehlte“, schreibt die Historikerin Bettina Götze im neuen Buch „Rathenow — Wiege der optischen Industrie“.

„Das Ende für dieses große Unternehmen bedeutete in der Folge den Verlust von tausenden Arbeitsplätzen. Einige Produktionsstätten wurden verkauft. Die neuen Eigentümer übernahmen jedoch nur einen Bruchteil der Arbeitskräfte oder setzten auf andere Produktionsprofile.“

Tausende Arbeitslose in kurzer Zeit

Zum Jahresbeginn 1992 waren noch knapp 600 vorherige ROW-Beschäftigte in privatisierten Nachfolgeunternehmen angestellt — nur noch zwölf Prozent der Menschen, die zum Zeitpunkt der Maueröffnung rund zwei Jahre zuvor dort als Mitarbeiter tätig waren. „Übertragen Sie das mal auf VW in Wolfsburg oder andere große westdeutsche Betriebe“, sagt Randolph Götze. „Dann können Sie sich vorstellen, was das bedeutet. “

Neben den Entlassungen im augenoptischen Kernbereich und in der Verwaltung traf es auch die Mitarbeiter anderer ROW-Abteilungen wie die des Rechenzentrums, der Tischlerei, der Gießerei, der Kitas, der Kantine, der beiden Bibliotheken im ROW oder der Ferieneinrichtungen.

Da auch der zweite große Arbeitgeber der Region, das Chemiefaserwerk in der kleinen Nachbarstadt Premnitz, dichtmachte, stieg die Arbeitslosenquote in Rathenow damals auf über 30 Prozent. Viele Betroffene wurden in Umschulungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und Vorruhestand geschickt und tauchten in dieser Statistik gar nicht auf. Die hohe offizielle Arbeitslosenzahl drückt also noch gar nicht ausreichend die damalige Perspektivlosigkeit in der Stadt aus.

Für die Jüngeren und die besten ROW-Leute gab es durchaus gute Möglichkeiten. Ihr Wissens- und Ausbildungsniveau war auch in der westdeutschen Augenoptikindustrie gefragt. Viele gingen nach Pforzheim in die dortige Brillenfertigung. Der Westen profitierte.

Persönliche Dramen im Betrieb

Günter Schwolow ist überzeugt, dass es für die in der neuen Situation ab 1990 überdimensionierten ROW keinen wirtschaftlichen Überlebensspielraum gab. Zu DDR-Zeiten habe das Werk jede Schraube, jedes Scharnier, jeden Stift selbst hergestellt. Das sei in einem modernen Betrieb überflüssig, die ROW seien in der damaligen Größe nicht zu erhalten gewesen. „Aber die Treuhand hat auch kein Interesse gezeigt, hier zu retten oder zumindest gewinnbringend zu verkaufen“, ergänzt er.

Hochwertige Werkbänke wurden damals zur Entsorgung aus dem vierten Stock geworfen. „Das war grausam.“ Aus seiner Abteilung Brillenfassungen mussten 1991 nach Treuhandvorgaben rund 800 Leute gehen. Schwolow hat nahezu jedem einzelnen Betroffenen die Kündigungspapiere persönlich übergeben. Viele die schon auf „Kurzarbeit null“ waren, musste er dazu zu Hause besuchen.

„Ich kannte die alle. Das ging nicht spurlos an mir vorbei. Die Stimmung bei den jüngeren Gekündigten war schlecht. Teilweise haben sie mir die Schuld gegeben. Wegen der Fertigungsschritte in Italien waren sie plötzlich überflüssig. Aber das war die einzige Überlebenschance fürs Werk damals. Direkt hinterher ging ich zum Chef und ließ mich selbst entlassen.“

Schwolow hatte wenig mit der Treuhand zu tun, wie auch, es war fast nie jemand von der Privatisierungsanstalt vor Ort. Ihm habe sich deren Tätigkeit bis heute nicht erschlossen, sagt der 71-jährige Rathenower. Auf jeden Fall sei die Rolle aber „unrühmlich“ gewesen, denn ohne sich ein Bild vor Ort zu machen, habe die Treuhand in Rathenow Grundstücke an „unseriöse Investoren“ vergeben. Dazu zählt er auch Rückübertragungen von modernen und durchaus zukunftsfähigen ROW-Abteilungen wie dem Werkzeugbau an Westdeutsche. Die Einrichtungen gingen danach schnell kaputt.

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Bild 7: Vielen Dank für alles: Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) erhält vom Rathenower Landrat und vom Rathenower Bürgermeister im Juli 1993 ein Opernglas aus einer ROW-Nachfolgefirma. Foto: Mikroskop-Technik Rathenow GmbH

„Die Treuhand war ihrer Klientel treu — das waren aber nicht wir“

Der Rückstand der ROW war groß, aber es gab für den Betrieb auch keine echte Chance, sich anzupassen, resümiert Randolph Götze. Das gelte für den ganzen Osten. „Von der Treuhand erwarteten wir uns damals Hilfe und Unterstützung bei einem geordneten Übergang.“ Doch es sei schnell klar geworden, dass der Betrieb zerschlagen und verkauft werden soll.

Eine Übernahme der ROW durch die Rathenower Betriebsleitung — ein sogenannter „Management-Buy-Out“ — wurde durch die Treuhand verboten. Es sei deprimierend gewesen, zwei Jahre lang ohne Verschnaufpause ums Überleben zu kämpfen und dann doch abgewickelt zu werden.

„Die Treuhand war ihrer Klientel durchaus treu — nur waren das nicht wir“, sagt Götze. „Das war die westdeutsche Wirtschaft.“ Dortige Unternehmen hatten kein Interesse daran, dass ein Konkurrent überlebte. Das Wohl der Ostdeutschen war sekundär.

Das Fell des Bären wird verteilt

Die Westunternehmen kauften die modernen Teile der ROW-Technik von der Treuhand. Der Wickelautomat ging an die Firma Metzler, das Fräszentrum sowie die Spritz- und Gießtechnik an Fielmann und die Kunststofflinsenproduktion an die Braunschweiger Essilor-Optik, eine Tochter des französischen Essilor-Konzerns. „Von den Erlösen dieser Verkäufe haben die ROW nichts gesehen“, sagt Mikroskop-Fachmann Ralf-Peter Lautenschläger.

Schnell nach der Grenzöffnung war die erste Garde der westdeutschen Optik-Konkurrenz nach Rathenow gekommen. „Fielmann, Zeiss, Rodenstock — alle haben die oberste Leitungsebene geschickt“, erinnert sich Günter Schwolow. Sie sahen sich Immobilien und Produktionstechnik der ROW sowie das Qualifikationsniveau der Mitarbeiter an. Sie hatten einen „Heidenrespekt“ vor den räumlichen Kapazitäten. Schwolow weiß das genau. Denn er selbst fuhr mehrere Tage mit Günther Fielmann persönlich durch Rathenow und zeigte ihm die Standorte.

Fielmann sei ein „Geschäftsmann durch und durch“, sagt Schwolow. „Er suchte überall nach Profit.“ Unter anderem kaufte der Unternehmer, der heute mit einem geschätzten Vermögen von rund fünf Milliarden Euro laut verschiedener Quellen zu den 30 reichsten Deutschen gehört, früh die Rechte am ROW-Logo, das die Hamburger Firma heute in leicht abgewandelter Form in ihrer Rathenower Niederlassung nutzt. Schon vor der Wende sei die Firma größter westdeutscher Abnehmer von ROW-Fassungen gewesen, schreibt Historikerin Bettina Götze (3).

In der havelländischen Kreisstadt erhielt Fielmann von der Treuhand mehrere ehemalige ROW-Produktionsgebäude, darunter eines auf einem „1-A-Wassergrundstück“.

Machtfaktor Fielmann

Während die anderen Westfirmen inzwischen alle wieder aus Rathenow abgezogen sind — zuletzt machte Essilor 2015 dicht — ist Fielmann weiterhin da. Und die AG ist heute eine Art Machtfaktor in der Stadt. 2002 eröffnete das Unternehmen ein neues Produktions- und Logistikzentrum in einem Gewerbegebiet. Jede Fielmann-Brille europaweit geht einmal durch dieses Zentrum. Mit den rund tausend dort Beschäftigten ist Fielmann heute der größte Arbeitgeber der Stadt. Ökonomisches Potenzial für eine vierstellige Zahl von Beschäftigten in der optischen Industrie hat Rathenow also doch. Die Firmenzentrale residiert jedoch weiter in Hamburg.

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Bild 8: Das Produktions- und Logistikzentrum der Fielmann AG in Rathenow. Foto: Stefan Korinth

Fielmann erwarb auch das ehemalige ROW-Verwaltungsgebäude direkt an der Hauptstraße, ließ es sanieren und vermietete es von 1997 an zwanzig Jahre lang für 350.000 Euro jährlich an die Stadt Rathenow, die das Gebäude als Rathaus nutzte und es 2017 für fünf Millionen Euro kaufte.

Weitere zentral gelegene ehemalige ROW-Gebäude gehören Fielmann bis heute. Während die Stadt das Ruinen-Ensemble gern erwerben würde, um dort etwas Neues entstehen zu lassen, hat Fielmann seine eigenen Pläne. Die Firma lehnte das städtische Angebot ab, was in Rathenow für ohnmächtige Kritik sorgt.

Auf gewisse Weise wird so deutlich, wie die Treuhand-Politik bis heute auch dafür sorgt, dass ostdeutsche Kommunen nicht Herr im eigenen Haus sein können. Direkt neben dem Rathaus steht die Ruine des früheren ROW-Gebäudes „Null60“ — eingehüllt von einer großen grauen Plane mit riesigem Fielmann-Schriftzug. Eigentlich sollte das Plakat den Anblick verschönern. Stattdessen wirkt es — zumal an dieser Stelle — eher wie ein Symbol für die tatsächlichen Machtverhältnisse vor Ort.

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Bild 9: Die Ruine des ROW-Gebäudes „Null60“ an der Berliner Straße in Rathenow. Die 1.500-Quadratmeter-Fassade ist seit Jahren eingehüllt mit einer riesigen Fielmann-Werbeplane. Foto: Stefan Korinth

Rathenow hat sich wieder aufgerappelt

Als Standort der optischen Industrie hat sich Rathenow wieder aufgerappelt. Einige Fachleute aus den damaligen ROW haben nach der Wende eigene kleine Firmen aufgebaut. Einige davon gingen wieder Pleite. Andere fanden erfolgreich Nischen in dem Wirtschaftszweig. Ralf-Peter Lautenschläger war in der 1992 unter dem Namen „Askania“ mit 160 Mitarbeitern ausgegliederten ROW-Mikroskop-Abteilung tätig. Auch Randolph Götze wechselte dorthin. 1995 ging Askania Konkurs. Götze fand wenig später eine Anstellung als Pressesprecher eines Theaters.

Lautenschläger gründete Askania im Januar 1996 mit nur noch sechs Mitstreitern neu. Das Unternehmen hat sich heute etabliert. Mit elf Mitarbeitern montiert und justiert die Firma zugelieferte Mikroskopkomponenten. Die fertigen Mikroskope werden vorrangig in der Qualitätskontrolle in der Fahrzeugindustrie oder mikroelektronischen Industrie eingesetzt. 30 Prozent davon gehen in den Export nach China und in europäische Länder.

Günter Schwolow gründete nach der Wende die Firma Obrira Low Vision. „Obrira“ steht für Optik Brillen Rathenow. In dem Betrieb, den inzwischen sein Sohn führt, werden vergrößernde Sehhilfen und Lupenbrillen für medizinisch-technische Anwendungen, etwa für Zahnärzte, hergestellt. Zudem werden dort auch Carl-Zeiss-Jena- und ROW-Ferngläser gewartet und repariert. Millionen davon sind wegen ihrer guten Qualität noch immer im Einsatz.

Weitere Optikfirmen haben sich etabliert, auch als Ausbildungszentrum für Augenoptiker hat Rathenow heute Bedeutung. Fielmann schickt beispielsweise all seine Lehrlinge in Deutschland zur Ausbildung in die Stadt an der Havel.

Viele Veränderungen, eine Konstante

Vieles hat sich getan in Rathenow seit 1989. Das DDR-grau ist verschwunden. Die Kreisstadt ist heute ein schön sanierter Ort, mit wiederaufgebauter Kirche und renovierten Baudenkmälern. 2015 war Rathenow Mitausrichter der Bundesgartenschau. Auch die Verkehrsinfrastruktur wurde ausgebaut und ist auf modernem Stand. Die Wohnqualität hat sich erhöht.

Doch auch manch typische unschöne Nachwendeentwicklung ostdeutscher Städte lässt sich hier finden. Die Arbeitslosenquote ist weiter überdurchschnittlich hoch. Die Abwanderung vieler Menschen hat ihre Spuren hinterlassen. Die Einwohnerzahl sank von rund 31.000 (1989) auf 26.500 (2000). Trotz mehrerer eingemeindeter Dörfer liegt die Zahl heute bei nur noch etwa 24.000 Menschen. Tendenz fallend. Schulen wurden geschlossen. Die Wirtschaft bleibt kleinteilig.

Nur in einer Sache herrscht ungewohnte Konstanz. Der größte Arbeitgeber ist — wie damals die ROW — ein augenoptischer Betrieb. Wie damals liefert dieser Betrieb seine Brillen in große Teile Europas. Wie damals arbeitet dort eine vierstellige Zahl an Menschen. Wie damals ist der Betrieb ein Machtfaktor in der Stadt. Wie damals werden die zentralen betrieblichen Entscheidungen aber nicht in Rathenow getroffen. Wie damals prangt in diesem Betrieb der Schriftzug „ROW“.

Wer gutmeinend ist, kann sagen, dies sei paradox. Kritischer gedacht lässt sich auch sagen, wirtschaftliches Potenzial und fachliches Know How, das ganz offensichtlich in Stadt und Standort stecken, waren auch schon 1990 sichtbar — zumindest für strategisch denkende Geschäftsleute und vielleicht auch für die Treuhand. Das machte den Standort wertvoll. Und das würde so manche Entscheidung gegen ROW-Sanierung und gegen den Weiterbetrieb in Rathenowern Händen erklären. Wenn die Treuhandakten im Jahr 2031 endlich erschlossen sind, darf man auf mehr Durchblick hoffen.

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Alles auf Anfang
Donnerstag, 14. November 2019, 16:00 Uhr
~38 Minuten Lesezeit

Alles auf Anfang

Wie ein paar Ossis den Kulturschock das Jahres 1989 erlebten. Exklusivabdruck aus „1989. Alles auf Anfang“.

von Rainer Schneider

Foto: kelifamily/Shutterstock.com

Wie sich die Auflösung der DDR und die Wiedervereinigung im Allgemeinen vollzogen haben, darüber wurden schon viele schlaue Dinge geschrieben. Manchmal ist es aber auch hilfreich, konkret zu werden und sich ein paar Einzelschicksale genauer anzuschauen. Hierbei hilft die Form des realitätsnahen Romans, die Rainer Schneider für sein Buch wählte. Scholle und seine Frau Petra sind zwei solche Menschen. Sie wurden 1989 mit der Maueröffnung abrupt in eine ihnen völlig fremde Welt katapultiert. Ihr Bild von Zukunft veränderte sich von einem Moment auf den anderen. Doch der Kulturschock im Westen war nicht nur ein Zuckerschlecken. Schnell wurde deutlich, dass auch „drüben“ nicht alles Gold ist, was glänzt...

Die Welt schwankte. Scholle lag in seinem Bett und hielt sich den Kopf. Aus irgendeinem Grund stand die Mauer nicht mehr. Alles war durcheinander. Scholle war nicht der Typ für Welterschütterungen. Erst die Hochzeit mit Petra. Dann die Geburt seiner Kinder. Und jetzt auch noch das.

Er rollte sich auf die Seite. Das Bett neben ihm war leer, die Wohnung war still. Es war Samstagvormittag. Die Kinder waren in der Schule, Petra war einkaufen. Das war soweit in Ordnung, das war jeden Samstag so. Es war Scholles heiliger Ausschlaftag. Scholle war Baufacharbeiter und arbeitete im Wohnungsbaukombinat. Seinen vielen Auszeichnungen verdankte seine Familie diese Wohnung. Berlin-Mitte, Neubau, mit Blick auf den Tiergarten. Ein paar Häuser weiter wohnte Katarina Witt. Scholle sah sie gelegentlich, sie fuhr einen roten Golf. Er brauchte keinen Golf. Er wollte irgendwann einen Wartburg, wegen der Kinder. Eins nach dem anderen. Zuerst die Wohnung. Mit Ende zwanzig in das Viertel An der Kolonnade einzuziehen — mehr konnte man in Ostberlin kaum erreichen. Er lag im Plan. Alles, was er hatte schaffen sollen, hatte er geschafft.

Doch jetzt dieses Schwanken, diese Erschütterung. Seit gestern, eigentlich seit vorgestern, gab es die Mauer nicht mehr. Niemand wusste, wie sich die Dinge entwickeln würden. Kein Wunder, dass ihm der Kopf wehtat.

Petra hatte ihn auf der Baustelle angerufen. Scholle hatte seinen Brigadier gefragt, dann hatte er Feierabend gemacht. Mit den Kindern waren sie nach Westberlin gefahren. Auf dem Ku’damm hatte es Sekt gegeben, Sekt und Kaffee. Jessica, seine Tochter, hatte die ganze Zeit gequengelt. Sie wollte ihre Wunschliste abgearbeitet haben, bevor die Grenze wieder geschlossen wurde: Barbie-Puppe, Barbie-Haus und noch etwas, was mit Barbie zu tun hatte. Im KaDeWe hatte Scholle seiner Tochter den Weg zur Spielwarenabteilung freigekämpft, vergeblich. Keine einzige Barbie-Puppe war mehr übrig gewesen. Jessica, die Erstklässlerin, hatte sich hingestellt und geschimpft: „Das ist ja wie im Osten hier!“

Als sie zu heulen begann, versuchte Timo seinen Vater nach draußen zu zerren. So ein Gezeter wegen einer Puppe! Er wollte ein Mountainbike. Dann hatten sie nicht gewusst wohin und waren in den nächsten Bus gestiegen. Der fuhr nach Moabit. Egal, Hauptsache weg vom KaDeWe. Jemand von der Arbeiterwohlfahrt hatte sie zu Kaffee und belegten Broten eingeladen. Scholle hätte lieber eine Bratwurst gehabt. Aber er sagte nichts, es war alles schon unerfreulich genug. Er, der Bestarbeiter mit der Ostberliner Luxuswohnung, fraß im Westen bei der Wohlfahrt Teewurststullen für lau. Die Taschen voller Geld, das hier keiner wollte. Woher kam eigentlich die Westknete, mit der Petra die Barbie-Puppe und das Mountainbike für Timo bezahlen wollte? Könnte man damit nicht eine Bratwurst …? Petra hatte ihn stummgezischt. Scholle hatte noch eine Stulle mit Salami genommen.

Als die Kinder im Bett gewesen waren, hatten sie das Feiern angefangen. Petra kannte die besten Adressen, wo heute Nacht die Party richtig abging. Sie wusste immer so viel. Scholle wusste nie woher. Er baute Wohnungen. Sie fuhren von einer Kneipe in die nächste. Petra hatte eine Liste gemacht, es war alles im Radio durchgesagt worden. Um zehn hatte Scholle die Schnauze voll. Wie machte Petra das nur? Ihm steckte die Woche in den Knochen. Kurz nach eins am Morgen begann er endgültig abzubauen. Dauernd drückte ihm jemand was zu trinken in die Hand. Er wollte nach Hause. Aber er blieb, er konnte Petra in der fremden Welt nicht allein lassen.

Scholle sah auf den Wecker, es war kurz nach elf. Er dachte an die Bifi im Kühlschrank. Die Dinger waren gestern irgendwo verteilt worden. Hunger war ein gutes Zeichen. Er stand auf und ging in die Küche.

Auf dem Tisch lag ein Zettel. Statt einzukaufen, war Petra mit den Kindern wieder nach Westberlin gefahren. Seine Tochter hatte Barbie dazugeschrieben, mit drei Ausrufungszeichen. Scholle nahm die Bifi und verschluckte sie. Nichts, womit man einen Bauarbeiter satt bekam. Er sah auf die Verpackung, er hatte mehr erwartet. Dann machte er sich ein Brot mit Leberwurst.

Er sah aus dem Fenster. Was würde jetzt passieren? Im letzten halben Jahr waren mehrere Kollegen über Ungarn in den Westen gegangen. Einer von ihnen war praktisch ein Nachbar gewesen. Er hatte nur zwei Häuser weiter gewohnt. Er hatte Verwandte drüben, in der Nähe von Karlsruhe, wo auch immer das war. Kosake hatten sie ihn genannt, weil er in Russland gewesen war. An der Erdölleitung Drushba hatte er dort mitgebaut. Danach war er fein raus gewesen. Sogar ein Fernstudium als Bauingenieur hatten sie ihm angeboten. Aber er hatte in das Nest bei Karlsruhe gewollt. Scholle hatte nicht verstanden, was Kosake sich vom Westen versprach, was er sich erhoffte. Aber wenn jemand das alles hier aufgab, um drüben noch mal ganz von vorn anzufangen, musste es eine ganze Menge sein.

Scholle hatte keine Ahnung, wie es weitergehen würde. Doch irgendetwas sagte ihm, dass er sich darüber Gedanken machen sollte. Er glaubte nicht, dass seine Tochter recht hatte und sie die Grenze wieder zumachten. Er nahm sich vor, Petra zu fragen, wenn sie zurückkam. Sie hatte die besseren Ideen. Scholle ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an. Tatsächlich, die Mauer war immer noch auf. Es lief auf allen Kanälen. Scholle hatte nie gedacht, dass das jemals passieren würde. Er ging in die Küche und holte sich ein Bier.

(…)

Über dem Bauwagen war sternenklarer Himmel. Obwohl es bereits Frühling war, konnte Scholle den Winter noch schmecken. Er hatte mal versucht, Petra zu beschreiben, wie die eisige Morgenluft auf der Baustelle schmeckte. Aber wie erklärt man, wie gefrorene Luft schmeckt?

Er klinkte die Tür des Bauwagens auf. Hart, der Brigadier, war schon seit einer halben Stunde hier und hatte die elektrischen Heizkörper angeschaltet. Trotzdem war es noch kalt und klamm. Die Stiefel, ihre Sachen in den Spinden, selbst die Polster der Stühle fühlten sich an wie tiefgefroren.

Scholle beeilte sich, die Tür schnell wieder hinter sich zu schließen.

„Morgen“, nuschelte er.

„Guten Morgen“, sagte Hart.

Auf dem Tisch standen neun Flaschen Bier. Hart schien zu erwarten, dass seine Brigade heute vollzählig war.

„Hast du Geburtstag?“, fragte Scholle und schloss seinen Spind auf.

„Nee, weil Markus wieder da ist. Ich weiß nicht, irgendwas stimmt nicht mit ihm. Er sagt kaum was, als wären wir Fremde für ihn. Dabei sind wir doch eine Truppe. Immer noch. Oder?“

„Klar.“

Hart öffnete eine Dose mit Bockwürsten.

„Ist echt ‘n Ding, dass der zurückgekommen ist, was?“ In seiner Stimme lag immer noch diese Mischung aus Erstaunen und Unglauben, mit der sie alle reagiert hatten, als Markus sich wieder zur Schicht gemeldet hatte.

Scholle nickte, hängte seine Jacke in den Schrank und nahm die Wattejacke heraus. Das Wasser im Topf auf dem Kocher brodelte, Hart kippte die Bockwürste hinein.

„Lässt ja richtig was springen“, sagte Scholle. Er überlegte kurz, dann entschied er: „Ich geb auch was, ich schick nachher einen von den Stiften los, ja?“

Hart nickte. Scholle wollte, dass es fair blieb. Er würde einem der beiden Lehrlinge zwanzig Mark geben, damit er eine Flasche Korn holte, später, wenn die Kaufhalle aufmachte. Scholle fand, dass sich das so gehörte. Hart hatte recht, Markus war immer noch einer von ihnen, auch wenn er damals, im letzten August, „die Budapest“ bekommen hatte. Jene seltsame Krankheit, die via Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik führte. Was hatten sie damals diskutiert. Hatte Markus sie nun sitzen lassen, obwohl sie sowieso schon knapp an Leuten waren und im Plan zurücklagen, oder hatte er nur das gemacht, was die meisten von ihnen heimlich wollten.

Sie hatten doch damals alle überlegt, ob sie nach Ungarn und dann weiter nach Österreich fahren sollten. Selbst Scholle, obwohl er eigentlich ganz zufrieden mit allem war, hatte mit dem Gedanken gespielt. Vielleicht waren es aber auch Petras Gedanken gewesen, die da mit ihm gespielt hatten. Letztlich war es egal. Gewollt, einfach nur mal sehen, wie es drüben war, das hatten sie alle. Von denen, die sich damals getraut hatten, war Markus nun der Erste, der zurückgekommen war. Scholle wollte zu gern wissen, was da passiert war. Auf jeden Fall sollte das für die Brigade nichts ändern. Scholle fand es gut, dass sie Markus das auch zeigten. Die Tür des Bauwagens ging auf. Grünwald, Schmidti und Jochen kamen. Fehlten noch Ebers, Markus und die Lehrlinge, dann waren sie komplett.

„Männers, wie stand er am Wochenende?“, polterte Schmidti und deutete mit den Händen große Brüste an. „Live-Show am Bahnhof Zoo, vom Feinsten, sage ick euch, vom Feinsten!“

„Alle drei zusammen?“, fragte Hart.

„Klar“, grinste Jochen. „Drei Mann in eene Kabine, die Weiber wussten jar nicht, dass so wat jeht.“

„Ddddd …“, Grünwald stotterte, seit Jochen ihn bei der Armee mit dem Panzer angefahren hatte. Wenn er den ersten Buchstaben geschafft hatte, ging es. „Dit war richtig jeil da.“

„Hab ick doch jesagt, oder?“ Schmidti rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. „Aber Taler musste haben, sonst jeht jar nüscht. Hat eener Jeburtstag?“

Scholle schüttelte den Kopf. „Hart gibt einen aus, weil Markus wieder da ist“, erwiderte er. „Ich lass einen von den Stiften nachher ’ne Granate holen, klar?“

„Klar, jroßer Meister“, nickte Schmidti und setzte sich an den Tisch. „Wat steht an für heute?“

Hart erzählte kurz, was sie heute schaffen mussten. Er rechnete nicht damit, dass er jemanden für eine zweite Schicht brauchte. Bis jetzt war nicht einmal genug Material für die erste gekommen.

„Und wenn Markus da ist, also … wir sind immer noch eine Brigade, klar?“, stellte er fest.

„Wwwwww … wie meenstn dit?“

„Kein Gerede, nichts. Lasst ihm ’n bisschen Zeit, wieder anzukommen.“

„Wwwww … warum isser denn dann erst wegjejangen?“

Schmidti boxte ihm in die Seite. „Wir machen, wat Hart sagt. Lassen erst mal ankommen.“

Hart öffnete die Bierflaschen. Die Männer griffen zu und tranken.

Dass Markus zurückgekommen war, verstanden sie alle nicht. Irgendwas musste passiert sein, dass er es drüben nicht ausgehalten hatte. Als er damals im Westen gelandet war, hatte er ihnen geschrieben, dass es ganz gut aussah. In dem Notaufnahmelager, in das sie ihn und seine Familie gebracht hatten, hatten sie ihm gesagt, dass auf dem Bau immer Leute gesucht würden. Markus und seine Frau waren sich einig gewesen, dass sie in den ersten Jahren keine großen Sprünge machen konnten. Nur die Kinder sollten ein paar Wünsche extra erfüllt bekommen. Was sollte schon schiefgehen. Dass Markus arbeiten konnte wie ein Tier, darüber wussten alle in der Brigade Bescheid. Wenn er drüben genauso anpackte wie hier, würde er es schneller zu was bringen als Kosake, dem anderen Abgang, den die Brigade gehabt hatte. Doch jetzt war Markus zurückgekommen, und von Kosake hatten sie nie wieder etwas gehört.

Was Scholle den anderen nicht sagte, war, dass er mit Markus des Öfteren telefonierte, seit er zurück war. Er versuchte herausfinden, was Markus drüben erlebt hatte und wollte daraus ableiten, was er machen sollte. Von allen, die er kannte, war Markus der Einzige, der jemals im Westen gewesen war. Was auch immer bei Markus danebengegangen war, Scholle wollte es für sich und seine Familie ganz gern vermeiden. Immerhin so viel wusste er schon, dass Bau drüben nicht besonders gut angesehen war. Da musste man wenigstens Bauleiter sein, dass sich das noch lohnte. Und eigentlich, wenn er so darüber nachdachte, seine große Liebe war dieser Beruf nicht. Er hatte auf dem Bau immer gutes Geld verdient, keine Frage. Aber das war auch schon der einzige Grund, weshalb er ihn erlernt hatte: Nirgends ließ sich so schnell und einfach Geld verdienen. Schon kurz nach der Lehre hatte er manchmal mehr rausgehabt als die meisten Studierten mit Ende dreißig. Aber jetzt? Markus erzählte, dass sie ihm drüben weniger gezahlt hätten als den Gastarbeitern. Er hatte Türken und Polacken gesagt, aber Scholle sprach lieber von Gastarbeitern.

Auch sonst war drüben alles anders. Die Westler sprachen anders, sie dachten anders. Als Ostler kommst du dir bei denen einfach nur blöd vor, hatte Markus gesagt.

Seit zwei Wochen war Markus wieder bei ihnen. Bis heute ließ er niemanden an sich heran. Vielleicht lockerten ihn das Bier und der Korn ja auf. Markus ackerte jetzt noch mehr als früher. So als hätte er entsetzliche Angst vor dem, was kam, was unweigerlich geschehen musste: dass der Westen ihn hier wiederfand.

Draußen hupte ein LKW. Hart wischte die beschlagene Scheibe des Bauwagens frei. Ein voll beladener LKW. Sie konnten arbeiten. Der Tag war gerettet. Auch Markus und der Rest der Brigade waren inzwischen gekommen. Hart verteilte die Bockwürste. Die Männer aßen und tranken, zogen ihre Wattejacken an und gingen auf die Baustelle. Scholle arbeitete sein Pensum ab, dann machte er Feierabend und fuhr nach Hause.

Am U-Bahnhof Otto-Grotewohl-Straße stieg er aus und lief hinüber zur Straße An der Kolonnade. Als er die Tür aufschloss, brannte Licht in allen Zimmern. Seine Kinder kamen auf ihn zugerannt und erzählten ihm, was heute in der Schule los gewesen war.

Für seine Tochter war das Wichtigste, dass es außer ihr noch niemand zu einer echten Barbie-Puppe mit so viel echtem Zubehör gebracht hatte. Timo erzählte von einem elektronischen Spielzeug, das jetzt alle in seiner Klasse hatten. Es beruhigte Scholle, dass Timo etwas gefunden hatte, das ihn interessierte. Dass er endlich aufhörte, still und verstört herumzuschleichen, wie er es die letzten Monate über getan hatte. Für Timo war es schwer, dass sich in der Schule alles änderte. Seine Lehrer begannen, unterschiedliche Meinungen zu haben, die noch dazu häufig wechselten. Plötzlich wurde er für Dinge gelobt, die ihm früher Ärger eingebracht hatten. Seine Lehrer fanden neuerdings Westfernsehen klasse und behaupteten, schon immer ARD und ZDF gesehen zu haben. Nur die privaten Kanäle fanden sie doof. Das irritierte Timo genauso sehr wie der Umstand, dass er nicht mehr zu den Pioniernachmittagen musste, von denen eben noch der Gang der Welt abhängig gewesen war.

„Wo ist Mutti?“, fragte Scholle.

„Die hat noch zu tun“, sprudelte es aus seiner Tochter heraus, „die war vorhin kurz da und hat uns Abendbrot gemacht und dann hat sie gesagt, dass sie noch mal nach Weltberlin geht und was besorgt.“

„Es heißt Westberlin“, verbesserte Scholle.

„Ja, und morgen soll es wieder Barbie-Häuser geben, da fahren wir dann zusammen dahin.“

„Wünsch ick euch viel Spaß.“

„Papa?“

„Ja?“

„Du hast ick gesagt.“

„Entschuldigung.“ Scholle musste lächeln, obwohl ihn diese ewigen Ermahnungen nervten. Er berlinerte ja inzwischen kaum noch, eigentlich nur, wenn er aufgeregt war. Früher, also vor Petra, war ihm gar nicht aufgefallen, wie stark er seinen Heimatdialekt pflegte. Aber spätestens seit die Kinder da waren, achtete Petra darauf, dass er sich einer vernünftigen Sprache befleißigte. Und offensichtlich betrachtete es nun auch seine Tochter als ihre ureigenste Aufgabe, ihren Vater diesbezüglich zu ermahnen.

„Du weißt, dass Mutti das nicht will“, fügte sie hinzu.

„Da hast du völlig recht. Ist sonst noch was?“

„Was meinstn Papa, kann ich fürs Zeugnis ’n Mountainbike haben?“, fragte Timo.

„Klar“, sagte Scholle. „Mal sehen, was die kosten.“

„Logo“, nickte Timo nachdenklich. „Papa?“

„Was ist, Großer?“

„Kannst du nicht auch drüben arbeiten? Mutti sucht sich schon was. Dann verdient ihr beide richtiges Geld.“

„Muss mal sehen, ob die noch ’n tüchtigen Bauarbeiter brauchen können. Schon Hausaufgaben gemacht?“

Seine Kinder nickten. Scholle ging mit ihnen in die Küche, wo die vorbereiteten Abendbrotteller standen.

Seit er das Thema Geld angesprochen hatte, war Timo wieder still geworden. Zu gern hätte Scholle gewusst, was ihn beschäftigte. Überhaupt, diese in sich gekehrte Grübelei, wo kam die auf einmal her? So war Timo doch früher nicht gewesen. Scholle überlegte, ob das vielleicht etwas Präpubertäres war, ob er selbst in dem Alter so gewesen war. Von Petra jedenfalls war derlei nicht bekannt. Sie sei immer so wie Jessica gewesen, hieß es, und Scholle glaubte es aufs Wort. Alles an seiner Tochter erinnerte ihn an seine Frau. Sogar die Art, wie sie die Augen verdrehte, wenn ihr etwas nicht passte, war ihm vertraut.

Scholle sah seinen Kindern zu, wie sie ihre Brote aßen, dann schickte er sie ins Bett. Außer am Wochenende kam er normalerweise nicht dazu. Wann immer es ging, schrubbte er Doppelschichten. Der Wartburg, der als Nächstes dran war, wollte irgendwie bezahlt sein. Doch wenn er ehrlich war, hätte er lieber Zeit für die beiden gehabt.

Als sie nach ihm riefen und sagten, dass sie fertig waren, ging er zu ihnen ins Zimmer, deckte sie zu und gab ihnen einen Gute-Nacht-Kuss. Dann schaltete er das Licht im Kinderzimmer aus und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Petra hatte ihm einen Zettel an den Kühlschrank geklebt. Scholle hatte ihn nicht lesen wollen, solange die Kinder noch wach waren. Es stand ungefähr das darauf, was ihm Jessica schon gesagt hatte.

Sie war mit einer Freundin nach Westberlin gefahren, um sich umzusehen, ob sie irgendwo Arbeit fanden. Sie machten beide denselben Bürojob, Scholle kannte sich nicht aus in diesen Dingen. Er wusste nicht, ob es einen Unterschied machte, ob sie nun Sekretärinnen oder Sachbearbeiterinnen waren. Sie saßen beide den ganzen Tag an Schreibtischen, und wenn man sie anrief, störte man sie selten bei irgendwas. Gut, Scholle rief nicht oft bei seiner Frau an. Es war umständlich, er musste dazu ins Bauleiterbüro, wo alle zuhören konnten. Überhaupt telefonierte er nur ungern. Er wusste selten, was er sagen sollte und wie er es sagen sollte. Er holte auf umständliche Art die benötigte Auskunft ein und legte auf, meist, ohne sich zu verabschieden.

Scholle fand es gut, dass seine Frau nach einem Job in Westberlin suchte. Je früher, desto besser. Wenn sie nach Hause kam, wollte er sie bitten, ihm die Zeitungen mit den Stellenanzeigen aufzuheben, damit er am Wochenende nachsehen konnte, ob etwas für ihn dabei war.

Er ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Er wusste nicht so richtig, was er mit sich anfangen sollte. Ihm fiel Hotte ein, ein Kumpel, der hier in der Gegend wohnte. Hotte war Klempner, ein Beruf, mit dem man für besseres Geld vielleicht auch in Westberlin arbeiten könnte. Was Markus über den Westen erzählte, das konnte so einfach nicht stimmen. Er musste es selbst ausprobieren.

Scholle schaltete den Fernseher aus und nahm im Flur seine Jacke vom Kleiderständer. Weiter vorn an der Friedrichstraße war eine Kneipe. Möglich, dass Hotte Lust auf ein Bier hatte. Gemeinsam ließ sich die Zukunft viel besser planen.

(…)

Ein paar Monate später saß Hotte in der Filiale der Sparkasse in der Leipziger Straße und trommelte mit seinen dreckigen Fingern auf dem Tisch. Er war jetzt das vierte Mal hier. Hotte hasste es, in kleine Zimmer eingesperrt zu sein und warten zu müssen.

Vorige Woche war er in Westberlin bei der Deutschen Bank gewesen. Das hatte ihm besser gefallen. Ein großer Raum mit vielen Tischen, ein paar Sitzgruppen zwischendurch, Grünpflanzen. Es war beinahe wohnlich gewesen im Vergleich hierzu. Nur einen Kredit gab man ihm dort nicht. Man gab ihm nicht einmal ein Konto. Tendenziell jedoch fühlte sich Hotte bei der Deutschen Bank eher zu Hause als hier. Bei der Sparkasse hatten doch nur Sozialhilfeempfänger ihre Konten. Und Leute wie er, die woanders nicht kreditwürdig waren. Noch nicht. Alles nur eine Frage der Zeit.

Für die Sparkasse dagegen war klar, dass er als Ostberliner, bislang angestellter Klempner bei einer kleinen Handwerksfirma, keine großartigen Sicherheiten bieten konnte. Dass er mehr auf der Basis gefühlter Sicherheiten unterwegs war. Er brachte zwar eine Immobilie ein, ein Grundstück in einer Stadtrandsiedlung draußen in Weißensee, aber hier stand die Bewertung noch aus. Hotte verstand als Sicherheit, dass er das Häuschen dort selbst gebaut hatte. Es war eine Sicherheit in dem Sinn, dass er von dem Handwerk, mit dem er sich selbständig machen wollte, tatsächlich etwas verstand; dass er genau genommen sogar mehr als nur das eine Handwerk beherrschte. Schließlich war er ja Klempner; dass er außerdem mauern und Dächer decken konnte, war doch genau das, was die hier diversifizieren nannten: Wenn es mit dem Klempnern nicht klappte, konnte er immer noch als Maurer gehen. So viel Sicherheit, rein beruflich, kriejense bei ‘nem Zahnarzt nicht. So muss mans doch mal sehen.

Bei der Deutschen Bank hatten sie ihm gesagt, dass er seine Laube, seine Datscha oder wie auch immer man so ein Gartenhäuschen im Osten nannte, getrost behalten könne. Bei der Sparkasse dagegen wusste man, wie die Verhältnisse nun einmal waren. Und für Hotte sollte ein Traum in Erfüllung gehen.

Er war Mitte dreißig, die Mauer war im richtigen Moment gefallen. Er war im besten Alter, um seinen eigenen Laden, seinen eigenen Betrieb aufzubauen: Horst Kaminsky, Gas-Wasser-Scheiße. Genauso deutlich war sein Firmenkonzept. Zwei, drei Leute, ein paar Maschinen, Werkstattwagen und los gehts. Bei dem, was im Osten alles kaputt war, konnte das gar nicht schiefgehen. Sicher, er wusste noch nicht, was er im Einzelnen für die Aufträge berechnen sollte. Aber das würde sich einpendeln im freien Spiel des Marktes. Für die Kalkulation, die seinem Kreditantrag zugrunde lag, hatte er sich an dem orientiert, was in seiner alten Firma genommen worden war. Aber das war natürlich alles viel zu klein gedacht. Für den Westen brauchte man Visionen.

Er hatte alles darüber gelesen. Im Westen hatten alle Firmenchefs Visionen. Jeder wusste, wie seine Firma in zehn oder zwanzig Jahren aussehen sollte. Auch Hotte begann, Visionen zu entwickeln. In der Schalterhalle der Sparkasse hatte er die weißen Platten an der Decke gesehen, aus denen seit Jahren der Asbest rieselte. Fertig war Hottes Vision: Erst riss er überall die alten Bleirohre raus, dann war der Asbest dran. Und wenn er den Osten praktisch im Alleingang saniert hatte, dann war er auch saniert. So einfach war die Sache. Dann fehlte ihm nur noch eine Vision für seinen Ruhestand. Alles in allem: Bei dem, was hier in den nächsten Jahren zu verdienen war, nahmen sich die paar hunderttausend, die er für den Anfang brauchte, geradezu läppisch aus.

„Wo bleiben Sie denn, ick hab Termine!“, rief Hotte in Stadionlautstärke in den Flur hinaus, wo er irgendwo seinen Kreditsachbearbeiter vermutete. Wenn ihm früher etwas zu lange gedauert hatte, hatte er gedroht, eine Eingabe zu schreiben. An den Magistrat, an die Volkskammer oder an Erich Honecker. Diese Eingaben waren sein Lebensmittel gewesen. Mit Eingaben hatte er die Wohnung An der Kolonnade bekommen, Eingaben hatten ihm ein Telefon beschert und mittels Eingaben hatte er Urlaubsplätze ergattert. Was Eingaben anging, war er ein gewiefter Hund gewesen. Ein Künstler beinahe. Seine Einstiegsdrohung war immer gewesen, dass er das nächste Mal nicht zur Wahl gehen würde. Dann ließ er durchblicken, dass er Westjournalisten Abschriften seiner Eingaben zuspielen könnte. Der absolute Paukenschlag war immer der Ausreiseantrag gewesen.

Doch ausgerechnet dieses Argument war in den Achtzigerjahren etwas schlaff geworden, nachdem alle möglichen Leute angefangen hatten, ihre Ausreise ins Spiel zu bringen. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Hotte auch deswegen eine Eingabe geschrieben. Immerhin galt er, Hotte Kaminsky, als einer der Erstnutzer dieser Drohung, wenn nicht sogar als ihr Erfinder. Schon in den Siebzigerjahren hatte er damit hantiert, weshalb er sich auch als das eigentliche Urgestein der Bürgerbewegung sah. Er hatte schon Widerstand geleistet, als Bärbel Bohley noch in ihrem Malkasten herumgekrabbelt war. Insofern war es skandalös, dass ihn nach dem Mauerfall niemand für ein öffentliches Amt vorgeschlagen hatte. Aber der Zorn darüber war inzwischen verraucht, das war vorbei, vergeben und vergessen, er hatte jetzt ohnehin keine Zeit mehr dafür.

„Junger Mann!“, rief Hotte. „Ick kann auch woanders hinjehen! Ick muss Maschinen kaufen, meine Leute warten, meine Kunden jenauso. Dit muss doch hier mal irjendwie vorwärtsjehn!“

Hotte hörte Schritte.

„Herr Kaminsky, es hat einen kleinen Augenblick gedauert.“

„Dit hab ick jemerkt.“

Der Sachbearbeiter setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

„Aber das Warten hat sich gelohnt. Sehen Sie hier“, er schob Hotte ein Papier zu, „wir haben eine Förderkonstruktion gefunden, ERP-Mittel, sagt Ihnen das etwas?“

„Wissen Sie, watn Blindflansch iss?“

„Nein.“

„Sehnse. Ick mein, hat eben jeder so seins.“

„Gut. Wir beleihen Ihr Häuschen mit einem sehr großzügigen Betrag, den Sie dieser Spalte hier entnehmen können. Dieser Betrag ist als Eigenkapital notwendig, ohne den Sie diesen Kredit nicht bekommen können. Ist Ihnen das so weit klar?“

Der Sachbearbeiter sah von dem Papier zu Hotte und hatte Zweifel daran, ob Hotte tatsächlich verstand, was er ihm erklärte. Aber darum ging es nicht. Sein Chef hatte dieses Vorgehen abgenickt, und er selbst hatte zeigen können, was für ein kreativer Kopf er war. Dieser Kredit war haarscharf auf der Außenkante des Zulässigen bewilligt worden. Und das war es, worauf es ankam. Es gab viele interessante Bereiche in der Finanzwelt. Er wollte nicht ewig bei der Sparkasse hängenbleiben. Also erklärte er Hotte geduldig die Einzelheiten des Kredites, der aus einer Menge Geld und noch wesentlich mehr Hoffnung bestand.

(…)

Vor der Sparkasse, nur wenige Meter von dem Schreibtisch entfernt, an dem Hotte gerade seinen Kreditvertrag unterschrieb, stand Scholle und wartete.

Die Währungsunion war erst ein paar Tage alt. Überall stand man sich die Beine in den Bauch, wenn man Bargeld brauchte. Scholle hatte Urlaub, deswegen musste er das hier erledigen. Petra jobbte in einem Büro in Westberlin. Mit einem Mal war sie es, die das richtige, das große Geld verdiente. Sie hatte inzwischen auch ein Konto drüben. Aber bis dort das erste Geld einging, dauerte es noch bis Anfang August. Also stand Scholle in der bratenden Sonne und wartete. Nur langsam rückte er in der Schlange vorwärts.

„Scholle, Junge, wat machste denn hier?“, fragte Hotte, als er aus der Sparkasse kam.

„Ach, Hotte. Hab dich gar nicht gesehen. Brauchst du auch Geld?“

„Nee, ick bin versorgt. Komm, lass uns ‘n Bier trinken.“

„Geht nicht. Wir brauchen Bares, ich hab Petra versprochen, mich drum zu kümmern.“
„Wie viel brauchste denn?“

„Zwei-, dreihundert will ich holen.“

„Ja, komm, die pump ick dir.“ Hotte wedelte mit einem Packen Geldscheine. „Jibste mir wieder, wenn hier wieder Ruhe rinjekommen iss.“

Scholle griff nach den Scheinen. Nur raus aus der Sonne.

„Und dit Bier jeht sowieso uff mich“, sagte Hotte.

„Hast du was gewonnen?“ Scholle steckte das Geld ein.

„Erzähl ick dir, erzähl ick dir allet haarklein. Aber erst mal brauchen wa wat jejen den Durscht.“

Sie gingen in einen Biergarten auf der anderen Straßenseite. In dem tschechischen Spezialitätenrestaurant, zu dem er gehörte, hatte man zu Ostzeiten kaum einen Platz bekommen. Doch jetzt hielten die Leute ihr Geld zusammen. Hotte und Scholle waren die ersten Gäste des Tages. Sie bekamen lauwarmes Bier, reklamierten lautstark und zogen weiter nach Kreuzberg. Auf dem Weg erzählte Hotte von seinem Kredit. Etliche Biere und viele Stunden später landeten sie in einer Kneipe, die durchgehend vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte. Dort tranken sie sich endgültig fest. Um zu zeigen, wer der Chef war, legte Hotte ein paar Scheine auf den Tisch und lud alle ein, die am Tresen standen. Moni, die Wirtin, versprach Bescheid zu geben, wenn das Limit erreicht war.

„Musst du hier den Maxen machen?“, fragte Scholle.

„Maxen? Wer macht hier den Maxen? Du musst zeijen, dassde wat bist, denn looft och die Bude. Und die paar Kröten, die sinds ja nun wirklich nich.“

Scholle sah ihn an, den kleinen drahtigen Hotte, der neben seinem Hocker stand, Bier trank und das Interesse der anderen genoss. Jemand fragte ihn nach seiner Visitenkarte. Er kenne jemanden in einer Hausverwaltung. Wenn Hotte wolle, könne er da sicher einen Deal einfädeln. Hotte schrieb seinen Namen und seine Telefonnummer auf einen Bierdeckel. Auf einen zweiten Bierdeckel schrieb er, dass er Visitenkarten brauchte.

„Siehste“, raunte er Scholle zu, „zahlt sich immer aus, wenn man wat investiert. Und wenns nur ’n paar Bierchen sind.“

Scholle nickte. Er fühlte sich benommen. Das lag sicher am Bier, aber auch an den Stunden, die er am Nachmittag in der Sonne gestanden hatte. Und daran, dass er begriff, dass Hotte es besser machte, dass er es schon immer besser gemacht hatte. Hotte hatte Kontakte gehabt; bei ihm hatte es nie an irgendetwas gefehlt. Aber erst jetzt in der Kneipe kapierte es Scholle. Hotte kannte unzählige Leute, die etwas bewegen konnten. Alles über die Jahre gewachsene Beziehungen. Gleich nach dem Mauerfall hatte er in Lichtenberg einen Puff ausgebaut. Das war nur ein Beispiel. Den Puff gab es seit Jahren, illegal natürlich, aber selbstverständlich hatte Hotte den Laden gekannt. Als die Betreiberin dann richtig loslegen wollte, hatte er sofort den Fuß in der Tür gehabt. Scholle kannte solche Läden selbstverständlich nicht.

Aber was Hotte so erzählte, wie er da alles eingerichtet hatte, das klang ziemlich beeindruckend. Nach dem Puff hatte er eine Imbissbude und eine Zahnarztpraxis ausgebaut. Alles schwarz natürlich. Genauso, wie er es im Osten gemacht hatte. Mit denselben Leuten wie früher. Der Zahnarzt hatte Hottes Zähne überkront, dafür hatte Hotte in dessen Haus ein neues Bad eingebaut. So war es immer gelaufen, und so lief es weiter. Scholle wusste noch, wie verblüfft damals alle gewesen waren. Von einem Tag auf den anderen hatte Hotte hellgelbe statt dunkelgelber Zähne gehabt. Und jetzt? Hotte würde es packen, da gab es keinen Zweifel. Scholle kam ins Grübeln, ob er für die Zeit, die jetzt anbrach, der Richtige war. Als er mit Hotte vor ein paar Wochen in der Kneipe weiter oben in der Friedrichstraße gewesen war, um zu beratschlagen, was nun werden sollte, war Hottes Plan bereits fix und fertig gewesen. Hotte hatte gleich gesagt, dass er Scholle nicht dabeihaben wollte.

Jetzt solle mal schön jeder seins machen, nix mehr Kollektiv. Scholle begriff, dass er allmählich in die Spur kommen musste. Petra hatte etwas Neues gefunden. Hotte baute mit einem riesigen Kredit seine eigene Firma auf. Sogar die beiden Lehrlinge aus dem Wohnungsbaukombinat waren längst über alle Berge. Sie arbeiteten jetzt in Köln als Warm-Upper beim Fernsehen. Warm-Upper. Schon wieder so ein Begriff, den Scholle nicht kannte. Er trank das nächste Bier und hielt sich am Tresen fest. Und als er merkte, dass ihm übel wurde, dachte er nur: Nicht mal saufen kannst du. Nicht einmal das.

(…)

Scholle stand hinter der Baracke und kotzte. Er vertrug das Durcheinandertrinken nicht. Bier und Schnaps, das ging; aber Bier, Weinbrand, Rotwein, Klarer und dann auch noch Likör, das war ihm noch nie bekommen. Auch hier in Hürth bei Köln nicht.

Sein Baukombinat war abgewickelt worden. Der halbe Osten war arbeitslos. Scholle hatte die Initiative ergriffen und war dahin gegangen, wo die Jobs waren. Man könnte auch sagen, Petra hatte ihn dorthin geschickt. Scholle hatte es eigentlich ganz angenehm gefunden, Geld dafür zu bekommen, dass er zu Hause blieb. Gründe, sich nichts zu suchen, gab es genug. In Berlin sowieso. Es gab immer jemanden, der erzählte, dass es entweder keine Jobs gab oder weshalb man irgendwo besser nicht anfing, weil die nicht zahlten oder etwas anderes nicht stimmte.

Als Petra ihm gesagt hatte, er solle endlich etwas tun, wenn nicht in Berlin, dann eben da, wo alle hingingen, hatte er erst Markus anrufen wollen, damit der Petra Bescheid gab, dass im richtigen Westen alles noch viel beschissener war. Doch Petra war darauf nicht eingestiegen. Sie hatte Markus einen Loser genannt.

Jetzt arbeitete Scholle seit zwei Monaten in Hürth bei Köln und zog irgendeinen Gewerbebau hoch.

In der Schule hatte er gelernt, dass zwar die Könige in die Geschichtsbücher eingingen, dass aber er es war, Scholle, der Bauarbeiter, der die Städte und Häuser errichtete. Er war der wirklich Wichtige. Ohne ihn, den Arbeiter, gebe es auch über die Könige nichts zu schreiben.

Scholle hatte das Brechtsche Gedicht mal auswendig gekonnt. Es war sein Selbstverständnis gewesen, sein ganzes Leben lang. Mochten andere König sein, er war der König über den Königen. So hatte er das gesehen. Nur hier in Hürth interessierte das niemanden. Loser oder nicht, Markus hatte recht gehabt. Im Westen wurde man behandelt wie der letzte Dreck. Und Brecht konnte ihn mal gerne haben.

Scholle war bei den Stahlflechtern gelandet. Die Firma, bei der er angefangen hatte, kannte keine Plattenbauweise. Scholle hatte es erklärt so gut es ging, aber irgendwie war dabei nicht das herausgekommen, was er erwartet hatte. Am brauchbarsten war er für seine neue Brigade, wenn er für alle in einem der riesigen Billigkaufparks rings um Köln einkaufen ging. Auf der Baustelle kam er nicht hinterher, seine Hände waren kaputt und aufgerissen, und mit den dicken Binden, die er darumgewickelt hatte, schaffte er erst recht nichts mehr. Seine Kollegen, die allesamt aus Rumänien kamen und mit denen er sich die Unterkunft in der Baracke teilte, lachten über ihn. Das Schlimmste aber waren die Freitage, an denen sie abends zusammen kochten und soffen.

Es war ja nicht so, dass Scholle nichts trank, nur diese Art des Trinkens hielt er nicht durch. Seine Kollegen kippten alles durcheinander, bis nichts mehr da war. Es war wie bei der Armee: Scholle musste mitmachen, er brauchte die anderen, damit er den Job behielt. Die Frage, warum er ihn überhaupt behalten wollte, konnte er nicht beantworten. Er kam nicht mehr dazu, über irgendetwas anderes nachzudenken als sein eigenes Überleben.

Vor ein paar Tagen war ein Brief von Petra gekommen. Er hatte ihn stolz den anderen gezeigt. Post von der Familie war immer heiß ersehnt. Dennoch hatte Scholle ihn nicht geöffnet. Er hatte so getan, als wüsste er, was drinstand: Dass seine Frau und seine Kinder am Wochenende vorbeikämen und sie dann alle zusammen ins Phantasialand nach Brühl fahren würden. Die anderen hatten genickt und gewusst, dass es nicht stimmte.

Scholle richtete sich auf und hatte den widerlichen Geschmack von Erbrochenem im Mund. Er ging in den Waschraum und putzte sich die Zähne. Dann kehrte er ins Zimmer zurück und legte sich auf sein Bett. Bevor er einschlief, rieb er sich die Hände mit der Salbe ein, die ihm ein Apotheker empfohlen hatte und die tatsächlich zu helfen schien. Dann war er weg.

Am nächsten Morgen suchte Scholle in den Resten auf dem Tisch nach etwas Essbarem. In einem Topf war Bohnensuppe. Er aß sie auf. Dann nahm er seine Jacke, steckte den Brief von Petra ein, schlich aus dem Zimmer und lief zur Straßenbahn. Er wollte tatsächlich nach Brühl fahren. Er musste dieser miefigen Baracke entkommen; der entsetzlichen Langeweile der Wochenenden. Als er in der Bahn saß, zog er den Brief aus der Jacke. Er riss ihn auf und las. Es war nicht so, dass es ihn umwarf.

Petra hatte einen neuen Job gefunden. Diesmal zog es sie nach Süddeutschland. Sie schrieb, es sei vor allem wegen der Kinder. Sie müssten raus aus Berlin. Petra schrieb, dass es ihr scheißegal sei, welcher Lehrer den anderen bespitzelt habe, was sonst noch für Sauereien gelaufen seien. Das Einzige, was zähle, sei, ob sie den Kindern das vermitteln konnten, was heutzutage gebraucht wurde. Ob sie sie fit für die Zukunft machen konnten. Und da hatte sie so ihre Zweifel. Denn woher sollten die ganzen Ostlehrer denn plötzlich wissen, was ein Kind im Westen lernte? Es ging nicht um Mathe oder Chemie. Es ging um die Einstellung zur Welt. Und was sie da seit der Wende mit der Schule erlebt habe, das gehe auf keine Kuhhaut mehr. Da würde der gleiche Stiefel gefahren wie früher, allen Beteuerungen zum Trotz. Petra wollte nicht, dass Jessica und Timo die Köpfe zugemüllt bekamen. Deshalb zogen sie jetzt alle drei um. Scholle las es und nickte.

Er konnte das alles nachvollziehen. Er wusste ja, wie schwer es ihm fiel, sich auf die neue Zeit einzustellen. Wenn er sich ansah, was aus ihm in so kurzer Zeit geworden war, wie er abrutschte, wieder berlinerte und nicht in der Lage war, etwas dagegen zu unternehmen. So gesehen verstand er, dass es auch den Lehrern schwerfiel, sich an all das Neue zu gewöhnen. Aber Petra hatte dafür eben kein Verständnis. Und Scholle war ziemlich sicher, dass sie auch ihn meinte, wenn sie so von den Lehrern schrieb. Dass auch er den Kindern nicht guttat. Wie gesagt, verstehen konnte er es. Die letzten zwei Jahre waren nicht gut gelaufen; erst recht nicht nach Petras Maßstäben. Insofern hatte sich der Umzug seit Längerem angedeutet. Doch wenn Petra bisher gesagt hatte, dass sie aus Berlin rauswolle, hatte Scholle immer geantwortet, solange er noch seinen Job im Baukombinat habe, komme das überhaupt nicht in Frage.

Er hatte ihr alles über Kündigungsschutz, Betriebszugehörigkeit und Abfindung erklärt, genau so, wie er es von Hart gehört hatte und wie es in den Zeitungen stand. Auch vom Fachkräftemangel erzählte er, zu dem es unweigerlich kommen würde, wenn alle in den Westen gingen. Inzwischen waren alle im Westen. Er und Hart waren die letzen Mitarbeiter des ehemaligen Baukombinates gewesen. Natürlich bauten sie schon lange nichts mehr, auch von einer Abfindung war nicht mehr die Rede. Jetzt hielt sich Scholle an den Rat einer ostdeutschen Ministerin, die gesagt hatte, dass die Leute sich nach ihrem arbeitsreichen Leben endlich einmal ausruhen sollten.

Petra hatte gekocht vor Wut.

Was Scholle aus dem Brief erfuhr, war also das Ergebnis einer schleichenden Erosion. Vollständig wurde das Bild allerdings, als er las, dass Petra jemanden kennengelernt habe, der ihr und den Kindern den Neuanfang erleichtern würde. Ihr Neuer besaß ein Haus und einen mittelständischen Betrieb, der Teile für den Automobilbau herstellte. Herzlichen Glückwunsch, dachte Scholle. Und die Hände hast du dir heute Morgen auch nicht eingesalbt. Denn als er den Brief losließ, riss die frische Haut seiner Handinnenflächen wieder auf. Es brannte wie Feuer.

Scholle hatte immer versucht, sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn Petra ihn verließ. Wenn sie gestritten hatten zum Beispiel. Seine Fantasie hatte nie dafür gereicht. Jetzt schien alles so folgerichtig zu sein, dass er nicht den geringsten Anlass sah, etwas dagegen zu unternehmen. Es war doch richtig, was sie tat. Für die Kinder war es ganz bestimmt das Beste. Nur was er machte, was er hier in Hürth machte, erklärte sich nicht. Wenn er Petra zurückgewinnen wollte, wenn er seine Kinder wiedersehen wollte, dann musste er endlich auf die Füße kommen, egal wie.

Als er seinen rumänischen Kollegen am Abend erzählte, dass er am Montag nicht mehr auf die Baustelle kommen würde, wollten sie nicht wissen warum. Sie reagierten so, als hätten sie nichts anderes erwartet. Scholle kochte und trank noch einmal mit ihnen, und als er am Montagmorgen zu seinem Chef ging und ihm sagte, dass er kündige, schien auch der nichts anderes erwartet zu haben.

(…)

Scholle gönnte sich eine Auszeit, seit er wieder in Berlin war. Das Arbeitsamt machte zwar häufiger Druck als früher, aber er hatte gelernt, damit umzugehen. Eine Ärztin, eine Empfehlung von Hotte, hatte ihn bis auf Weiteres krankgeschrieben. Für die Zeit danach bot sie an, ihm mit einem Gutachten behilflich zu sein. Bei seinem Krankheitsbild sei eine Umschulung in einen anderen Beruf mehr als angeraten. Scholle hatte genickt und gelächelt. Umschulung in einen anderen Beruf? Warum nicht. Er hatte schon öfter darüber nachgedacht. Er lief die Wilhelmstraße entlang. Das mit dem neuen Beruf war keine schlechte Idee. Er ging in den Supermarkt an der Ecke zur Mohrenstraße, kaufte sich etwas zu essen, ein paar Flaschen Bier und eine Zeitung.

Und weil es ein warmer und sonniger Tag war, setzte er sich nebenan in die Imbissbude, bestellte eine türkische Pizza und ein Pils und begann, den Stellenmarkt der Zeitungen zu lesen. Es beruhigte ihn, dass er im Moment nicht wirklich etwas suchte. Er wollte sich nur orientieren, deshalb sah er die Anzeigen durch. Es gab jede Menge Jobs. Aber es fühlte sich alles wie etwas Vorübergehendes an. Nichts, was ihm wirklich eine dauerhafte Perspektive bot. Wenn er noch einmal von vorn begann, dann sollte es nicht nur etwas sein, mit dem er die nächsten Wochen und Monate herumkriegte. Dann sollte es etwas Solides sein. Etwas, in dem er Karriere machen und aufsteigen konnte. Ein Job, in dem er bis zur Rente ein Auskommen haben würde. Etwas Beständiges. Wie den Job im Baukombinat. Nur eben ohne Bau und ohne dieses abrupte, perspektivlose Ende.

Scholle aß die Pizza, nippte an seinem Bier und las. Die lukrativen Jobs waren alle in der Finanzbranche angesiedelt. Geld, Aufstiegschancen. Warum nicht, dachte er. Ihm fiel das Gutachten wieder ein, das ihm die Ärztin angeboten hatte. Sicher, es war ein gewaltiger Sprung vom Baufacharbeiter zum Finanzberater. Aber irgendetwas musste er ja machen, wenn es auf dem Bau nicht mehr ging. Er wunderte sich selbst, wie forsch er mit einem Mal wurde. Er trank aus und probierte, ob es schon reichte, um den Frauen hinterherzusehen. Neuer Job, neue Petra. Allein ihr Name ließ ihn zusammenzucken. Es war zu früh. Scholle sah woanders hin.

Ihm gefiel es, hier in diesem Imbiss zu sitzen und bei einem Bier über seine Zukunft nachzudenken. Es war schließlich nicht irgendeine Straßenecke, es war nicht irgendeine Imbissbude. Wenn Scholle den Kopf nach links wendete, sah er die Treuhandanstalt. Geradeaus wuchsen die Hochhäuser am Potsdamer Platz in den Himmel. Und rechts in der Imbissbude, über dem Dönerspieß und neben dem Ofen mit den Grillhähnchen, hingen großkopierte Geldscheine, die von Promis, die meisten von ihnen Politiker, unterschrieben worden waren. Alle waren sie hier gewesen. Es hieß, dass Helmut Kohl, wenn er mal in Berlin war, hier seine Hähnchen für zwischendurch holte. Scholle nahm jedenfalls an, dass er sich Hähnchen holte. Mit einem kleckernden Döner konnte er sich Kohl nicht vorstellen. Wie auch immer. Er saß in der Imbissbude der Bundesrepublik, dem Hoflieferanten. Hier aßen sie alle. Es hatte etwas von dem Brecht-Gedicht. Kohl und Scholle, vor den Brathähnchen waren alle wieder gleich.

Und so gesehen war das mit der Finanzbranche gar nicht mal allzu abwegig. In seiner Nachbarschaft, in den Häusern An der Kolonnade, zogen immer mehr SED-Leute aus und immer mehr Finanzleute ein. Die von der Treuhand zum Beispiel. Von denen wohnten die meisten hier. Die wichtigen. Das war doch wie eine Fügung des Schicksals. Erst, dass er die Wohnung bekommen hatte, und dann, wie sich alles entwickelte, was für Leute jetzt in seiner Nachbarschaft lebten.

Scholle trank noch ein Bier und begriff, dass er zwar arbeitslos war, sich aber dennoch auf dem aufsteigenden Ast befand. Allmählich reifte in ihm der Plan, wie er in der Finanzbranche Fuß fassen konnte. Er brauchte dieses Attest, dieses Gutachten seiner Ärztin überhaupt nicht. Er hatte es gar nicht nötig, bei irgendwelchen Behörden nach einer Umschulung zu fragen. Schließlich musste er auch sein Alter berücksichtigen. Er hatte keine Zeit mehr, sinnlos die Schulbank zu drücken. Für ihn gab es noch einen anderen, besseren Weg in die Zukunft. Und der führte über seine Nachbarschaft. Alles, was er brauchte, waren die richtigen Kontakte. Jemand, der ihn hineinbrachte, bei dem er eine Weile mitlaufen und sich abschauen konnte, was er wissen musste. Netzwerken, das war jetzt sein Thema. Als der Kellner mit dem nächsten Bier kam, lieh sich Scholle einen Stift und notierte auf dem Zeitungsrand die Reihenfolge der Schritte, die er machen musste.

Als Erstes fiel ihm der Brief ein, den Petra und die Kinder geschrieben hatten. Die Kinder fragten nach ein paar Sachen, die er ihnen nachsenden sollte. Sie wohnen nun schon so lange in Süddeutschland und haben immer noch Sehnsucht nach den Sachen von früher, dachte Scholle. Die Idee, dass sie nach diesen Dingen nur fragten, weil sie nicht wussten, was sie sonst in den Briefen an ihn schreiben sollten, kam ihm nicht. Was er ihnen schickte, wanderte unbesehen in den Müll. Das alte Zeug war ihnen so peinlich, dass sie nicht einmal einen Trödler damit versorgen wollten. Scholle ahnte davon nichts. Ihm war das Hinterhersenden lästig, weil er alles mühsam zusammensuchen musste. Aber natürlich tat er es, wenn es für seine Kinder so wichtig war. Er wollte es sofort erledigen, wenn er nach Hause kam. Dann hatte er den Kopf frei für die wichtigen Dinge.

Der nächste Punkt war: Kontakte. Er wusste, dass die Treuhandleute da waren, aber er wusste nicht wo. Viele von denen, die herzogen, schrieben nicht mehr ihre Namen auf die Klingelschilder, sondern beließen es bei der Wohnungsnummer. Das mussten sie sein, die Treuhänder. Sie wollten nicht erkannt werden, aus Sicherheitsgründen. Deswegen die Nummern. Problem gelöst. Scholle überlegte, ob er sich auch hinter einer Nummer verstecken sollte. Auf die Treuhänder machte das bestimmt einen professionellen Eindruck.

Jetzt war er in Fahrt, also gleich weiter. Er bestellte ein Bier und einen Schnaps. Der nächste Punkt. Klamotten. Die Treuhandleute erkannte man an ihren Klamotten. In seinem Schrank brauchte er gar nicht erst nachzusehen. Das konnte er alles vergessen. Morgen, wenn er das Paket mit den Sachen für die Kinder zur Post gebracht hatte, würde er zum Alexanderplatz fahren und sich neu einkleiden. Im Kaufhof. Ein schwarzer Anzug? Für den Anfang zu protzig. Schließlich war er ja noch gar kein richtiger Finanzer. Was war mit Seide? War doch jetzt modern. Auf jeden Fall nicht so ein Ostgrau. Das musste mehr Pfiff haben. Wie wärs mit Flieder? Schwarze Hose, fliederfarbenes Hemd, dazu einen hellblauen Seidenblouson. Das passte. Nächster Punkt. Friseur.

Bestimmt waren seine Haare zu lang. Bei der Armee waren seine Haare immer zu lang gewesen. Immer ein paar Millimeter länger, als erlaubt gewesen war. So was Rebellisches ging heute natürlich nicht mehr. Heute musste alles korrekt sein, gar keine Frage. Weiter, fünfter Punkt. Fünfter Punkt? Scholle verschwamm die Schrift vor den Augen. Es war vielleicht besser, wenn er erst mal nach Hause ging. Die sollten hier mal Sonnenschirme aufstellen, dachte er, die Hitze macht einem ordentlich zu schaffen. Er rief den Kellner, zahlte und wankte mit seiner Zeitung und seinen Einkaufstüten über die Straße.

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Krimi-Propaganda zur DDR
Donnerstag, 14. November 2019, 15:13 Uhr
~5 Minuten Lesezeit

Krimi-Propaganda zur DDR

Kalte-Krimi-Krieger bei ARD und ZDF feierten mit Rachemorden ein Propagandafest zum Mauerfall.

von Hannes Sies

Foto: Fer Gregory/Shutterstock.com

Zum Jubiläum des Mauerfalls warten ARD und ZDF mit Anti-DDR-Krimis auf. Listige Geschichtsklitterung wird mit raffinierter Propaganda verbunden: Die DDR als korrupter Unrechtsstaat, regiert von Monstren und Verbrechern. „Das wird langsam langweilig. Wie wäre es einmal mit Vergangenheitsbewältigung zum Thema Bananen, liebe Tatort- und SOKO-Produzenten?“, fragt Filmkritiker Hannes Sies.

„30 Jahre liegt der Mauerfall im Herbst 1989 zurück. Der Berliner ‚Tatort‘ nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, über ein wenig bekanntes und in der ARD-Krimireihe noch nicht thematisiertes Stück Geschichte zu erzählen: In der DDR wurde die Todesstrafe verhängt. Drehbuchautorin Sarah Schnier sagt: ‚Im Zuge eines anderen Projekts hatte ich mich mit der DDR und ihrem Justizsystem befasst und dabei erfahren, dass es bis 1987 die Todesstrafe gab‘.“, schreibt die ARD zum Tatort vom 9. November 2019.

Drehbuchschreiberin Schnier liefert im Film auch gleich die Erklärung dafür, warum Todesurteile in der DDR so selten verhängt wurden. Natürlich nicht aus Gründen der Menschlichkeit oder wegen ihrer humanen Rechtsprechung: Die SED wollte in die UNO aufgenommen werden, „da hätte es sich nicht gut gemacht“. Na, so ein Glück für die DDR-Bewohner. Sonst hätte es wohl Todesurteile gehagelt für Republikflucht oder das Erzählen von Honecker-Witzen? Ach, hätte die Autorin nur mal mit ihren Eltern oder Großeltern über Politik geredet oder mit sonst jemandem, der sich dafür interessiert. Dann hätte man ihr wohl gesagt, dass die Todesstrafe der DDR kein Geheimnis war, auch nicht im Westen.

Dort in der BRD zogen Millionen-Blätter mit großen Buchstaben zum Beispiel über eine DDR-Richterin und spätere Justizministerin her. Hilde Benjamin, Schwägerin des von den Nazis verfolgten und in den Tod getriebenen Klassikers der Medientheorie, Walter Benjamin, wurde dort als „Blut-Hilde“ beschimpft.

Warum? Weil sie einige wenige Todesurteile gegen Nazi-Massenmörder verhängt hatte. Als die Familien-Biografie „Die Benjamins“ von Uwe-Carsten Heye diese Tatsachen in Erinnerung rufen wollte, geriet die öffentlich-rechtliche Journalistenzunft 2018 fast in Raserei:

Hilde Benjamin war, in den 20er-Jahren erstaunlich genug, Rechtsanwältin und Kommunistin. Sie bekämpfte die Nazis, überlebte und verurteilte in der DDR als Richterin nicht weniger als 67 Nazi-Verbrecher – nur zwei davon zum Tode –, also weit mehr als die gesamte, von Altnazis dominierte BRD-Justiz. Nur zwei Todesurteile, was BRD-Medien nicht abhielt, sie als „Blut-Hilde“ oder „Rote Guillotine“ zu diffamieren.

Ahnungslose Polit-Propaganda?

Von all dem weiß ARD-Autorin Schnier nichts, wohl auch nicht, dass die meisten Nazi-Massenmörder zu dieser Zeit in der BRD saßen und sich, Dank einer aus dem Nazi-Faschismus übernommenen Richterschaft, eines unbehelligten Lebens erfreuen durften.

Über die Abschaffung der Todesstrafe in Westdeutschland sagt man übrigens auch, dass sie vor allem eben jene Massen von Nazi-Mordschergen in Westdeutschland vor dem Strang bewahren sollte.

Der Film ist das größte unterschwellige Propagandamedium unserer Zeit. Er eignet sich hervorragend zur Verbreitung von Meinungen und Ideen. Filme können die Gedanken und Gewohnheiten einer ganzen Nation prägen (1).

ARD-Krimischreiberin Schnier lässt einen greisen DDR-Richter auftreten, der aus Zorn über ein nicht vollstrecktes Todesurteil einen ebenfalls greisen Dreifachmörder Jahrzehnte später mit einem Genickschuss hinrichtet.

Gelungene Vergangenheitsbewältigung von DDR-Unrecht? Ein Beitrag zur Völkerverständigung zwischen Ost- und Westdeutschen? Oder eher Anti-DDR-Propaganda zur Ablenkung von westdeutschem Unrecht, Nazi-Massenmörder unbehelligt zu lassen? Oder von Vereinigungs-Kriminalität: Millionen DDR-Bürger per Abwicklung ihrer Betriebe ins Elend zu stürzen, damit ein paar Treuhand-Gauner sich eine komplette Volkswirtschaft unter den Nagel reißen können? Auch im TV-Krimi meinen die sich als Sieger dünkenden offenbar, die Geschichte schreiben zu können, wie es ihnen beliebt.

ZDF jagt DDR-Korruption: SOKO SED

Noch wilder treibt, zeitgleich geschaltet mit der ARD, das ZDF seine politische Propaganda gegen die DDR: „Der vierte Mann“ als gemeinsamer Fall für die SOKOs Wien und Leipzig. Dort wird tendenziell die DDR als eine Art Mafia-Staat dargestellt, dessen sozialistische Wirtschaft darin bestand, mit Gaunern im Westen krumme Geschäfte zu machen, etwa wertvolle Geigen kriminell zu verhökern.

Beim ZDF heißt es dazu: „Ein entführter Musiker und seine verschwundene Geige bilden den Auftakt zu einer Mordserie, deren Opfer tief in Geschäftsverbindungen zwischen der DDR und Österreich verstrickt waren.“

Dabei strickt sich die dürftige Rache-Story um eine besoffene Funktionärsclique der DDR-Außenhandelsfirma, die mit Wien schmutzige Geschäfte machte und nebenher eine junge Musikerin vergewaltigte. Die stürzte in den Tod, ihr Gatte, der damals Zeuge des Verbrechens werden musste, rächt sich Jahrzehnte später blutig an den Tätern.

Aufarbeitung von Geschichte? Innerdeutsche Völkerverständigung? Oder eher eine öffentlich-rechtliche Hass-Mail an die sozialistische Vergangenheit? Wie der Vater der modernen Propaganda, Edward Bernays, feststellte: Der Film ist heute ein probates Mittel der ideologischen Verhaltenssteuerung.

Bernays war Neffe von Sigmund Freud und setzte modernste psychologische Manipulation ein. Zuerst einmal benannte er sein Arbeitsgebiet Propaganda um in „Public Relations“. Um Schinken zu verkaufen, erfand der PR-Pionier das „american breakfast“ und um den Massenmord an der Bevölkerung Guatemalas zu bemänteln, erfand Bernays die kommunistische Gefahr (neu): Die United Fruit, heute Chiquita, wollte ihre von der gewählten sozialistischen Regierung Guatemalas verstaatlichten Bananen-Plantagen zurück haben.

PR-Industrie und CIA propagierten und inszenierten einen Bürgerkrieg, einen Putsch und die Reprivatisierung der Plantagen. Der Westblock, inklusive BRD versteht sich, konnte weiterhin schöne billige Bananen essen. Vom Blutbad dahinter erfuhren die Westdeutschen bis heute nichts – schon gar nicht in Krimis auf ARD und ZDF. Wie wäre es einmal mit Vergangenheitsbewältigung zum Thema Bananen, liebe Tatort- und SOKO-Produzenten?


Quellen und Anmerkungen:

(1) Edward Bernays, Propaganda: Die Kunst der Public Relations

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Blühende Landschaften
Donnerstag, 14. November 2019, 15:00 Uhr
~23 Minuten Lesezeit

Blühende Landschaften

Altkanzler Helmut Kohl hatte den Ostdeutschen blühende Landschaften versprochen — und wohl vergessen, anzumerken, dass er damit Friedhöfe meinte.

von Michael Schneider

Foto: ArTono/Shutterstock.com

Die Wende hatte — neben tragischen — gewiss auch komische Seiten. Michael Schneider hat die Zeitstimmung in seinem Theaterstück „Blühende Landschaften — eine deutsche Farce“ eingefangen. Wir erleben in vier ausgewählten Szenen, wie Närrinnen und Narren aus Ost und West ihr Possenspiel aufführen. Vergnügliche, aber auch bittere Wahrheiten kommen ans Tageslicht ...

1. Szene: Monopoly

Im Hintergrund der Bühne steht ein Thron. Davor eine, fast die ganze Bühne einnehmende Spielfläche, auf der — wie im Monopoly — die nach Farben unterschiedenen Straßenzüge Ost-Berlins im Quadrat angeordnet sind. Bankier Scheffler, der Industrie-Manager Rauler und der Immobilientycoon Jesewitz fungieren selbst als Spielfiguren, indem sie nach jedem Wurf die entsprechende Zahl der Spielquadrate abschreiten. Scheffler verwaltet die Bank, die er wie einen Bauchladen mit sich herumträgt. Neben dem Thron, am Rande des Spielfeldes, sitzt der West-Narr zwischen einem Haufen Flicken.

Rauler: (würfelt) Zwölf! Alexander-Platz!

Jesewitz: Glückspilz! Beste Lage! Mietpreise wie in Tokio!

Rauler: Kostet 190.000. Kauf ich.

Scheffler: Mit oder ohne Fernsehturm?

Rauler: Natürlich mit!

Scheffler: Kostet noch mal 100.000.

Rauler: (zählt das Geld ab und gibt Scheffler die Scheine)

Scheffler: (würfelt) Sieben! Lenin-Allee — 60.000! Kauf ich!

Rauler: Nicht grad die ideale Anschrift für ‘ne Bankfiliale.

Scheffler: Du weißt doch, Rauler! Nicht auf den Straßennamen, auf den Standort kommt es an! Der Name lässt sich ändern. In fünf Jahren wird der Kunde, wenn er hier sein Geld abhebt, nicht mehr an den Bolschewisten-Führer, sondern an das führende Bankhaus denken!

Rauler: Nach dem Motto: Aktionäre aller Länder vereinigt Euch! (Alle drei lachen)

Jesewitz: (würfelt) Neun! — Palast der Republik. 90.000. Was soll ich denn mit dem?

Scheffler: Na, abreißen natürlich! Dieses Symbol des Unrechtsstaats. Und außerdem: Solch ein Grundstück auf der Spree-Insel ist doch Gold wert!

Jesewitz: Da hast du freilich Recht!

Rauler: (würfelt) Elf. Gemeinschaftskarte! Einkommenssteuerrückzahlung! Ziehe
10.000 Mark ein!

Scheffler: Wer hat, dem wird gegeben!

(Er händigt Rauler ein Bündel Scheine aus; dann würfelt er selbst)

Fünf! Rosa Luxemburg-Platz. Kostet 20.000. Kauf ich. Der ist billig. In meinem Alter denkt man eigentlich an den Bilanzabschluss. Doch seit dem Fall der Mauer hat alles sich bei mir geändert. Es war, wie sag’ ich’s?, ein Verjüngungsschub, als ob für mich an diesem Tag ‘ne zweite Raketenstufe würd’ gezündet. Die Bilder von den Freudentänzen auf der Mauer brachten in mir eine Extra-Saite zum Klingen. Es half alles nichts: Ein paar Tränen musste ich zerdrücken.

Rauler: Als ich die Fernseh-Bilder sah, dacht’ ich erst an Science-Fiction. Doch
als ich begriff, der Jubel dieser Menschen, die in ihren überfüllten Trabis
durch die offenen Grenzen strömten und nur noch „Wahnsinn! Wahnsinn!“ stammeln konnten — all dies war echt und keine Inszenierung, da heult’ ich wie ein Schlosshund!

Scheffler: ‘S war ja auch ein Glückstag für die Börse. Doch dann plagte mich nur ein Gedanke: Wie schrecklich, wenn ein andrer vor mir da wär!

Jesewitz: Wo? (Er würfelt)

Scheffler: In Dresden, meiner Heimatstadt!

Jesewitz: Drei! Frei parken! — Und? Warst du der erste?

Scheffler: Und ob! Sogar noch vor der Deutschen Bank! An den Frankfurt-Dresden-Express ließ ich sogleich ‘nen eigenen Waggon mit allen Leitern der Filialen hängen.
Auf dem Konferenztisch lag die Karte mit den eingetragnen Netzen unsrer ostdeutschen Filialen v o r dem Krieg, die wir mit schwarz-rot-goldnen Fähnchen flugs
markierten, während reichlich floss der Schampus.

Rauler: Akkurat, Scheffler, akkurat!

Scheffler: Und als der Zug in Dresden ankam, nu! Wie süß glong mir des heimotliche Sächssch! Wer ist dran?

Jesewitz: Du selbst!

Rauler: (würfelt) Neun! Friedrichstraße. 340.000. Kauf ich! Die wird Berlins Fifth Avenue! Gleich nach dem 9. November kamen sie, unsre Brüder und Schwestern aus der Zone, durch unsre Supermärkte wandelnd wie in Trance, und kauften die Regale leer.

(Alle drei singen nach der Melodie der „Internationale“): „Völker, leert die Regale!“

Rauler: Werbung war ganz überflüssig: Unsre Markennamen warn geläufger
ihnen als die Namen ihrer Bezirks-Sekretäre oder Bürgermeister. Selbst Ladenhüter
wurden zum Verkaufshit: Gummibärchen, Micky-Mouse und Pornos, Damenkleidung
aus der vorletzten Saison — ‘s ging weg wie warme Semmeln und zum dreifach‘ Preis!

West-Narr: Würd’ sichs nicht um Deutsche handeln, würd’ man sagen: „Unsre Neger im Osten!“

Scheffler: Hört! Hört! Der Narr findt seine Sprache wieder!

Rauler: Doch ist sein Witz sehr dünn geworden!

Jesewitz: Dünn und dämlich!

Scheffler: (würfelt) Acht! Ereignisfeld. 300 DM Strafe für zu schnelles Fahren!

Rauler: Na, Scheffler, das trifft den richtigen!

Scheffler: Dabei fahr ich im Schneckentempo durch die Zone! 140! Was ist das schon für’n BMW!

Jesewitz: (würfelt) Acht — Clara Zetkin-Straße. 30.000. Wer war denn Clara Zetkin?

Scheffler: War die nicht ‘ne sowjetische Spionin?

Jesewitz: Danke! Kein Bedarf.

Rauler: (würfelt) Fünf! Karl Liebknecht-Straße. 50.000. Kauf ich! In wengen Wochen hatten unsre Handelsketten, Versicherungen und Verlage — da war das einig Vaterland noch gar nicht spruchreif — den Markt erobert zwischen Elb und Oder. ‘S war wie ein Blitzkrieg ohne Waffen.

Scheffler: Und uns steht ein Kreditgeschäft ins Haus wie noch keines seit Kriegsende. (würfelt) Acht! Dimitroffstraße. 80.000. Kauf ich.
(zu Rauler) Verkaufst Du die Karl-Liebknecht-Straße mir? Dann hätt ich den ganzen Straßenzug!

Rauler: Wenn du mir die Rosa-Luxemburg gibst! Musst schon noch was zulegen, Scheffler! ‘S ist schließlich eine Billigstraße.

Scheffler: Etwas mehr Pietät bitte! ‘S geht immerhin um die First Lady im
Arbeiter- und Bauernparadies!

Rauler: Pietät hin oder her! Es wird ein Billig-Hotel, wenn ich auf sie baue!

Scheffler: Also gut! Die Straße der Befreiung kriegst Du obendrauf!

Rauler: Befreiung von was?

Scheffler: Na vom Faschismus. (Sie tauschen die Karten)

Jesewitz: (würfelt) Zehn! Das E-Werk. 50.000. Kauf ich. Jetzt hab’ das Monopol ich auf dem Strommarkt.

Scheffler: Du! Ich verpetz dich beim Kartellamt.

Jesewitz: Du weißt doch, das drückt beide Augen zu! Rauler: (würfelt) Drei.... O!

Jesewitz: Ab nach Bautzen!

Rauler: Womit hab ich das verdient? (Er geht ins Gefängnis.)

2. Szene: Treuhand

Im Hintergrund eine große ostdeutsche Landkarte, die mit schwarzen Steckkreuzen gespickt ist. Daneben eine Wandtafel mit der Überschrift: SCHLUSSVERKAUF. Auf ihr sind die Namen von volkseigenen Betrieben, Kombinaten, Grundstücken, Forsten und Seen aufgelistet, die zum Verkauf angeboten werden. Rauler, jetzt Chef der Treuhand-Anstalt, streicht die Namen der bereits verkauften Objekte durch. Die beiden Narren sitzen als stille Beobachter in der ersten Reihe des Parketts.

a) Die Bürgerrechtlerin Johanna tritt auf mit einer Liste in der Hand. Mit ihr der Chor, der sich am Bühnenrand postiert.

Johanna: Hab’ ich ihn endlich, sogar lebend, den großen Makler und Konkursverwalter!

Rauler: Ah, Johanna! (spöttisch) Was führt die hehre Streiterin für die
Gerechtigkeit in diese Niederungen?

Johanna: Ich komm im Auftrag unseres Bürgerforums. Es geht um drei Betriebe, unentbehrlich fürs wirtschaftliche Überleben der Region, und von unabhängigen Gutachtern als sanierungsfähig eingestuft. Hier die Gutachten! Die Treuhand will sie trotzdem schließen. Das Bürgerforum bittet Euch darum, die Entscheidung rückgängig zu machen.

(Rauler überfliegt die Gutachten)

West -Narr: Wie die Sünde v o r dem Fall kommt vor der Sanierung
die Privatisierung. Der Verkauf folgt eilig. Denn Eigentum ist heilig!

Rauler: Schrottbetriebe und Umweltschleudern kann man nicht saniern. Man m u s s sie schließen, besser heut’ als morgen!

Johanna: Sieht ja jeder ein! Doch d a s hier — die Gutachten bezeugen’s
— sind Betriebe mit Substanz.

Rauler: (ironisch) Substanz! — mit Maschinen aus der Vorkriegszeit. Und selbst wenn sie jüngeren Datums sind, nicht der Substanz-, der Marktwert ist entscheidend:
Rentabilität, Auftragslage und so weiter! Im Übrigen hat die Treuhand Gutachter genug!

Johanna: Wie unabhängig sind sie?

Rauler: Sind ausgewiesene Experten!

Johanna: Die — welch’ merkwürdiger Zufall! — zumeist auf der Gehaltsliste von Großkonzernen stehn.

Rauler: Was willst du damit sagen?

Johanna: Ich sage nur: Bischofferode!

Chor:

Bischofferode! Unvergessliches.
Wo das Volk zum letzten Mal den Aufstand gewagt!
E i n Jahr im Hungerstreik!
Nur Tee und Wasser zwei Wochen lang,
danach ins Krankenhaus, wo mit dem Wieder-Essen-Anfangen
die richtige Qual erst begann. Und dann von vorn.
Solidaritätsadressen aus aller Welt,
Reporter und Fernsehteams aus aller Welt
strömten ins Eichsfeld,
wo die Kumpels dem alle Ehre machten,
nach dem ihre Grube benannt: Thomas Münzer!

Rauler: (zum Chor) Keine neuen Heldenstorys bitte!

Chor: Doch was vermochten sie schon
gegen die geschlossene Front aus Konzernen und Politik!
Alleingelassen von den Kumpels im Westen,
die um die eigenen Arbeitsplätze nur bangten,
mussten am Ende sie kapitulieren.
Jetzt sind gesprengt die Schornsteine
und geflutet mit Lauge die Grube.
Dabei hätte der Vorrat des besten Kalisalzes der Welt
noch für fünfzig Jahre Abbau gereicht.

Johanna: Die Schließung dieses Bergwerks, drittgrößter Kali-Produzent der Welt,
zeigte beispielhaft, wie man eine sieche Kali-Firma aus dem Westen auf Kosten einer ostdeutschen saniert. Das nennt man vornehm „Marktbereinigung“!

Rauler: Unsinn! Alles Lügenpropaganda! Und man weiß, aus welcher Eck’ die kommt.

Johanna: Also bleibt’s beim Aus?

Rauler: Es bleibt dabei! (Er gibt ihr die Gutachten zurück)

Johanna: Sprach das Politbüro der Zentralen Marktwirtschaft.

Rauler: Du machst Witze!

Johanna: Ganz und gar nicht! Genauso selbstherrlich wie die abgedankten Fürsten des Politbüros entscheidet Ihr über Wohl und Wehe von Millionen, Tod und Leben ganzer Landstriche. Keine Gewerkschaft, kein Betriebsrat, auch kein Bürgerforum, niemand u n t e n, den Ihr o b e n mitentscheiden ließet, Ihr Sonnenkönige der Treuhand! Euer Zepter ist die Abrissbirne.

Rauler: Solang’s um Menschenrechte geht, Johanna, hör ich dich gern und bin ganz Ohr.

Johanna: Es geht um das Menschenrecht auf Arbeit!

Rauler: Doch tu mir den Gefall’n und misch dich nicht in Dinge ein, die einer Pfarrerstochter von Haus aus fremd sein müssen. Du entschuldigst. Ich bin sehr beschäftigt.

Johanna: Man sieht’s. Wie viele Kreuze setztest du heut’ wieder in die Landschaft? Wie vielen Unternehmen schnittet Ihr den Lebensfaden ab? Unsre Revolution war sanft und friedlich. Und Ihr lobtet uns dafür! Wir ahnten nicht, dass Ihr danach so viel G e w a l t uns antut!

Rauler: Was für Gewalt? Du spintisierst, Johanna!

Johanna: Jedem D r i t t e n raubtet Ihr die Arbeit! Ist das etwa nicht Gewalt?

Rauler: Was du Gewalt nennst, ist Notwendigkeit im Wirtschaftlichen, hat mit Effizienz und höherer Produktivität zu tun, dem Fundament eures künftigen Wohlstands.

Johanna: Was Effizienz für Euch, heißt für uns Armut. Seit der Wende verloren zwei Millionen Frauen den Job. Die Arbeit war geschützt im alten Staat.

Rauler: Eben darum ging er auch bankrott! Wenn dreifach ist besetzt jeder Bürostuhl, jede Pförtnerstub’, ist’s der Ruin!

Johanna: Ihr denkt immer bloß in Zahlen und Prozenten. Effizienz, Gewinn
und Produktivität sind eure Götter! Die Menschen, die Ihr auf die Straße setzt, die interessier’n Euch einen Dreck!

Chor:
Täglich begleitet uns jetzt die Angst,
die vorher wir nimmer gekannt:
Zu verlieren die Arbeit.
Sie sicherte nicht nur das tägliche Brot uns
und die bescheidene Wohnung.
Sie gab uns auch das Gefühl, etwas w e r t zu sein
und W e r t v o l l e s in der Gemeinschaft zu leisten.
Jetzt aber fristen viele ihr Dasein
nur als moderne Taglöhner noch, „Zeitarbeiter“ genannt,
oder werden von einer Maßnahme des Amtes zur nächsten geschoben.
Wer fühlt sich da noch etwas w e r t?

Rauler: Warum ging denn Euer Staat bankrott? Weil Euer viel gerühmtes Sozialsystem nur noch zu finanzieren war, indem der Staat sich völlig überschuldete.

Johanna: Er war moralisch bankrott, jedoch nicht pleite! Wie selbst die Deutsche Bundesbank erklärte. Bankrott ging er erst durch die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion!

Rauler: Dass ein Wechsel des Systems, für den die Mehrheit deiner Landsleute
in freien Wahlen sich entschieden, manche Härten mit sich bringt, ist mir bewusst.
Wenn vor den Toren, sogar in den Fluren dieses Hauses ganze Belegschaften
für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstrieren, glaubst du, das lässt mich kalt?
Stell dir vor, du wärst an meiner Stelle: Würdest du Betriebe, die dem Wettbewerb
nicht standhalten können, künstlich am Leben halten und dafür zig Milliarden, das Geld der Steuerzahler, zum Fenster rauswerfen? … Jetzt schweigst du!

Johanna: Warum glaubt Ihr eigentlich, dass es bei uns nichts, aber auch gar nichts Erhaltenswertes gibt?

West -Narr: (ironisch) Du vergisst das Ampelmännchen und den grünen Pfeil!

Johanna: Ich will’s dir sagen, Rauler! Weil Ihr aus dem Westen die DDR bis heute nicht als Teil der deutschen Geschichte akzeptiert habt. Sie ist Euch immer noch ein Fremdkörper, den man verächtlich machen, ja, abstoßen muss.

Rauler: Du übertreibst maßlos!

Johanna: Von Anfang an stand für Euch fest, dass der Westen sich nicht ändern muss. Den Osten betrachtet Ihr wie ein missratenes Kind, das man nachträglich erziehen muss. Er soll genauso werden wie der Westen. Ihr merkt nicht mal, dass unversehens Ihr manches schon kopiert: Die Poliklinik — nun das Ärztehaus. Das Babyjahr der DDR — Erziehungsurlaub gibt es jetzt. Die Frau’n bei euch woll’n auch nicht an den Herd zurück und schrein nach Kinderkrippen, die wir längst hatten. Wie früher die Kolonialherren von den Eingeborenen erwartet Ihr ganz selbstverständlich, dass wir Eure Werte, Arbeits- und Lebensstile
schleunigst übernehmen. Mitsamt Euren schwachsinnigen Fernseh-Serien!

Rauler: Du musst sie ja nicht anschaun, Johanna! Was die „Kolonialherren“ angeht — die pflegen in ihren Kolonien keine demokratischen Wahlen abzuhalten, geschweige denn die Subsistenz-Wirtschaft der Eingeborenen mit Milliarden zu alimentieren!

Johanna: So weit ist es auch nicht her mit Eurer Wahlfreiheit. S’ ist wie mit den
Waschmitteln: Bunte Verpackung, steht immer was andres drauf, der Inhalt ist nahezu derselbe!

Rauler: (kopfschüttelnd) Noch immer kein Vertrauen in die Demokratie!

Johanna: (heftig) Woher denn auch, wenn wir sie nur als f r e m d b e s t i m m t erfahr’n!

Rauler: Du redest so, als wünschst du dir den alten Staat zurück.

Johanna: Im Gegenteil! Bin froh, ihn los zu sein. Ich red’ auch nicht vom Staat, ich rede von den Menschen. In eurer Arroganz könnt Ihr es nicht begreifen, dass hier ‘ne eigene Kultur entstanden ist.

Rauler: Meinst du Duckmäuserei, Obrigkeitshörigkeit und was sonst die Diktatur an Schäden hinterließ?

Johanna: Etwas anderes fällt Euch nicht ein, wenn Ihr vom Osten sprecht?

Rauler: Wieso glaubst du, dass Ihr ganz anders seid als wir im Westen? Wir sprechen doch die gleiche Sprache, haben — bis auf die letzten vierzig Jahre — die gleiche Geschichte und Kultur.

Johanna: Die DDR war ein egalitäres Land mit eingeschränkten Freiheiten:
Viel égalité, wenig liberté. Bei euch ist’s umgekehrt. Die Einkommensunterschiede war’n gering — ein Kombinatsdirektor verdiente höchstens viermal so viel wie ein Facharbeiter. Kaum privates Eigentum an Produktionsmitteln, kein Streit um Erbschaften mangels Masse. Es gab noch so was wie Gemeinsinn und Gemeinschaft. Geld stand nicht an erster Stelle. Das ist u n s e r Kapital!

Rauler: (spöttisch) Leider lässt es sich nur schwer aufrechnen gegen echtes Kapital!

Johanna: Wie soll denn unsereiner ohne eignes Kapital sich eine Wohnung
kaufen, geschweige denn ein Unternehmen, da doch die Bank sich mangels Sicherheiten weigert, uns etwas zu leihen? Aber die Großverdiener aus dem Westen, die eine Immobilie hier erwerben, können ihre Steuer fast auf Null
herunterrechnen. Ist das etwa gerecht?

Rauler: Ihr solltet lieber dankbar sein, wenn einer überhaupt das Risiko eingeht,
zu investier’n in diese Wirtschaftsleiche.

Johanna: Risiko — dass ich nicht lache! Betriebe für ‘ne Mark. Und Fördermittel noch und noch! Die Immobilie DDR, Du weißt es doch am besten, Rauler! ist ‘ne wahre Goldgrube!

Rauler: Die mit Altlasten gesegnet ist: Die Mondlandschaft um Bitterfeld,
die chemische Hölle von Leuna — von der Wismut und ihren strahlenverseuchten Abraumhalden gar nicht erst zu reden. ‘S ist, als investiert man in den Orkus!

Johanna: Fragt sich nur: Wie kommt’s, dass grad der Orkus wurd’ zum Eldorado für Grundstückshaie, Spekulanten und Betrüger aller Art?

b) Zwischenspiel
Die Ost-Närrin, jetzt im Outfit einer Sparkassen-Angestellten, nimmt auf einem Drehstuhl hinter einem Schreibtisch Platz. Auftritt West-Narr in edlem Zwirn.

Ost-Närrin: Was kann ich für Sie tun?

West-Narr: Spreche ich mit der Geschäftsführerin der Sparkasse Halle?

Ost-Närrin: Der Chef ist gerade auf Dienstreise. Ich vertrete ihn.

West-Narr: Ich möchte einen Kredit beantragen.

Ost-Närrin: In welcher Angelegenheit?

West-Narr: Es geht um die Gründung einer Fluglinie.

Ost-Närrin: Einer Fluglinie? … Und wo?

West-Narr: In Teutschenthal, 12 Kilometer westlich von Halle.

Ost-Närrin: Gibt es denn dort einen Flughafen?

West-Narr: Noch nicht. Aber die Planungen für den Flughafen sind bereits in vollem
Gange. Es werden mindestens 150 Arbeitsplätze entstehen.

Ost-Närrin: Das ist ja großartig! Überhaupt könnten wir einen zweiten Flughafen in der Nähe von Halle gut gebrauchen... Welche Fluggesellschaft vertreten Sie denn?

West-Narr: Keine. Ich bin Forscher. Und möchte die Fluglinie vor allem für meine Forschungsreisen nutzen. Und für den Dreh meiner Filme.

Ost-Närrin: Sie machen Filme? (jetzt echt interessiert)

West-Narr: Tierfilme. Mein Spezialgebiet sind Löwen und Hyänen der afrikanischen
Savanne.

Ost-Närrin: Hyänen! Das ist ja interessant! Wissen Sie, dass ich leidenschaftlich gerne Tierfilme sehe? „Serengeti darf nicht sterben!“ gehört zu meinen absoluten Lieblingsfilmen.

West-Narr: Ein großartiger Film — in der Tat. Mein Großvater hatte ja auch eine ganz eigene Methode, um hautnah an die Tiere heranzukommen…

Ost-Närrin: Ihr Großvater? … Sprechen Sie etwa von Bernhard Grzimek?

West-Narr: Ich bin sein Enkel. (Er zückt seinen Personalausweis) Stephan Grzimek!

Ost-Närrin: (fassungslos) Das gibt’s ja nicht… An welch’ ein Kreditvolumen dachten Sie denn?

West-Narr: Circa … 64 Millionen.

Ost-Närrin: 64 Millionen? Das ist kein Pappenstiel.

West-Narr: Ich muss ein Passagierflugzeug und zwei Transportflugzeuge kaufen. Für die Käfige.

Ost-Närrin: Ach! Sie fangen die Löwen und Hyänen auch ein?

West-Narr: Großauftrag vom Frankfurter Zoo … Dazu das Equipment, die Kosten für die Wartung, Gehälter für Piloten, das Flug- und Bodenpersonal — da kommt schon was zusammen!

Ost-Närrin: Natürlich!

West-Narr: Was die Sicherheiten für die Sparkasse und die Treuhand angeht …

Ost-Närrin: Ach, Herr Grzimek. Da machen Sie sich mal keine Sorgen! Ein Mann aus solch einer Familie, mit solchen Aufträgen —, da ist doch Sicherheit vorhanden. (Während sie eine Sektflasche entkorkt) Falls alle Stricke reißen, können wir ja Ihre Käfige mit den Löwen und Hyänen pfänden lassen; nicht wahr? (Sie lacht. Er fällt in ihr Lachen ein)… Wollen Sie die 64 Millionen lieber auf Ihr Konto überwiesen oder in bar ausgezahlt haben?

West-Narr: Bar wäre mir lieber!

Ost-Närrin: (stößt mit ihm an) Herr Grzimek! Es ist mir eine Ehre!

c) Fortsetzung der Hauptszene

Johanna: Hättet ihr die Subventions-Milliarden für die Sanierung der entwicklungsfähigen Betriebe aufgewandt, statt sie Betrügern und windigen Geschäftemachern in den Rachen zu werfen, stünde Ostdeutschland heut’ anders da.

Rauler: Du redest wie der Blinde von der Farbe. 16.000 Betriebe stehen zum Verkauf. Dass unter den Käufern auch Ganoven und Betrüger sind, das ist bei einer solchen Größenordnung gar nicht zu vermeiden, wenn man keinen Polizeistaat will. Hast ja keinen Schimmer, was es heißt, eine Staats- in eine Marktwirtschaft zu überführen!

Johanna: Welch verrücktes Dogma zwingt Euch denn, alles zu privatisieren, was vorher öffentliches oder staatliches Eigentum gewesen?

Rauler: Weil öffentliche Unternehmen, die nicht dem Wettbewerb ausgesetzt sind,
wie die Erfahrung lehrt, zu Misswirtschaft, Ineffizienz und Schlendrian führen. Auch war es E u e r ausdrücklicher Wunsch, auf schnellstem Wege die Staatsbetriebe in
Kapitalgesellschaften zu überführen. Die Treuhand — darf ich dich daran erinnern! —
ist von der letzten DDR-Volkskammer noch gegründet worden.

Johanna: (heftig ) Ja! Aber zur B e w a h r u n g unsres Volksvermögens, nicht zu seinem kompletten Ausverkauf! Das ist doch die Perfidie dabei: Dass wir beim Ausverkauf unsres Vermögens nicht mal mitbieten können! Überhaupt sagt einem schon der gesunde Menschenverstand, dass die Devise „Alles muss raus!“ Die Preise stürzen lässt ins Bodenlose. Kein Wunder, dass unsre Betriebe zu Spott- und Schleuderpreisen verhökert werden — zumeist an Eure eig’ne Klientel im Westen! Erst haben wir für Euch die Kriegsschuld mitbezahlt gegenüber der Sowjetunion und mussten Demontagen noch erdulden, als Ihr schon Einzug hieltet in das Wirtschafts-Wunderland. Und jetzt bezahl’n wir noch einmal, weil wir den Kalten Krieg verloren haben.

Rauler: Deine Bitterkeit, Johanna, macht dich ungerecht, dein Selbstmitleid dich blind. W i r sind’s doch, wir „räuberischen“ Wessis, die jetzt für Euch zahl’n und bluten müssen! Der Staat nimmt jährlich mehr als hundert Milliarden Schulden auf, damit Ihr endlich wieder auf die Beine kommt und Ostdeutschland modernisiert wird: Die neuen Autobahnen, Schienenwege, Flughäfen und Kabelnetze — was glaubst du, was das kostet?

Johanna: Und welch tolles Geschäft für eure Banken und Konzerne! Während hier die Zahl der Arbeitslosen von Null auf vier Millionen anstieg, hat die Zahl der bundesdeutschen Millionäre sich auf mehr als eine Million verdoppelt!

Rauler: Die Milliarden an Transferleistungen für die Arbeitsämter und Rentenkassen
sind kein „Geschäft“. Das ist organisierte, groß angelegte Solidarität.
Die Polen, Tschechen, Ungarn — sie beneiden Euch um so viel brüderliche Hilfe!

Johanna: Auch ich — wie jeder hier im Osten — entrichte meinen „Solidarbeitrag“.
Doch hättet Ihr nicht alles platt gemacht, gäb’s hier nur halb so viele Arbeitslosen, käm’ uns alle billiger die Einheit!

Rauler: Illusionen sind’s, Johanna, geborn aus altem Trotz und Ostalgie.
Schau endlich nach vorn, statt immer nur zurück! In zehn, zwanzig Jahren wird der deutsche Osten genauso prosperieren wie der Westen, werden Eure maroden Innenstädte vielleicht noch schmucker aussehen als bei uns.

Johanna: Nur werden sie dann nicht mehr uns gehören.

Rauler: Warum malst du immer nur in Schwarz? Und warum sieht und fühlt man sich im Osten Deutschlands eigentlich so gern als Opfer?

Immer fühlt ihr euch betrogen. Erst vom alten Staat, und jetzt vom neuen.
Wär’s nicht endlich an der Zeit, diese ewige Jammerei zu beenden und beherzt die Chancen zu ergreifen, die Euch die neuen, so lang verwehrten Freiheiten und Bürgerrechte jetzt eröffnen!

Johanna: Chancen! ... Was sind das für Chancen, wenn die von Euch Abgewickelten von einer ABM-Maßnahme zur nächsten geschoben oder vorzeitig mit karger Rente in den Ruhestand versetzt werden?

Jetzt, da uns’rer eignen Wirtschaftsbasis wir beraubt — wer und was sind wir denn noch? Eine abhängige F i l i a l w i r t s c h a f t, ein Volk von Angestellten und Transfer-Empfängern mit abnehmender Geburtenrate. Ganze Regionen und Dörfer veröden schon, weil’s keine Arbeit gibt, kein Bus mehr fährt, kein Arzt und keine Hebamme mehr da. Die Jungen und die Fitten — zumeist Frauen — sind längst abgehau’n nach Westdeutschland. Zurück bleiben die Alten und die Abgehängten. Wo so viel Leere ist in einem selbst und um einen herum, fühlt man sich gern stark im Rudel und als D e u t s c h e r! Ist man auch sonst nichts mehr — als Deutscher ist man wer!
Keinem Immobilienhai und keinem Spekulanten wird ein Haar gekrümmt.

Dafür macht man auf Asylbewerber Jagd! Entwertet, entwurzelt und sich selber fremd geht hier jetzt auf die böse Saat: Angst! Wut! Missgunst! Fremdenfeindlichkeit!
Ihr habt durch Euren rigorosen Kahlschlag den Boden dafür mitbereitet!

Rauler: Natürlich! Wir bösen Wessis sind an allem schuld! Du hast’s bis heute nicht verkraftet, Johanna, dass die hiesigen Bürger ihre Zukunft lieber bei uns im Westen suchten, statt Eurer Chimäre von einem „dritten Weg“ zu folgen
— eine bittere Enttäuschung, ich versteh’s, für die du einen Sündenbock jetzt brauchst: Und der heißt „Treuhand“!

Johanna: Weil ich den Finger leg auf die Misere, die Ihr angerichtet, werd ich jetzt als „Jammer-Ossi“, gar als Psychopathin abgestempelt. Das ist infam! (ab)

d) Die beiden Narren in der Seiten-Loge.

West-Narr: Woher kommt, weißt du’s?, das Wort privat?

Ost-Närrin: Nein! Doch hätt’ ich Lust jetzt auf ein Attentat!

West-Narr: Es kommt aus dem Lateinischen: privare. Und das heißt zu deutsch: berauben!

Ost-Närrin: Nach dem, was wir gehört’, tu ich’s gern glauben!

West-Narr: Und Ossi kommt von: Os, Ossis, der Knochen! Ossi-Land wird reprivatisiert.
Das heißt zu deutsch: Es wird bis auf die Knochen ...

Ost-Närrin: Hab schon kapiert!
So mutlos, hilflos fühlt’ ich mich noch nie.
Ich fürchte fast: Auch mich befällt die Ostalgie.
Seit der Belzebub dem Osten ausgetrieben,
können die Herrn des Westens schalten nach Belieben:
Den Sozialstaat abbau’n und erhöh’n die Steuern,
Löhne senken, nach Belieben feuern.

West-Narr: Bis zum Exodus die Umwelt ruinieren.
Straflos Krieg um Öl und Einflusszonen führ’n.

Ost-Närrin: Der nackte Egoismus triumphiert,
weil überall nur noch das Geld regiert.

West-Narr: Wie schon Thomas Münzer hat beklagt,
als den Aufstand mit den Bauern er gewagt:
„Sie haben dem Volk die Stimme geraubt
und an seiner Statt das Geld zum Herrgott gemacht!“-

3. Szene: Nobel-Restaurant — drei Jahre später
Rauler und Scheffler beim Diner.

Scheffler: Nächste Woche geht’s endlich in den Urlaub.

Rauler: Wieder auf die Kanaren?

Scheffler: Diesmal ist’s Mecklenburg.

Rauler: Mecklenburg?

Scheffler: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?
Ich habe mir dort einen See gekauft. Ein günst’ges Angebot der dortigen Kommune.

Rauler: Bei deinen Berater-Honoraren für die Treuhand müsst’ es schon der Große Wannsee sein.

Scheffler: (lacht) Jetzt kann ich endlich mal mit meiner Yacht lospreschen ohne Rücksicht auf die Segler.

Rauler: (mit Bitterkeit) Ihr habt’s gut! Verdient euch dumm und dämlich an der Einheit, während ich, das Gesicht der Treuhand, den Hass auf mich ziehe.
Scheffler: Wieso denn das?

Rauler: Was glaubst du, wie man sich fühlt, wenn man pro Woche eine Morddrohung erhält! Ich bin der Blitzableiter für den Volkszorn. Dabei führ’ ich doch nur die Bonner Direktiven aus. Der Abschlussbericht der Treuhand wird morgen der Öffentlichkeit vorgestellt.

Scheffler: Sind die Zahlen denn so düster?

Rauler: Die Behörde hat Verlust gemacht. Aus einem Anfangsvermögen von 600 Milliarden Mark, dem geschätzten Industrievermögen der DDR, wurde ein Schuldenberg von 245 Milliarden Mark.

Scheffler: Was! … Das ist ja eine bittere Bilanz!

Rauler: Noch bitt’rer ist die Bilanz der Privatisierung: Beim Verkauf der gesamten Ostwirtschaft wurden nur 34 Milliarden erzielt.

Scheffler: Nur 34 Milliarden? Wie ist das möglich?

Rauler: Nicht der Verkäufer, sprich die Treuhand, sondern die Käufer haben den Preis bestimmt.

Chor:
Wie! Unsre Fabriken, Bauten, Werften und Gruben,
samt dem verkauften Grund und Boden-
das alles zusammen hat nur s o w e n i g erbracht!?
Das kann doch nicht wahr sein!

Scheffler: Und wie viele von den verkauften Betrieben gingen an Ostdeutsche?

Rauler: Gerade mal fünf Prozent. Fünfundachtzig Prozent an westdeutsche Unternehmen und zehn Prozent an Ausländer.

Scheffler: (düster) Stoff für eine neue Dolchstoß-Legende nach dem Motto: Der Sieger nimmt alles!

Chor:
Ach, was haben sie mit uns gemacht?
Unsere reichen Vettern im Westen?
Und was haben w i r mit uns machen lassen
in unserem törichten Glauben,
dass alles bei ihnen viel besser sei als bei uns.
Wir haben nur auf die Schokoladenseite ihres Systems geschaut,
dessen hässliche Seite sie tunlichst vor uns verbargen.
Der Osten gehört jetzt dem Westen.
Und wir ließen es zu!

4. Szene: Platz mit einem abgerissenen Denkmal, von dem nur noch der Sockel und die Stiefel übrig geblieben sind.

Ost-Närrin: Schon wieder so ein abgeriss’nes Denkmal
im postkommunistischen Jammertal.
Hier stand Lenin zweifelsohne.

West-Narr: Das sagst du so im festen Tone.
Woher weißt du’s denn?

Ost-Närrin: Weil ich seine Schuhgröß’ kenn.

West-Narr: Und was stellt man da nun hin?

Ost-Närrin: Gar nichts!

West-Narr: Doch erinnert nicht die pure Blöße
erst recht uns an die umgestürzte Größe?
Überhaupt: Im Abriss zeigt sich einmal mehr:
Marktwirtschaftlich denken fällt Euch schwer!
Statt das ganze Denkmal abzureißen
und Lenin auf den Müll zu schmeißen,
wär’s viel billiger gekommen,
hättet Ihr den Kopf bloß abgenommen
und durch einen andern ihn ersetzt,
den der geschichtsbewusste Deutsche schätzt.

Ost-Närrin: Durch welchen denn?

West-Narr: Zum Beispiel durch ‘nen Bismarck-Kopf.
Oder sonst ‘nen preußisch-adeligen Zopf.

Ost-Närrin: Und wer sich der Marx-Engels-Köpf‘ geniert,
die immer noch beim Neuen Schloss gruppiert,
(Beide Narren stellen sich auf den Sockel und stecken die Köpfe zusammen.)

Beide: Bewahrt sie auf für spät’re Wenden.
Die Geschichte wird so schnell nicht enden!

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Star-Fußballer zum Schnäppchenpreis
Donnerstag, 14. November 2019, 14:00 Uhr
~15 Minuten Lesezeit

Star-Fußballer zum Schnäppchenpreis

Gemeinsam mit der DDR-Industrie wurde ab 1990 auch der Ost-Fußball plattgemacht.

von Stefan Korinth

Foto: Sergey Nivens/Shutterstock.com

Der Berliner Publizist und Experte für Fußballkultur Frank Willmann erklärt im Rubikon-Interview, wie westdeutsche Verantwortliche den ostdeutschen Fußball in der Wendezeit ausplünderten. Topspieler wurden für kleines Geld in die Bundesliga geholt. Die unvorbereiteten Ost-Clubs ließ der Deutsche Fußballbund (DFB) „am langen Arm verhungern“ und überließ sie kriminellen Geschäftemachern. Wettbewerbsfähige Konkurrenz konnten die West-Clubs nicht gebrauchen. Parallelen zur Deindustrialisierung durch die Treuhand sind unverkennbar.

„Wer lässt Ball und Gegner laufen?
Eisern Union, Eisern Union
Wer lässt sich nicht vom Westen kaufen?
Eisern Union, Eisern Union“

(aus der Vereinshymne des Ost-Berliner Fußballclubs Union Berlin).

Rubikon: Herr Willmann, in der DDR-Oberliga spielten 14 Mannschaften. Durch die regelmäßigen Duelle im Europapokal kann man ja ganz gut vergleichen, welches Niveau die besten dieser Ost-Clubs im internationalen Vergleich hatten. Wie gut etwa waren die DDR-Vereinsmannschaften gegenüber westdeutschen Profiteams?

Frank Willmann: Die besten DDR-Clubs hätten sicher im unteren Drittel der Bundesliga gut mitspielen können. Sie hätten dort eine einigermaßen gute Rolle gespielt. Vielleicht so wie der VfL Bochum um 1990 — sie wären keine „Fahrstuhlmannschaften“ gewesen, hätten aber auch nicht um den Meistertitel mitgespielt.

Schon vor der Wende sind ostdeutsche Spieler in den Westen gegangen. Können Sie bitte einmal erklären, wie das gelaufen ist?

Seitdem es zwei deutsche Staaten gab, gab es auch einen „Spielertransfer“ von Ost nach West. Die Fußballer gingen nicht nur aus politischen Gründen, sondern sie wussten auch, dass sie im Westen eine ganz andere finanzielle Basis als Profifußballer haben. Es sind hunderte von DDR-Spielern in den Westen gegangen. Noch weit vor dem Mauerbau beispielsweise, als der Dresdner SC seinen Namen nicht weiternutzen durfte, ist fast die ganze Mannschaft rübergegangen. Darunter auch der spätere Bundestrainer Helmut Schön. Es gab einen stetigen Fluss. Es war bis zum Mauerbau relativ einfach, zu verschwinden. Union Oberschöneweide 06 hat zum Beispiel Anfang der 1950er Jahre eine ganze Mannschaft an den Westen verloren.

Ab dem Mauerbau 1961 war es dann komplizierter. Da war das nur noch privilegierten Spielern aus DDR-Spitzenmannschaften möglich. Die Spieler, die dann in den Westen wollten, haben das bei internationalen Spielen im westlichen Ausland gemacht — oder in Jugoslawien. Wer sich in Jugoslawien von seiner Mannschaft entfernt und an die bundesdeutsche Botschaft gegangen ist, konnte auch ausreisen. Das wurde durch Jugoslawien nicht verhindert. Geflüchtete Spieler haben aber immer ein Jahr Sperre bekommen, weil der Weltfußballverband Fifa das als illegalen Wechsel gewertet hat.

„Erich Mielke hat getobt, wenn ein Spieler abgehauen war“

Gab es dieses Phänomen der fliehenden Spieler eigentlich auch bei den Clubs anderer Ostblockstaaten?

Aus der Sowjetunion ist kein Spieler ins westliche Ausland gewechselt. Oleg Blochin hatte zwar sehr viele Angebote, aber das hat nicht funktioniert. Andere Staaten allerdings — wie Polen, die CSSR oder Ungarn — haben ihren Spielern das ermöglicht. Diese Länder haben sowas als lukratives Zubrot verstanden. Aber in Ländern, wo die Betonfraktion regierte, wie Bulgarien, Rumänien oder eben in der DDR, da wurde das verunmöglicht. Dort wurden solche Wechsel äußerst ungern gesehen. Staatsicherheitsminister Erich Mielke hat jedes Mal getobt, wenn so etwas passierte. In der Endphase sind ja sehr viele Spieler ausgerechnet vom BFC Dynamo in den Westen gegangen. Die Staatsicherheit hat diese Spieler dann im Ausland entsprechend bearbeitet.

Lutz Eigendorf zum Beispiel — einer der besten Spieler beim BFC — der bei einem Spiel im Westen 1979 abgehauen ist, ist 1983 bei einem Autounfall gestorben. Daraufhin gab es Vermutungen, dass die Stasi ihre Finger im Spiel gehabt hätte. Es gibt dafür aber keinen Beweis. Wenn die Stasi von einer Flucht bereits im Vorfeld erfuhr, dann kam derjenige ins Gefängnis — so wie der Dresdener Spieler Gerd Weber und seine Mitwisser.

Die Popularität hat dort also nicht vor harten Strafen geschützt.

Im Gegenteil, je populärer, desto missliebiger war das. Wie gesagt, Mielke hat getobt. Es gibt eine Reihe aufgenommener Drohsprüche von ihm, wo klar wurde, dass er geflüchteten Spielern den Tod wünschte. Gerade wenn es Spieler vom BFC oder von Dynamo Dresden waren. Das war für ihn Hochverrat.

„Die Fußball-Funktionäre im Osten wurden überrollt“

Lassen Sie uns genauer auf die Wendezeit schauen. Die Maueröffnung geschah ja mitten in der Saison 1989/90. Wie gingen denn Mannschaften und Spieler damit um?

Findige westdeutsche Kapitalisten wie Rainer Calmund und andere Manager von Bundesligavereinen haben schnell die Chance gewittert, für kleines Geld an sehr gute Spieler heranzukommen. Calmund hat sofort Kontakt zum BFC Dynamo aufgenommen. Und so wechselte Andreas Thom als erster ostdeutscher Spieler zu Bayer Leverkusen, und zwar schon im Dezember 1989. Noch während dieser Saison gingen rund 60 weitere Oberligaspieler in den Westen. Allein der BFC Dynamo hat 22 Spieler verloren — also zwei komplette Mannschaften. Es herrschte damals heilloses Durcheinander in allen möglichen Bereichen der DDR. Natürlich auch im Fußball.

Die DDR-Fußball-Funktionäre waren überhaupt nicht vorbereitet auf das, was da über sie hereingebrochen ist. Sie haben das mehr oder weniger hilflos über sich ergehen lassen. Karl Marx hatten sie nicht gelesen, sondern immer nur so getan.

Deswegen wussten sie auch nicht, was für Auswüchse im Kapitalismus entstehen konnten. Sie ahnten nicht, dass und wie die Vereine plattgemacht würden. Natürlich hatten auch die Spieler selbst daran Anteil. Aber sie hatten nachvollziehbarerweise keine Lust mehr auf Alu-Chips. Sie wollten harte D-Mark bekommen und auch so schicke Autos und Häuser wie die Profis im Westen. Verantwortlich war aber auch der westdeutsche Fußballverband — der DFB —, der seinen ostdeutschen Bruderverband DFV eben nicht freundlich an die Hand genommen hat, um diesen in die blühenden Landschaften zu geleiten. Sondern der DFB hat den ostdeutschen Verband am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Das lag natürlich auch an politischen Differenzen.

Im DFB gab es damals noch so manche Alt-Nazis, die was zu sagen hatten. Die wollten natürlich nicht mit den sogenannten Kommunisten aus der DDR irgendwas zu tun haben. Die haben einfach gewartet, bis sich im Osten alles selbst auflöst. Im sportlichen Bereich hat nur die Vereinigung des westdeutschen und ostdeutschen Schachverbandes länger gedauert als die Vereinigung der beiden Fußballverbände. Das alles waren die wesentlichen Gründe für den Niedergang des DDR-Fußballs.

„Windige Geschäftemacher bezahlten sogar in Naturalien“

Sie sagten, ostdeutsche Spieler sind für kleines Geld ab Ende 1989 zu Bundesligavereinen gegangen. Ging das so einfach? Hatten die Ostdeutschen alle keine Verträge mit ihren Heimatvereinen?

Doch, der Fußballverband der DDR hatte in der Saison 1988/89 einen Mustervertrag entwickelt. Der war also schon eingeführt. Darin wurde eine bestimmte Summe festgelegt, die ein Oberligaspieler verdienen darf. Das hatte auch damit zu tun, dass in der DDR unheimlich viel Geld unter der Hand geflossen ist. Also nehmen wir mal das Beispiel: Du bist Spieler beim 1. FC Magdeburg. Dann hast du da meinetwegen 1.500 DDR-Mark verdient, also ungefähr die Höhe eines Professorengehalts. Dann hast du von deinem Kombinatsdirektor beim Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann (SKET) hinten rum auch noch Geld bekommen. Die Direktoren waren alle Fußballfans.

Also du hast es nicht von ihm direkt bekommen, aber da kamen dann tatsächlich Leute mit Tüten und haben dir am Monatsende zusätzliches Geld gebracht. Stimulation durch Geld und Devisen war in der Endzeit der DDR im Fußball sehr weit entwickelt. Wenn du zudem noch Nationalspieler warst, bekamst du von der Nationalmannschaft auch noch eine Summe X. Das heißt also, DDR-Fußballer haben vergleichsweise gut gelebt. Aber Rainer Calmund ist dann Ende 1989 zum Beispiel rübergekommen und hat für Andreas Thom 2,5 Millionen D-Mark an den BFC gezahlt. Aber diese Summe hat er nicht nur in Geld, sondern auch in Naturalien bezahlt. Weil er wusste, dass er das mit den „dummen Ossis“ machen kann.

Was denn für Naturalien?

Vor allem Motorräder und Autos waren sehr beliebt im Osten. Nach der Wende haben sich ja die Preise auf dem Gebrauchtwarenmarkt verdoppelt. Für den Transfer von Andi Thom gab es dann eben auch noch eine dreistellige Anzahl chinesischer Mofas und Mopeds für den BFC — allerdings ohne Ersatzteile. Der BFC hat dann wiederum seine Leute mit den Mofas bezahlt. Und wenn die kaputt waren, landeten sie schnell auf dem Müll, weil niemand sie reparieren konnte. So haben Calmund und auch viele andere Geschäftemacher allen möglichen Ramsch, der im Westen übrig war, gewinnbringend in den Osten verkauft.

„Das Wendejahr war ein Jahr der Anarchie“

Und die Preise insgesamt für die ostdeutschen Spieler — entsprachen die wenigstens in etwa deren tatsächlichem Marktwert?

Nein. Bei weitem nicht. Es ist auch hundertprozentig illegal Geld in die privaten Taschen der Spieler geflossen, damit diese Transfers zustande kamen. Die werden das heute sicherlich abstreiten, aber das ist ein Fakt. Illegale Geldzahlungen sind im Fußball heute schwieriger, aber wer sich das Buch „Football Leaks“ von Rafael Buschmann und Michael Wulzinger ansieht, der stellt fest, dass illegale Geschäfte da immer noch aktuell sind. Und damals erst recht. Schwarzgeldzahlungen auf die Hand hat es im Sport immer gegeben. Bestimmt gab es auch etwas für die Leute, die beim BFC was zu sagen hatten. Wenn ein Spieler in einem festen Vertrag ist, kann der ja normalerweise nicht einfach so aufgelöst werden. Aber mit Geld war damals alles möglich. Und wenn bestimmte Summen bezahlt wurden, hat derjenige alles bekommen, was er wollte. Gerade dieses Wendejahr war ein Jahr der Anarchie, wo alles möglich war.

Gab es damals eigentlich auch Spieler, die nein gesagt haben?

(lacht) Nein. Selbst die Leute, die vorher jahrzehntelang in der Sozialistischen Einheitspartei waren und in den Oberligaclubs monatlich ihre Parteiversammlungen absolvieren mussten und „Rotlichtbestrahlung“ ohne Ende abbekamen, die ihr Land auch im Ausland würdig vertraten — DDR-Fußballer waren sowas wie „Diplomaten im Trainingsanzug“ — selbst all diese Spieler haben beim ersten Geruch von Deutscher Mark sofort die Segel gestrichen.

„Die Besten gingen in den Westen — von dort kamen im Gegenzug die Aussortierten“

Aber immerhin gab es für den DDR-Fußball — anders als für die Wirtschaft — noch eine kurze Übergangsphase. Denn die DDR-Oberliga, die dann NOFV-Oberliga hieß, spielte noch die Saison 1990/1991, obwohl es schon keine DDR mehr gab.

Eigentlich war es eher schlecht, dass es die Saison noch gegeben hat. Da diese weitere getrennte Spielzeit das komplette Ausbluten bedeutete. Das heißt überspitzt gesagt, alle, die nur über anderthalb Beine verfügten und halbwegs geradeaus gehen konnten, sind dann auch noch in den Westen gewechselt. Im Gegenzug kamen dann Leute in den Osten, die die Bundesliga loswerden wollte — alte, übergewichtige, drogensüchtige, versoffene Schwachmaten —, und haben hier die Plätze und Trainerbänke bevölkert. Das hat das Niveau ins Unterirdische gesenkt.

Gleichzeitig kam auch noch die Garde der Baufürsten in den Osten. In dieser Übergangssaison wurde fast die Hälfte aller Oberligavereine von solchen Bauunternehmern als Präsidenten geleitet. Die kamen mit großen Versprechungen, weil sie wussten, was man den „dummen Ossis“ erzählen muss. Aber der einzige Grund, warum die Baufürsten sich da breitmachten, war der, dass sie über die Möglichkeiten der Fußballclubs an lukrative Bauaufträge der jeweiligen Stadt kommen wollten. Sie wollten ja „etwas für die Region tun“. Also beim BFC, bei Dynamo Dresden, bei Lok Leipzig, bei Chemie Leipzig — überall waren diese Bauunternehmer und haben verbrannte Erde hinterlassen. Besonders schlimm war Rolf-Jürgen Otto in Dresden, der den Club in die Insolvenz getrieben hat. Er wurde anschließend wegen der Veruntreuung von drei Millionen D-Mark verurteilt. Es war reines Chaos.

Was hätten die westdeutschen Verantwortlichen konstruktiv tun müssen, statt bei dieser Ausplünderung zuzuschauen?

Wenn man es wirklich gewollt hätte, hätten sich DFB und DFV im Januar 1990 zusammensetzen und beschließen müssen, dass man ost- und westdeutsche Clubs ab der kommenden Saison in der Bundesliga zusammenführt. Dann hätten die Ostclubs vielleicht noch eine einigermaßen realistische Chance gehabt. Stattdessen kam es erst im Sommer 1991 dazu, dass zwei Clubs in die Bundesliga durften und sechs weitere in die Zweite Liga. Aber da waren die Ost-Clubs schon so am Ende und ausgeblutet, so dass klar war, dass es sich mit dem Fußball in Ostdeutschland auf Jahrzehnte erledigt hat.

Wenn man von dem Begriff „Einheit“ ausgeht, würde man ja annehmen, dass beide Ligen vereinigt, das heißt gleichberechtigt zusammengeführt, werden. Tatsächlich durfte aber, wie Sie sagten, überhaupt nur eine kleine Minderheit von ostdeutschen Vereinen im gesamtdeutschen Profifußball mitspielen, während der Westen gar keine Abstriche machte. Ostdeutsche Traditionsvereine wie der einstige Europapokalsieger 1. FC Magdeburg versanken sofort im Amateurbereich. Wie kam es denn zu dieser ziemlich ungerechten Fußball-„Vereinigung“?

Na weil der Sieger immer bestimmt. Die westdeutschen Vereine wollten natürlich nicht von ihren Fressnäpfen weg. Das war der Grund. Der DFB hat dem Osten eben nicht solidarisch erklärt, wie der kapitalistische Bundesligafußball funktioniert. Das hat man erst zaghaft und viel zu spät in Angriff genommen, als das Kind schon längst in den Brunnen gefallen war. Und dass nur zwei Ostclubs in die Bundesliga aufgenommen wurden, das war da nur konsequent, weil sie zu diesem Zeitpunkt eh schon keine Chance mehr hatten. Alle guten Spieler waren schon im Westen und nur die Aussortierten spielten noch im Osten.

1990: Zusammenbrechende Zuschauerzahlen und viele Schlägereien

Und von ostdeutscher Seite gab es auch niemanden, der sich dagegen gewehrt hat?

Nein, es gab nicht mal jemanden, der sich darüber Gedanken gemacht hat. Man muss natürlich auch wissen, dass der Fußball damals noch nicht diese gesellschaftliche Rolle gespielt hat wie heute. Das hat sich erst mit der Weltmeisterschaft 1990 geändert. Fußballfans waren zu diesem Zeitpunkt gerade im Osten äußerst ungern gesehene Gruppen.

In der letzten Oberligasaison war in den Stadien quasi „Anarchie in Germany“ angesagt. Es gab riesige Schlägereien, es wurden Läden geplündert und sämtliche Hooligans im Westen, die ihr Mütchen kühlen wollten, haben sich mit ostdeutschen Hooligan-Truppen verbündet und haben ein Jahr lang Anarchie gespielt.

Die Polizei in der Ex-DDR hat keiner mehr ernstgenommen. Mit deren Mützen wurde Fußball gespielt und so kam es ja 1990 auch zu dem toten BFC-Dynamo-Fan, der in Leipzig von einem Polizisten erschossen worden war. Viele Jugendliche haben da die Sau rausgelassen. Sie haben gemerkt, dass sie als Gruppe ungestraft in die Läden gehen und sich nehmen konnten, was sie wollten. Keine Polizei hielt sie auf. Also das war eine Möglichkeit für junge Ossis, deren Eltern kein Geld hatten, die aber genauso schöne Klamotten wie andere haben wollten. Die haben auch Tankstellen auseinandergenommen und rund ums Stadion für Remmidemmi gesorgt. Das haben viele andere Leute natürlich nicht gern gesehen.

Also der Fußball hatte keine Lobby und seine gesellschaftliche Bedeutung war damals quasi im Minusbereich. Das sieht man auch an den damals schnell gesunkenen Zuschauerzahlen. Im letzten Jahr waren die lächerlich gering. Der BFC hat im letzten Wendejahr nicht mal mehr vierstellige Zuschauerzahlen gehabt. Und viele andere Ostvereine auch nicht. Union Berlin war völlig bedeutungslos. In Dresden haben sich, wenn es hochkam, noch dreitausend Leute ins Harbig-Stadion verlaufen.

„Nach der Wende war da nur noch eine Brache“

Wie liefen die folgenden Jahrzehnte? Irgendwann hatten sich die Ostclubs ja auch an den Kapitalismus gewöhnt und ihre eigenen Strukturen aufgebaut. Sind die ostdeutschen Vereine heute, 30 Jahre nach der Wende angemessen repräsentiert im gesamtdeutschen Fußball?

Nein, wir haben in der Bundesliga momentan nur zwei Vereine aus dem Osten, also Union Berlin und RB Leipzig. Wobei aber Union gerade erstmals in die Bundesliga aufgestiegen ist und RB Leipzig ist ein Produkt von Red Bull. Das heißt, da wurde mit sehr viel Geld künstlich etwas Erfolgreiches geschaffen. Das bestätigt nur, dass man mit viel Geld auch guten Fußball kaufen kann. Aber dieser Verein hat keine gewachsene Struktur, keine Basis. Er wurde aus dem Nichts geschaffen.

Nach der Wende waren im Osten erstmal lange alle Strukturen kaputt. Es waren ja nicht nur sämtliche guten Spieler weg, sondern auch alle guten Trainer, Nachwuchskoordinatoren und Jugendspieler. Es war eine völlige Brache übriggeblieben.

Es dauerte dann fast zwei Generationen bis sich der Osten aus diesem Staub wieder erheben konnte. Mit riesigen Anstrengungen hat man es geschafft, dass wenigstens ein paar Vereine wieder erfolgreich wurden.

Dynamo Dresden ist aktuell wieder in der Zweiten Liga, obwohl sie weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Aber Erzgebirge Aue ist schon ein Beispiel, wie man es gut machen kann. Also das ist ja nur ein kleiner Ort mit 16.000 Einwohnern, wo die Hauptattraktion eine McDonald’s-Bude ist. Aue hat es aber geschafft, sich über Jahrzehnte in der Zweiten Liga zu etablieren. Warum? Weil dort die Menschen nicht auf Leute aus dem Westen vertraut haben, sondern weil Unternehmer vor Ort den Verein sehr früh in die Hände genommen und gemerkt haben, was möglich ist. Die Verantwortlichen leben dort und sind eben damals nicht für fünf Jahre dahingegangen, um die schnelle Mark zu machen und dann wieder zu verschwinden. Darum funktioniert es in Aue und ähnlich ist es bei Union, obwohl es dort auch lange, harte Jahre gab mit Insolvenzen und Abstiegen bis in die fünfte Liga. Dort haben sich aber auch Menschen vor Ort zusammengeschlossen und tun alles dafür, dass dieser Verein erblüht und passen auf, dass nicht die falschen Leute ans Ruder kommen.

Und welche Vereine im Osten bleiben trotz großen Potenzials weit unter ihren Möglichkeiten?
Da muss man Lokomotive Leipzig nennen. Der Club hat 1987 immerhin im Finale des Europapokals der Pokalsieger gestanden. Das war eine wirklich gute Fußballmannschaft. Lok hat sich aber auch sofort an einen Baukrösus aus dem Westen verkauft. Es folgten Namensänderung und Insolvenz. Das zeigte, wie man es nicht machen sollte. Lok Leipzig ist ein Extrembeispiel. Den BFC Dynamo kann man genauso nennen oder Chemnitz. Auch der 1. FC Magdeburg, der jetzt ein Jahr Zweite Liga gespielt hat, bleibt unter seinen Möglichkeiten. Dort gab es zuvor jahrelange Misswirtschaft, Fehlplanungen und unfähige Leute. Man könnte da fast jeden ehemaligen Oberliga-Club nennen.

Lässt sich das Fazit ziehen: Im Fußball lief es im Osten genauso wie mit der Treuhand in der Wirtschaft? Also die interessanten Filetstücke — die Topspieler — verleibte sich der Westen ein und den Rest ließ man durch Unterlassung oder aktive Mitwirkung kaputtgehen, weil man die Ost-Konkurrenz nicht brauchen konnte?

Na klar. Das kann man wirklich eins zu eins vergleichen mit dem, was die Treuhand hier angerichtet hat. Da sind ganz viele Parallelen.

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Vom Regen in die Traufe
Donnerstag, 14. November 2019, 13:00 Uhr
~29 Minuten Lesezeit

Vom Regen in die Traufe

Die DDR-Bürger haben sich von einem repressiven System ins nächste gerettet. Hans-Joachim Maaz und Andreas Peglau bemühten sich im Frühjahr 1989 um eine Analyse der DDR-Gesellschaft — kurz vor deren Untergang.

von Hans-Joachim Maaz, Andreas Peglau

Foto: Noppasin Wongchum/Shutterstock.com

Am 16. März 1990, zwei Tage vor den ersten staatlich nicht kontrollierten Wahlen in der DDR, traf ich den Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz einmal mehr in seiner Klinik in Halle/Saale zum Gespräch. Zwei Tage danach war klar: Der haushohe Sieg der CDU beziehungsweise der „Allianz für Deutschland“ — abgekürzt AfD — hatte die Weichen gestellt zum Ende der DDR. Am 19. März 1990 lief dann unser Gespräch bei Jugendradio DT64 im Abendprogramm. Die Kernfrage, die uns beschäftigte, war: Warum sucht das Gros der DDR-Bevölkerung nach dem erfolgreichen Ausbruch aus einem autoritären System umgehend nach neuartigen Möglichkeiten, sich unterzuordnen?

Andreas Peglau: Bereits seit einiger Zeit lässt sich die erstaunliche Erscheinung registrieren, dass ein Volk, dass noch kurz davor seine alten Machthaber „davondemonstriert“ hat, jetzt offenbar von dem unbändigen Willen beherrscht wird, schnellstens Ersatz für sie zu schaffen. „Deutsche Einheit“ heißt das Gebot der Stunde. Wenn man den meisten Medien folgt, scheinbar schon aus rein ökonomischen Zwängen. Aber spielt unsere Seele, unsere psychische Struktur bei alledem keine Rolle?

Hans-Joachim Maaz: Die Charakterverformung, die ich in unserer psychotherapeutischen Arbeit immer wieder vorfinde — und von der ich vermute, dass sie auch für viele andere Menschen in unserem Land zutrifft —, wenn man die auf einen Punkt bringen wollte, dann ist es vor allen Dingen die Entfernung von der Innerlichkeit.

Also wenn wir sagen, dass wesentliche unserer Grundbedürfnisse nach Liebe, Zuwendung, Sexualität, Angenommensein nicht erfüllt werden, dann hat der Mensch einen Bezugspunkt zu sich verloren. Er weiß nicht mehr, was er wirklich möchte, kennt seine Bedürfnisse nicht mehr, die er hat unterdrücken müssen. Er hat also sozusagen die Orientierung auf sich selbst verloren, das ist ihm untersagt worden, es ist verboten, tabuisiert worden. Und das ist der Grund, weshalb er jetzt abhängig davon wird, was andere ihm sagen, was andere für gut oder richtig halten, was ihm erlaubt ist oder verboten wird.

Er wird sich also an Normen und vor allen Dingen an fremde Autoritäten anhängen müssen. Dies ist der Grund, weshalb wir feststellen müssen, dass viele Menschen bei uns autoritätsabhängig bis autoritätssüchtig geworden sind.

Und das bedeutet auch, wem eine äußere, eine fremde Autorität verlorengeht durch irgendetwas, der muss sehr bald wieder eine neue Autorität finden, um sein Gleichgewicht, seine Sicherheit wieder zu haben, weil er sich auf sich selbst nicht verlassen kann, weil er das nie hat lernen dürfen.

Und diese Situation ist bei uns eingetreten: Wir haben das bisherige Staatssystem, damit auch die wesentlichen Autoritäten, verloren. Auch wenn es repressive Autoritäten waren, die eher unterdrückt haben, waren sie aber immer doch auch diejenigen, die geherrscht haben, die bestimmt haben, wie es in unserem Lande zugehen soll, und auf diese Weise auch Orientierung und Halt gegeben haben. Und das ist nun weggefallen.

Das heißt für die meisten Menschen, jetzt entsteht ein Vakuum, es gibt eine Verunsicherung, es gibt keine äußere Orientierung mehr.

Und in der Tat haben wir ja auch in den letzten Wochen und Monaten feststellen müssen, dass die Leute zunehmend verunsichert waren, labilisiert sind, über neue Ängste klagen — Angst vor Freiheit, Angst vor Veränderung: Was soll ich jetzt machen mit mir, ich weiß nicht mehr, was richtig ist! Bis hin zu ganz harmlosen, lapidaren Geschichten, wenn's plötzlich also zwanzig verschiedene neue Zeitungen gibt: Ja, wofür soll man sich denn entscheiden? Oder bei der Wahl. Es gibt plötzlich eine Fülle von Wahlmöglichkeiten. Die meisten sagen: Ja, ich weiß gar nicht, wen ich wählen soll! Es entsteht eine neue Not, sich entscheiden zu müssen. Und das ist in erster Linie eben, weil die äußere Orientierung, die gesagt hat, was man tun soll, weggefallen ist, und die innere Orientierung uns längst verlorengegangen ist.

Der Verlust der inneren Orientierung — „Wer bin ich? Was will ich? Was ist richtig?“ aus meinem eigenen inneren Erleben heraus — das ist ja eine Erfahrung, die in der frühen Kindheit beginnt und dann ein ganzes Leben lang ausgeformt wird. Wenn diese Erfahrung irgendwie behindert wurde oder sogar verlorengegangen ist im weitesten Sinne, kann man sie nicht von heute auf morgen wieder aktivieren und beleben. Von daher ist diese Verunsicherung durchaus verständlich. Und auch die Gefahr, dass Menschen, weil sie diese Verunsicherung nicht haben möchten, weil sie das ängstigt, sich sehr rasch eben neue Autoritäten, neue Ordnungen suchen.

Man sucht zum Beispiel politische Führung. Die borgt man sich einfach aus dem Westen. Oder: Der rasche Ruf nach ,,Deutschland einig Vaterland!“ ist auch der, dass wir sehr rasch die Ordnung, die Gesetze, die Normen der Bundesrepublik übernehmen möchten. Auch das, was nicht gut ist. Es wird überhaupt nicht wirklich tiefer reflektiert und diskutiert darüber, was an der bundesdeutschen Ordnung und an den Normen, die dort herrschen, vielleicht nicht in Ordnung ist, weil das Bestreben, möglichst wieder eingebunden zu werden in bestehende Ordnungen, viel, viel größer ist als die Fähigkeit, die eigene Verunsicherung zu ertragen. Und das ist das Dilemma.

Denn wenn wir nicht den Mut finden, unsere innere Verunsicherung eine Weile auszuhalten — zu akzeptieren, dass es Zeiten gibt, wo uns keiner gleich sagen kann, was richtig oder falsch ist —, dann sind wir auch in Gefahr, uns allen möglichen Führern unkritisch wieder an den Hals zu werfen.

Manchmal wird es zu spät sein, wenn die Einsicht kommt, dass es in Wirklichkeit eine Ver-Führung war, dass das, was wir dann gewählt haben oder vielleicht auch die neue Lebensart, die wir dann gefunden haben, uns wieder nicht zusagt oder nicht wirklich freier und glücklicher macht.

Es besteht also ein Zusammenhang zwischen unserer Charakterstruktur, die sich aus unserer Erziehung ergeben hat und die so typisch war für unser politisches, gesellschaftliches System, und diesem Verhalten seit November 1989. Das klingt natürlich irgendwie auch so ein bisschen schicksalhaft, so als ob es überhaupt von vornherein keine andere Chance gegeben hätte.

Ob das schicksalhaft ist, das wage ich nicht zu sagen. Ich verstehe erst mal, dass es so gekommen ist. Die Chance, die wir also durchaus hätten und immer noch haben, ist die, dass wir genau diese, unsere innere Einengung, erfahren. Dass wir sie uns bewusst machen, dass wir überhaupt den Mut haben, uns zu bekennen. Und dass wir anfangen, auch unsere innere Unfreiheit zu überwinden. Dass wir nicht nur danach rennen, jetzt sogenannte äußere Freiheiten zu schaffen, denn die werden wir bei innerer Unfreiheit gar nicht ausfüllen können. Dass wir uns wirklich auf das besinnen, uns bewusst machen, was in uns schon längst angelegt ist oder anerzogen worden ist durch die Art und Weise, wie wir in unserem Land gelebt haben. Also das, was wir vielleicht als Trauerarbeit bezeichnen können: Trauer über unsere eigene Einengung, über unsere innere Unfreiheit, über die Gehemmtheit, die wir erlebt haben und die wir uns selber auferlegt haben, über die eigene Verlogenheit, über die allzu leichte Anpassung. Dass wir das bekennen, dass wir auch da erneut Zivilcourage beweisen — jetzt nicht mehr im Kampf gegen eine böse Obrigkeit, sondern gegen das Gestörte, Problematische, Verdrängte in uns.

Sie sprachen von Trauerarbeit, das ist ein Begriff, der zurzeit von vielen gebraucht wird, von vielen aber, glaube ich, gar nicht verstanden wird.

Ich verstehe darunter, dass wir gefühlsmäßig all das durcharbeiten — durchleiden kann man sagen —, was an Defiziten, an Schuld, an Kränkung, an Demütigung in uns ist, was wir im Staatssystem — aber eben auch jeder einzelne in seiner Lebensgeschichte — erfahren haben aufgrund einengender, entfremdeter, gefühlsblockierender Erziehung.

Trauerarbeit ist also immer ein Komplex von verschiedenen Gefühlen. In der Regel wird es sich da um Ängste handeln, wenn ich mich der Dinge erinnere, die mich eingeengt, verformt haben, wenn ich mich erinnere, was ich selber an Schuld auf mich geladen habe, auch an vertane Lebensmöglichkeiten, wo ich einfach nicht den Mut hatte, mich anders zu entfalten oder so zu entwickeln, so wie ich es gern gewollt hätte.

Auch an unwiederbringlich verlorene Lebenszeit. Wenn man sich an diese Dinge allmählich erinnert, wird das auch Empörung auslösen, Wut und Hass aktivieren gegen die, die das in uns erzeugt haben, also gegen die Unterdrücker. Und das sind eben in erster Linie die Eltern, die Lehrer, die Funktionäre. Es wird auch Schmerz und Trauer auslösen. Schmerz über das Bittere, was mir weh tat, was ich einstecken musste, und Trauer über das, was ich nicht leben konnte. Also ein Prozess, längere Zeit gehend, durch viele Gefühle hindurch.

Und das ist der Grund — so erlebe ich das immer wieder auch in der Therapie —, dass viele Menschen zunächst ganz heftig gegen diese Gedanken zu Felde ziehen. Sie wollen das nicht wahrhaben. Patienten oder auch wir Therapeuten werden beschimpft deshalb, weil wir mit solchen Erfahrungen, die wir machen, bei anderen — die das nicht wahrhaben wollen — Angst auslösen. Und Angst wird in der Regel mit Feindseligkeit bekämpft. Also darin sehe ich einen Grund, weshalb es zu einer wirklichen Trauerarbeit jetzt bei den meisten Menschen nicht kommt. Genauso wenig wie es zu einer wirklichen Trauerarbeit gekommen ist nach dem Dritten Reich, nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg, wo Zeit gewesen wäre, zu überlegen: Was haben wir Deutschen denn da eigentlich angerichtet?

Die bekannten Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich haben das ja 1967 in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ sehr deutlich beschrieben. Und ich glaube, dass das, was wir jetzt bei uns beobachten müssen, ein vergleichbarer Vorgang ist: Auch jetzt müssen wir, denke ich, eine Unfähigkeit zu trauern feststellen oder eine Verweigerung.

Wissen Sie, wir saßen vor kurzem mit Freunden zusammen und haben uns erinnert, was uns noch einfiel, was so unser Leben bestimmt hat. Also, wie wir uns bei den Pionieren verhalten haben oder bei der FDJ — ich war zum Beispiel mal in einer Agitprop-Gruppe — was da alles so in der Schule gewesen ist. Dabei sind sehr viele, ganz persönliche Betroffenheiten geäußert worden — was jeder von uns so alles mitgemacht und toleriert hat und was zum Teil schon sehr peinlich und beschämend war.

Und wissen Sie, was das Besondere daran war? Nicht nur die Erinnerung an diese Ereignisse, das war schon schlimm genug und manchmal auch belustigend — manchmal auch so absurd, dass wir auch lachen konnten —, aber das Besondere war, dass sehr bald mit der Erinnerung an diese Erlebnisse auch Erinnerungen kamen an die familiären Verhältnisse. Plötzlich war das vermischt mit Erinnerungen, was Vater oder Mutter von einem wollten, wie sehr die auch wollten, dass man sich schnell anpasst, dass man reibungslos in dieses System hineinpasst, dass man keine Schwierigkeiten macht, keine falschen Fragen stellt. Oder die Situation meinetwegen am Tisch zu Hause, wo der Vater dominierte oder eine leidende Mutter uns Kinder manipulierte —, dass das ähnlich war, wie man es dann auch in der Gesellschaft wieder erfahren hat.

Also, ich will damit sagen, dass die Dinge, die wir zunächst erinnerten — die jeder von uns in dieser Gesellschaft an Einengung, Kränkung, beschämender Manipulation erfahren und mitgemacht hat —, dass diese Erfahrungen sehr bald noch viel persönlicher wurden und noch viel weiter zurückreichten in die eigene Lebensgeschichte. Und das bedeutet: Wenn es zu einer Aufarbeitung im Sinne von Trauerarbeit käme, würde jeder, der das anfängt, eben auch auf seine ganz individuelle Lebensgeschichte, auf die Wahrheit seiner Kindheit geführt werden. Und das ist immer sehr bedrohlich, sehr beängstigend — und es wird eben von den meisten absolut nicht gewollt. Sie werden alles tun, um das zu verhindern. Mit Mechanismen, die man jetzt schon sieht: Einiges Deutschland, Marktwirtschaft, neues Geld, Streit der oppositionellen Kräfte untereinander.

Wir sind doch alle interessiert gewesen, dieses System zu verändern oder abzuschaffen. Ja, warum setzen sich dann nicht alle zusammen und überlegen, eine gemeinsame bessere Gesellschaft zu organisieren, statt sich gegenseitig im Streit zu lähmen?

Wenn man diesen Wahlkampf ansieht, wenn man sich überlegt, dass noch ganz ehrenwerte Männer vor einem halben Jahr, die oppositionelle führende Kräfte waren, sich bereits schon wieder lächerlich machen durch Phrasen, durch demagogisches Gerede, durch bloße Sätze, um Leute zu animieren, dass sie gewählt werden. Das ist sowas Absurdes, dass man es kaum glauben kann und im Grunde genommen, ich denke, nur verstehen kann, wenn man daran denkt, dass eben auch dieses Verhalten geeignet ist, von der inneren Not, also von der inneren Bewältigung der eigenen Probleme abzulenken. Man streitet dann halt lieber, als dass man Schmerz erfährt über die eigene Verbogenheit.

Und das ist natürlich auch eine Zeitbombe. Auch wenn der Wahlkampf vorüber ist, wenn es zum politischen Alltag übergeht, muss man immer noch Gegner haben, Feinde, um sich von der inneren Not abzulenken. Da wird es auch sehr bald wieder neue Ideologien geben, weshalb es richtig ist, gegen dieses oder jenes zu sein, oder weshalb diese oder jene Menschen die Bösewichter sind — was sich schon andeutet, mit Ausländerfeindlichkeit, Rechtsradikalismus oder auch Hass gegen Rechtsradikale. Das sind die neuen Sündenböcke.

Die Feindseligkeit, die man in sich trägt aufgrund der Kränkung, die man erfahren hat, die muss ja wieder irgendein Objekt, irgendein Opfer finden. Es ist eine Gesetzmäßigkeit: Wenn man nicht seinen inneren Schmerz durch Trauerarbeit auf sich nimmt, muss man irgendwie nach außen in den Krieg ziehen, gegen irgendjemand oder irgendetwas, nur um der Aggressivität, die in einem gestaut ist, ein Ventil, eine Erklärung zu geben.

Dazu passt, dass der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Theodor Hoffmann offensichtlich lieber ein großes Bundesheer gründen wollte, als um Gottes willen bloß nicht die Armee als solche aufzugeben. Das ist doch lachhaft, dass Leute, die jahrzehntelang zum Schutz gegen die ,,bösen Imperialisten" da waren, nun sagen: Also, ehe wir ganz aufhören, Krieg zu spielen, da fusionieren wir uns lieber mit unserem ehemaligen Todfeind.

Es ist so grotesk, dass man es gar nicht fassen kann. Man muss nur mal die Frage stellen: Ja, gegen wen brauchen wir denn im Moment eine Armee? Die alten Feindbilder stimmen nicht mehr — aber die Armee ist da. Es muss also nahezu ein neuer Feind geschaffen werden. Wir können darauf warten, dass regelrecht Konflikte geschürt werden, damit die Armeen und die Rüstung wieder einen Grund haben können, bestehen bleiben zu dürfen. Also, das ist so grotesk und so absurd, dass es einem übel werden kann, wenn man das bedenkt und letztlich gar nichts dagegen unternehmen kann.

Das klingt natürlich auch wieder alles sehr pessimistisch: Um wirklich eine neue Qualität der Gesellschaftsentwicklung zu erreichen, wäre eine Trauerarbeit notwendig. Sie sagen aber: Eigentlich ist das nicht möglich. Das heißt, es gibt keinen Ausweg.

Na, das ist nicht ganz richtig. Es ist möglich. Und ich kenne inzwischen einige tausend Menschen, die diesen Weg gehen und durchaus auch zeigen, dass es möglich ist. Nie ideal, man ist in diesem Prozess nie fertig, man wird nicht plötzlich ein ganz neuer Mensch. Aber in der Therapie sagen wir, wenn man den Weg durch seine Gefühle geht, dann gewinnt man eine neue innere Stabilität, neue Freude am Leben.

Dass ich über mein eigenes inneres Elend, über die Defizite, die Mangelsituationen, die sich in meinem Leben ereignet haben — in meiner Kindheit schon, und dann in der Gesellschaft fortgeführt — dass ich den Mut habe, dies aufzuspüren und daran jetzt bewusst zu leiden — das führt zu einem Zustand von größerer Freiheit, größerer Selbstsicherheit, Bewusstheit und schafft eben den Mut zu neuem Leben.

Dies ist, therapeutisch gesehen, durchaus möglich. Die Frage ist nur: Wie ist es massenweise möglich? Das weiß ich auch nicht. Ich bin an dieser Stelle erst mal nur insofern optimistisch, dass wir überhaupt über diese Themen öffentlich arbeiten können, dass ein Interesse besteht, dass darüber gesprochen, informiert wird. Es gibt zunehmend Menschen, die sich in Selbsthilfegruppen zusammenschließen, um über ihre inneren Befindlichkeiten sich gegenseitig Mitteilung zu machen.

Also da gibt es hoffnungsvolle Ansätze, und zugleich gibt es aber auch das Gegenteil: dass man angefeindet wird, weil man solche Themen in die Öffentlichkeit bringt. Man wird abwarten müssen, wie die politische Entwicklung weitergeht.

Ich halte es nicht für ganz ausgeschlossen, dass es wieder Zeiten geben kann, wo die Behandlung solcher Themen verboten wird. Dass wir dann wieder nicht öffentlich danach fragen können: Was treibt denn Menschen heute zur Macht? Sind das nur edle Motive, oder sind das vielleicht auch Ablenkungsmanöver von innerer Not?

Eins der gängigsten Argumente gegen eine bewusste Beschäftigung mit der eigenen und auch der gesellschaftlichen Vergangenheit lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Wir haben einfach keine Zeit für den Luxus, über den Schnee von gestern zu lamentieren; wir brauchen unsere Kräfte, um die Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu meistern. Was halten Sie von einer solchen Einstellung?

Es ist richtig und lachhaft zugleich. Richtig ist: Das wirtschaftliche Desaster und noch viel mehr die ökologische Krise sind so ausgeprägt, dass tatsächlich dringend etwas geschehen muss. Auf der anderen Seite — also mir geht es persönlich so —, ich habe jetzt vierzig Jahre hier gelebt, ich muss nicht sofort den westlichen Wohlstand haben, oder es muss nicht sofort für mich die Wirtschaft perfekt gemacht werden. Es wird also auch, denke ich, Panik gemacht, schlimmer dargestellt, als es in Wirklichkeit ist. Noch hungert keiner in der DDR.

Ich denke, wenn wir uns vierzig Jahre Zeit gelassen haben, haben wir auch noch ein, zwei, drei weitere Jahre Zeit, um in Ruhe miteinander zu arbeiten, miteinander zu ringen, eine neue Form einer Gesellschaftsordnung mit einer neuen Form einer Wirtschaftsordnung aufzubauen, wirklich gründlicher zu überlegen, das allmählich wachsen zu lassen. Und immer wieder auch in Verbindung damit: uns Zeit zu lassen, Raum zu geben für Vergangenheitsbewältigung. Ich habe immer den Eindruck gehabt, diejenigen, die am lautesten geschrien haben: „Lasst doch die Vergangenheit, es ist genug geredet!“, das sind diejenigen, die am wenigsten ihre eigene Vergangenheit bewältigt haben, die am meisten Angst davor haben, das auch nur zu versuchen.

Hinter dieser Einstellung steckt ja irgendwo auch die Meinung, dass für das, was man in der Gegenwart macht und in der Zukunft machen möchte, die Vergangenheit gar keine Rolle spielt. Was resultiert denn aus einer nicht bewältigten, nicht bewusst erlebten Vergangenheit für die Gegenwart eines Menschen?

Wir haben in unserer Arbeit dafür einen Fachausdruck, den sogenannten Wiederholungszwang. Und der besagt, dass Menschen zwanghaft das wiederholen müssen, was sie in ihrer frühen Kindheit erfahren haben. Das heißt, sie verhalten sich unbewusst so, dass die Verhältnisse, die für sie ursprünglich waren, wiederhergestellt werden. Und sie suchen solche Verhältnisse oder tragen dazu bei, dass solche Verhältnisse wiederhergestellt werden.

Der Sinn einer solchen absurd erscheinenden Verhaltensweise liegt darin, dass die frühen Erfahrungen, die man gemacht hat, ja immer auch auf die genannte Art mit Bitterkeit, mit unangenehmen Erlebnissen verbunden sind — die man aber letztendlich verdrängt hat. Aber wenn man jetzt bessere Verhältnisse herstellen oder erfahren würde, würde man unweigerlich an diese ursprünglichen bitteren Erfahrungen erinnert werden. Und diesen Schmerz will man vermeiden.

Aber es liegt auch etwas Positives im Wiederholungszwang: Er ist ja ein Ausdruck dafür, dass innerlich etwas unbewusst gärt, schmort, eigentlich anders erledigt sein möchte. Und indem ich immer wieder die gleichen Verhältnisse wie damals herstelle oder suche, will ich mir auch eine Chance geben, es doch mal besser ausgehen zu lassen. Und so hat der Wiederholungszwang diese negative Seite, dass der Mensch nicht seine Erfahrung freiwillig verlässt, und zugleich ist er der Hoffnungsträger dafür, dass es einmal unter entsprechend günstigen Verhältnissen wirklich zu einer Aufarbeitung, zu einer Lösung für die frühen Probleme kommt.

Das ist ja auch der Grund, worauf wir in der Therapie bauen können: Dass im Menschen selbst so eine Hoffnung weiterhin bestehen bleibt, dass er zu mehr Freiheit, zu mehr Gesundheit, zu mehr Befriedigung seiner Grundbedürfnisse findet. Und wenn wir den Kontakt zu diesem Teil seines Wesens aufbauen, dann haben wir auch in jedem Menschen einen Verbündeten, der dann bereit ist, auch Schmerz und bittere Erinnerung in Kauf zu nehmen, um sich diese neuen Möglichkeiten zu erarbeiten.

Dieser Wiederholungszwang besagt dann aber auch — noch einmal auf unsere gesellschaftliche Situation angewandt —, dass das, was wir jetzt als „stalinistisch“ zusammenfassen, was an stalinistischen Anteilen in unserer Erziehung, in unserem Leben war, dass wir diese Zustände sozusagen unbewusst auch immer wieder herstellen werden, solange wir diesen Anteil unseres Lebens, unserer Persönlichkeitsentwicklung nicht bewusst erleben.

Genauso ist es. Man sieht es doch schon, dass man eben neue Führer braucht. Die werden doch zuhauf ins Land geholt. Als wenn wir nicht selber unsere Reden zu unserer Wahl halten könnten. Man muss sich das mal überlegen, wie klein wir uns selber machen, für wie unfähig wir uns erklären, wenn wir nicht unseren Wahlkampf selber machen, dass wir uns wirklich neue „Väter“ holen, die uns sagen sollen, was richtig und was falsch ist. Und ich denke, der Gedanke ist gar nicht so absurd, dass wir statt stalinistischer repressiver Strukturen jetzt die Repressionen durch die Macht des Geldes oder des Konkurrenzkampfes suchen. Das sind ja auch einengende, repressive Strukturen, die den Wiederholungszwang sättigen können.

Ich habe das selbst schon am eigenen Leibe empfunden: Wenn ich hier in der DDR etwas einkaufen will, dann ärgere ich mich meistens, dass ich dies und jenes nicht finde und nicht bekomme und bin also frustriert. Jetzt bin ich in die Bundesrepublik gefahren und bin dort einkaufen gegangen, und was habe ich erlebt? Also ich war ähnlich frustriert, weil ich mich bei der Fülle der hervorragenden Angebote nicht entscheiden konnte, oder ich hatte dann was Wunderbares gekauft und stellte nach zehn Minuten fest, dass ich den gleichen Artikel hätte zehn Mark billiger bekommen können in einem anderen Laden. Und das ist bei den geringen Geldern, über die wir verfügen, natürlich frustrierend. Also, am Ende war ich genauso frustriert, obwohl ich aus der Fülle schöpfen konnte wie hier, wo ich den Mangel erleiden musste.

Und da habe ich zum ersten Mal auch drüber nachgedacht: Mensch, das sind doch neue Repressionen! Der Markt, die Fülle, der Überfluss, dieses Konkurrenzdenken erzeugt ganz neue Zwänge und Einengungen.

Dann habe ich mit Bekannten, Freunden und Verwandten im Westen gesprochen und habe festgestellt, dass sie ständig beschäftigt sind: Wo kriege ich einen Artikel am billigsten? Ich wurde nahezu angefahren manchmal; wenn ich irgendwas kaufen wollte: Das kannst du doch nicht machen, man muss erst noch dort und dort schauen, ob es nicht billiger ist!

Also, ich dachte, ich bin in einem absurden Theater: Ich habe mich gerade mühsam aus solchen Einengungen befreit und bin schon wieder in den nächsten, die nur goldig verpackt sind. Da wird deutlich, dass möglicherweise diese neuen Verhältnisse nichts anderes als den Wiederholungszwang ausdrücken. Und was wir jetzt so mit „stalinistisch“ bezeichnen, wird vielleicht in einem neuen System eines Tages den Beinamen „konsumterroristisch“ bekommen und ist nur eine andere Variante desselben Problems.

1945 hat es in Deutschland offensichtlich keine ausreichende kollektive Trauerarbeit zur Bewältigung des Faschismus gegeben. Besteht nicht die gleiche Gefahr, zu verdrängen statt aufzuarbeiten, jetzt hierzulande bezüglich des Stalinismus?

Ja. Es gibt auch jetzt wieder eine massenweise Betroffenheit, eine massenweise Schuld und — so wie ich es jetzt sehe — den Versuch einer gemeinsamen „Erlösung“, zum Beispiel in der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Das, denke ich, ist im Moment der Versuch, von der individuellen Problematik abzulenken.

Eine „kollektive" Trauerarbeit allerdings im Wortsinn ist nicht möglich. Man kann zwar kollektive Formen finden wie Öffentlichkeits- oder Medienarbeit, kann in Literatur und Kunst diese Themen aufgreifen und dadurch große Bevölkerungskreise erreichen. Aber auch eine Rede oder eine Kundgebung, eine Demonstration, die sich dieses Themas annimmt, wäre noch keine Trauerarbeit im eigentlichen Sinne. Denn Trauerarbeit kann nur jeder einzelne leisten.

Wenn man das mal vergleicht mit der Trauerfeier bei einer Beerdigung, dann gibt es dort eine Gruppe von Menschen, ein Ritual, das günstige Bedingungen dafür schaffen könnte — in der Realität wird diese Chance meist verpasst —, dass der einzelne eine Chance hat zu trauern. Dass er innerhalb eines geschützten Rahmens zu seinem Schmerz kommen kann, dass er jetzt eine Erlaubnis hat, zu weinen, zu trauern über den Verlust. Man könnte sich vorstellen, dass wir innerhalb einer Gesellschaft auch solche Möglichkeiten, solche Rituale uns geben: in Versammlungen, in Gesprächen untereinander, in kleineren oder größeren Gruppen.

Aber die eigentliche Trauerarbeit bleibt eine ganz individuelle, eine, die jeder für sich leisten muss und der er auch einen individuellen Inhalt geben muss, denn er ist ja auf seine ganz konkrete Art und Weise betroffen von der Verformung.

Sie haben vorhin schon das Buch ,,Die Unfähigkeit zu trauern“ erwähnt. Dort werden ganz ähnliche Probleme besprochen, wie wir sie diskutiert haben. Die Mitscherlichs sprechen zum Beispiel davon, dass das sogenannte Wirtschaftswunder der BRD nach dem zweiten Weltkrieg vor allem dadurch notwendig und möglich geworden ist, „weil Millionen Bürger durch neue gewaltige Anstrengungen die Anstrengungen verdrängen wollten oder ungeschehen machen wollten, die sie im dritten Reich unternommen hatten“ — bei der Unterstützung oder Duldung des Massenmordes an den Juden oder bei der Vorbereitung und Durchführung des zweiten Weltkrieges. Sie sprechen auch von einer Taktik, die auf das Motto hinausläuft: „Der Führer hat an allem Schuld. Wir sind alle nur betrogen worden und mussten gehorchen“ — eine These, die mir aus der jüngsten DDR-Geschichte sehr bekannt vorkommt. Und sie vertreten schließlich die Meinung, dass durch dieses massenweise Verdrängen der faschistischen Vergangenheit die Bundesbürger, ihre Parteien und Politiker nicht in der Lage wären, flexibel und kreativ auf neue politische Situationen zu reagieren. Kann man also in dieser Weise die am einzelnen Menschen — zum Beispiel durch psychoanalytische Therapie — gewonnenen Erkenntnisse auf ein Kollektiv übertragen? Lässt sich auch über einen ganzen Staat sagen: Die Kraft, die er verwenden muss, um die eigene Vergangenheit zu verdrängen und unbewusst zu halten, fehlt ihm für die Gegenwartsbewältigung?

Ich denke, unbedingt.

Politik wird von Menschen gemacht, und Parteien werden von Menschen gemacht. Das heißt, das, was in der Politik als Programm erscheint, ist letztlich das Ergebnis der Gedanken und der Haltung von einzelnen Menschen. Das heißt, die Psychologie des einzelnen wird sich in den politischen Programmen auf jeden Fall ausdrücken und abfärben. Deshalb war die Parole ,,Die Partei hat immer recht“ ja eine ebenso absurde wie gefährliche, weil damit der Eindruck erweckt wurde, dass die Partei ein eigener Mechanismus wäre, der nun also übermenschliche, metaphysische Kräfte entwickeln könnte. Und das ist ein einfacher Betrug: Eine Partei ist nichts anderes als einzelne Menschen. Und bei der SED musste man sogar sagen, letztlich sind es nur noch die Ideen von einigen wenigen oder sogar eines einzelnen gewesen.

Ich halte es zum Beispiel für sehr wichtig, dass eine Auseinandersetzung mit den Mächtigen, also zum Beispiel auch mit Erich Honecker, geschieht. Nicht im Sinne des Sündenbockes — „Der ist schuld!“ —, sondern um genauer zu wissen: Ist Erich Honecker ein Verbrecher? Oder ein psychisch Kranker? Oder ein ganz durchschnittlicher, normaler Bürger wie die meisten in unserem Land? Ich glaube, das Letztere wird am ehesten stimmen.

Das heißt, er verkörpert am deutlichsten das, was sozusagen auch am verbreitetsten in der Bevölkerung ist: Bestimmte Charakterstrukturen, die zusammenpassen.

Keiner kann sich auf die Tribüne stellen, wenn es nicht ein Volk gibt, das da willig vorbeidefiliert und solche grotesken Aufmärsche mitmacht. Da wird irgendetwas ausgedrückt, was das ganze Volk betrifft. Und der Führer ist dann sozusagen die ,,Gestalt gewordene Psychologie“, also der Ausdruck dessen, was in den meisten Menschen vorhanden ist. Nur im Führer wird das am schärfsten, am deutlichsten klar.

Und es gibt ja auch das Wort ,,Jedes Volk hat den Führer, den es verdient“, ,,Jeder Mensch hat den Partner, den er verdient.“ Da ist sehr viel Wahres dran, weil sich im Partner, im Führer ausdrückt, was man selbst ist. Das ist irgendwie ein Spiegelbild.

Um noch einmal auf die Analyse von Alexander und Margarete Mitscherlich zurückzukommen: Dieser Analyse kann man also entnehmen, dass auch für viele Bundesbürger das gilt, was Sie aufgrund Ihrer therapeutischen Erfahrung für die große Zahl von DDR-Bürgern annehmen können, nämlich Schwierigkeiten mit der eigenen Vergangenheit, blinde Flecken immer besonders da, wo es weh tut. Besteht da nicht eine Riesengefahr, wenn die beiden deutschen Staaten jetzt aufeinander zugehen, dass sich die massenhaft vorhandenen Charakterstrukturen — die ja dann so unterschiedlich vermutlich gar nicht sind —, dass sich diese Charakterstrukturen und diese ,,Unfähigkeiten zu trauern“ gegenseitig aufschaukeln, verstärken, wenn sie weiterhin verdrängt bleiben? Gibt es nicht auch aus psychotherapeutischer Sicht eine tatsächliche Gefahr, wieder in die alte Großmannssucht, in den Größenwahn, in die Deutschtümelei und ähnliches zurückzufallen, als eben „ein Volk“ — mit einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit?

Ich sehe diese Gefahr als gegeben. Ich kann mir das so vorstellen: Wenn es so kommt, dass wir angeschlossen werden an die Bundesrepublik, dann heißt das ja, dass vierzig Jahre Leben in diesem Lande im Grunde nichts getaugt haben. Ich meine damit nicht unser politisches oder wirtschaftliches System — das hat offensichtlich wirklich nichts getaugt, aber hier haben sechzehn, siebzehn Millionen Menschen gelebt, die eben auch ein ganz persönliches Leben zu verantworten haben. Es geht also, denke ich, um die Würde des Einzelnen. Und wenn plötzlich gesagt wird, alles, was war, taugt nicht mehr, jetzt müssen wir so leben, wie es uns die Bundesrepublik vorschreibt, dann kann man schon ermessen, wieviel Kränkung, wieviel Hass und Neid, wieviel Enttäuschung das in jedem DDR-Bürger zurücklassen muss.

Jeder von uns weiß, wie das war, wenn er zwanzig Jahre meinetwegen auf einen Trabbi gespart hat. Er hat sparen müssen, anstehen müssen, er musste sich was einfallen lassen, er hat seinen ganzen Stolz, seine Ehre, seine Kreativität in das Erreichen solcher Ziele gesetzt, ein Auto oder eine Wohnung hübsch einzurichten, eine Datsche zu haben, einen Schrebergarten zu gestalten. Und plötzlich ist das entwertet. Der Trabbi ist doch nur noch ein Haufen Mist, wenn wir die Westwagen sehen!

Das heißt aber, das, was viele Jahre unseren Stolz ausgemacht hat, wo wir auch irgendwas von unserer Würde drangehangen haben, ist plötzlich nur noch einen Haufen Dreck wert. Das kann ein Mensch ohne tiefe Kränkung, also ohne Beleidigung und schmerzliche Berührung nicht verkraften. Und das bleibt in uns stecken. Wenn das also nicht eine Möglichkeit hat, dass wir das irgendwie ausdrücken können, dass wir das, was weiß ich, hinausweinen, hinausschreien können, bleibt das eine Bombe, die in uns tickt.

Und das wird sich rächen, wenn wir uns nach dem ersten Wohlstandsrausch die Frage stellen werden: Ja, und nun? War es das, sind wir jetzt glücklicher und zufriedener? Dann, denke ich, wird sich diese aufgestaute destruktive Energie anfangen zu entladen, und dann könnte durchaus passieren, dass das große Deutschland neue Ziele sucht, neue Feinde braucht, um den wahnsinnigen, unausgelebten sozialen Druck irgendwohin zu richten.

Wenn ich also die Bedenken höre, die von den Nachbarländern, von Polen, von Frankreich, Holland geäußert werden, dann sind das bestimmt keine realpolitisch begründeten Bedenken, aber intuitiv wird da etwas empfunden, etwas geahnt von dieser Problematik, die sich aufbauen kann, wenn es ein vereintes Deutschland gibt ohne psychische Revolution, ohne Trauerarbeit.

Ich will's noch mal von einer anderen Seite sagen. Ich bin überzeugt aus vielen Erfahrungen, die ich auch mit Westdeutschen gemacht habe, dass viele von ihnen auch davon gelebt haben oder sich besonders gut, groß, reich fühlen konnten, weil wir die ärmeren, erbärmlicheren, kleineren, die kleinmütigeren, die kleinkarierteren Brüder und Schwestern waren. Sie konnten auch ihre innere Problematik dadurch kompensieren: Na, guckt euch doch die im Osten an, guckt doch mal, wie beschissen die leben! Und das hat ihnen ein Größegefühl gegeben.

Das wird plötzlich auch fehlen, wenn wir im vereinten Deutschland nicht mehr die armen Hanswürste sind. Auch da, denke ich, fehlt ein Kompensationsmechanismus. Wo wird das hinschwappen? Wie werden nun eine große Anzahl der Westdeutschen, sagen wir mal, ihre Größe messen können, wenn sie sich nicht mehr vergleichen können, wenn wir alle VW und Mercedes fahren, und sie nicht mehr lächeln können über unsere blöden Autos?

Dann wird es ganz neue Erlebensweisen geben oder eine Not, einen Druck, neue Erklärungen, neue Opfer, neue arme Brüder und Schwestern zu schaffen — nur um im Gleichgewicht zu bleiben. Also, die Labilisierung liegt nicht nur bei uns, sondern sie liegt auch bei den Westdeutschen im vereinten Deutschland.

Die seelischen Gefahren sind allerdings für die Westdeutschen sicherlich insofern etwas geringer, wenn wir wenigstens nur angeschlossen werden. Denn andernfalls wäre es ja sicherlich für einen Großteil von ihnen auch irgendwie eine Kränkung: Sie waren die ganzen vierzig Jahre das aktivere, clevere, erfolgreichere, international anerkanntere Volk, und nun sollen sie sich mit diesem doch kleinen, nicht so effektiven Land, was von allen diesen traditionellen Werten von Leistung weniger erreicht hat, auf einen Kompromis einlassen? Wozu eigentlich? Was haben dann die eigenen Werte noch für eine Bedeutung? Andererseits würden wir aber als DDR-Bürger, wenn wir angeschlossen werden, zum zweiten Mal unsere Identität aufgeben müssen. Erst konnten wir mit der Schuld, die unsere Väter, unsere Großeltern getragen haben im Faschismus ebenso wenig weiterleben wie die Westdeutschen, und jetzt dürfen wir wieder nicht zu unserer Vergangenheit stehen, die nun mit dem Wort Stalinismus belastet ist. Wer sind wir denn eigentlich dann?

Wir waren ja auch immer irgendwie gern gesehene Gäste, wenn wir in den Westen kamen, oder wir wurden gefördert, gestützt. Wohlwollen war da. Und das ist doch schon längst umgeschlagen. Die DDR-Bürger, die jetzt rüberkommen, werden doch schon — ich denke, auch mit Recht — eher abgelehnt, es ist kein Verständnis mehr vorhanden. Zunehmend hört man Ängste drüben: Was wird, wenn die Einheit kommt?

Wir sind auch schon die neuen Sündenbö>

Ich denke, die einzige Hoffnung, die wir hätten — ich denke, sie ist schon verspielt — wäre die gewesen, dass wir uns wirklich noch zwei, drei Jahre Zeit ließen, um zu einer größeren inneren Reife, zu einer inneren Demokratisierung zu kommen, dass wir wirklich, sagen wir mal, erhobenen Hauptes mit unserer Würde ein Deutschland wieder bilden können.

Dass wir weder als arme Brüder und Schwestern kommen, denen geholfen werden muss, noch eben als Ex-Stalinisten oder als welche, die jetzt Unruhe schaffen. Dass eine Reife kommen kann, eine innere Bewältigung der Probleme, die wir in uns tragen.

Ich meine, dass es auch eine Chance wäre, wenn wir diesen Weg gehen würden, auch wieder so manchem Westdeutschen vielleicht ein bisschen Mut zu machen, selbst mal wieder nach innen zu schauen und selbst innezuhalten und sich zu fragen: „Ja, wir leben zwar in einem der reichsten Länder der Welt, aber leben wir glücklich?“ Dass wir auf diese Weise eine neue gesunde Politisierung nach Deutschland bringen.

Das wäre — ist — eine Chance, die wir durchaus für uns nutzen könnten, die uns auch besser anstehen würde als nur den Westen nachahmen zu wollen.


PS: Ein 22-minütiger Ausschnitt aus dieser Sendung kann hier angehört werden.

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Das Umweltdilemma
Mittwoch, 13. November 2019, 13:00 Uhr
~9 Minuten Lesezeit

Das Umweltdilemma

Sero und Giftmüll, Versorgung und Ökologie — die Herrschenden missbrauchen die Probleme der DDR für ihre Propaganda.

von Susan Bonath

Foto: pixelklex/Shutterstock.com

Verschmutzte Gewässer, Smog in den Industriegebieten: Die Umweltbilanz der DDR war teils verheerend. Diesen Fakt schlachtet die westdeutsche Elite bis heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, für ihre Propaganda aus. Um die Lohnabhängigen zu treuen Marktgläubigen zu erziehen, verschweigt sie aber nicht nur die Ursachen, sondern auch fortschrittliche Aspekte, die es gab.

„Katastrophale Belastungen“

Kurz nach dem Mauerfall beschloss die DDR-Regierung unter Hans Modrow, eine deutsch-deutsche Umweltkommission zu gründen. Erstmals tagte diese im Februar 1990. Luft, Gewässer und Böden seien „zum Teil katastrophal belastet“, fasste das BRD-Kabinett unter Helmut Kohl (CDU) drei Monate später mit Blick auf die von der Kommission erhobenen Daten zusammen.

Danach konzentrierten sich mancherorts bedenkliche Mengen Schadstoffe in der Luft. Die Werte für die Emissionen von Schwefeldioxid und Staub lagen im Schnitt um ein Vielfaches höher als auf dem Gebiet der damaligen Bundesrepublik. In den Industriegebieten häuften sich Atemwegs- und Hauterkrankungen, hieß es. Viele Wälder wiesen starke Schäden auf.

Auch wurde ein großer Teil der Abwässer ungeklärt in Flüsse oder Seen geleitet. Laut Kommission war gerade einmal jeder dritte Haushalt an eine Kläranlage angebunden. Im alten Bundesgebiet seien dies damals gut 90 Prozent gewesen. Die Elbe galt als einer der am stärksten belasteten Flüsse Europas.

Die meisten der rund 13.000 Müllkippen waren demnach „wild“, wurden also ohne Rücksicht auf Umweltschäden betrieben. Vor allem militärische und industrielle Altlasten hatten vielerorts die Böden vergiftet. Durch den Abbau der Braunkohle und die intensive Landwirtschaft erodierte der Boden. Die Förderung von Uranerz durch die SDAG Wismut sorgte für eine hohe Strahlenbelastung.

Repariert und wiederverwertet

Dem entgegen steht scheinbar die Selbstverpflichtung der DDR. So hatte sie in ihrer Verfassung schon 1968 als eines der ersten Länder weltweit festgeschrieben: „Im Interesse des Wohlergehens der Bürger sorgen Staat und Gesellschaft für den Schutz der Natur.“ Im Jahr 1972 gründete die DDR als internationale Vorreiterin ein Umweltministerium. Wie passt das zusammen?

Zunächst: Es gab durchaus eine fortschrittliche Seite der DDR-Umweltpolitik. Wer dort aufgewachsen ist, dem ist das Sero-System — „Sero“ war die Abkürzung für Sekundärrohstoffe — wohl bekannt. Die Lehrer hielten schon Erstklässler dazu an, Glas, Altpapier und Metalle zu sammeln. An dafür eingerichteten Stellen konnten sie es gegen kleines Geld abgeben. Kindercliquen, die mit Handwagen unterwegs waren, um Zeitungsbündel und Gläser einzusammeln, waren überall zu sehen. Hinzu kam ein umfassendes Pfandsystem. Selbst die Milch wurde in den 1980er Jahren in Pfandflaschen verkauft. Die DDR-Wirtschaft fußte auf Wiederverwertung.

Auch die Haltbarkeit von Konsumgütern — von Möbeln bis hin zu elektronischen Geräten — übertraf die der westdeutschen Waren nicht selten um ein Vielfaches. Die Menschen nutzten die Produkte länger, ließen sie immer wieder reparieren. Dem entgegen stand die westdeutsche Wegwerfgesellschaft zum Zweck der ungebremsten Profitmaximierung in die Taschen der Aktionäre und Konzernbesitzer.

Ebenso schaffte es die DDR, ein ökologisch vorteilhaftes Fernwärmesystem aufzubauen. Viele Haushalte waren daran angeschlossen. Der Staat versorgte sie über Rohrsysteme mit Wärme aus Kraftwerken. So nutzte man die Energie wesentlich effizienter, als dies im Westen der Fall war. Außerdem legte der Staat großen Wert darauf, möglichst viele Flächen unbebaut zu lassen und zu Naturschutzgebieten zu erklären.

Fehlende Rohstoffe, kaum Industrie

Sowohl die (extrem) negativen als auch positiven Aspekte der DDR-Umweltpolitik können nicht unabhängig von den ökonomischen Bedingungen als Lebensgrundlage der Menschen betrachtet werden. Wir müssen den Zustand nach dem Zweiten Weltkrieg, die imperialistische Embargopolitik und die Vorkommen eigener Rohstoffe in die Ursachenforschung einbeziehen.

Das Territorium der sowjetischen Besatzungszone war zum einen durch den Krieg weit drastischer zerstört, als dies im Westen der Fall war. Die Sowjetunion hatte kriegsbedingt mit eigenen Verlusten und tiefgreifenden Verwerfungen zu kämpfen, sodass an Hilfen — wie sie der Westen durch die USA erhielt — nicht zu denken war.

Zum anderen fehlten wichtige Rohstoffe wie Eisenerze und Steinkohle fast vollständig. Eine nennenswerte Schwerindustrie war nicht vorhanden. Von der Vorkriegsproduktion im Deutschen Reich von Roheisen entfiel nur etwas mehr als ein Prozent auf dieses Gebiet, bei Stahl waren es knapp sieben Prozent. Der Anteil an der Steinkohleförderung betrug etwa zwei Prozent. Bei ihrer Gründung 1949 besaß die DDR nur ein einziges Hüttenwerk mit vier technisch komplett veralteten Hochöfen, während die BRD über mehr als hundert moderne Hochöfen verfügte. Vor 1945 erhielt der Osten rund 7,5 Millionen Tonnen Steinkohle sowie zwei Millionen Tonnen Eisen und Stahl pro Jahr aus dem Ruhrgebiet. All dies fiel fast vollständig weg.

Außerdem musste die DDR erhebliche Leistungen zur Wiedergutmachung, vor allem an die Sowjetunion und die Volksrepublik Polen, erbringen. Diese Kriegsfolgen verschärften die wirtschaftliche Lage der DDR massiv. Trotzdem musste das Land zunächst vor allem eins: Eine 16- bis 17-Millionen-Bevölkerung versorgen.

Kalter Wirtschaftskrieg

Schon aus diesem Grund war die DDR an einem reibungslosen Handel mit der BRD interessiert. Sie strebte sogar perspektivisch eine Wiedervereinigung an. Doch die imperialistischen Westmächte schwenkten auf den Kurs des Kalten Krieges. Mit einer harten Embargopolitik erhöhten sie den wirtschaftlichen Druck, hinzu kamen gezielte Störmaßnahmen. Man wollte das kleine Land, das den sozialistischen Weg zu gehen versuchte, in die Knie zwingen und für den Markt zurückerobern.

Der Kalte Krieg begann bereits vor der Gründung der DDR. Westdeutsche Konzerneigner verlegten möglichst große Teile ihres Betriebseigentums. In der sowjetischen Besatzungszone dennoch produzierte Güter verließen zuhauf auf Schmuggelwegen das Territorium. Konzerne lockten ostdeutsche Fachleute mit hohen Gehältern, teilweise setzten die diese auch unter Druck, viele verließen den sowjetischen Sektor. Die Ruhrnachrichten prognostizierten kurz nach der Gründung der DDR zynisch, das Land werde das Jahr 1950 nicht erleben.

Schließlich schwenkten die Westmächte mit der Gründung der NATO endgültig hin zum Wirtschaftskrieg, zum einen über Preispolitik und Boykotts, zum anderen über die sogenannte „Treuhandstelle für Interzonenhandel“ als Handelspuffer.

Ein von der DDR gesetzlich verankertes und von der BRD gefordertes innerdeutsches Handelsschutzrecht verweigerte der Westen und operierte stattdessen mit diversen Durchführungsverordnungen und Erlassen. Besonders aggressiv eiferte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) gegen den Handel mit der DDR. Dieser und weitere Industrielle gaben den Ton an.

Bereits 1950 führten die USA sogenannte Embargolisten in der BRD ein. In „Dienststellen der Wirtschaftsabwehr“ wurden Sabotagepläne ausgearbeitet. Die ohnehin schon stark reglementierte Interzonenhandel brach gewollt immer stärker ein. Das Stahlembargo zum Beispiel sollte die Entwicklung der Schwerindustrie in der DDR massiv behindern. Nach eigener Aussage wollten die Westmächte den Lebensstandard im Osten zum Sinken bringen und so konterrevolutionäre Umsturzbewegungen fördern.

Mangel und Vorrang der Versorgung

In der Folge mangelte es an Rohstoffen aller Art für so gut wie jede Industrie beziehungsweise bereits für den Aufbau einer solchen. Das heißt: Die DDR war gezwungen, als oberstes Ziel die Versorgung der Bevölkerung zu deklarieren. Genügend Energie musste erzeugt, Nahrungsmittel mussten angebaut und hergestellt sowie Güter des täglichen Bedarfs irgendwie produziert werden. Die Lausitzer Braunkohle und Ackerflächen wurden zu den wichtigsten Rohstoffen in der DDR.

Wenngleich menschliche Fehler mit Gewissheit auch eine Rolle spielten, so muss der Kalte Krieg des Westens dennoch als Hauptgrund für die desaströse ökologische Bilanz angesehen werden.

Damit war die DDR-Wirtschaft aber zugleich gezwungen, auf Haltbarkeit zu produzieren. Wohingegen langlebige Güter dem kapitalistischen Wirtschaftsmodell komplett entgegenstehen. Privateigentümer von Produktionsmitteln müssen möglichst viel und immer mehr Waren verkaufen, da sie ein einziges Ziel haben: Profitmaximierung.

In der DDR gab es kein nennenswertes Privateigentum an Produktionsmitteln. Der Aspekt der Profitmaximierung in private Taschen fiel weg, der Mehrwert verschwand nicht in den Taschen weniger Reicher, sondern landete beim Staat. Nur deshalb konnte die DDR-Regierung trotz aller Reparationen, Embargos und des Zwanges, Devisen für den Handel zu beschaffen, binnen weniger Jahre ein Sozialsystem errichten, das bis heute seines gleichen sucht.

Aus Fehlern lernen

Hätte die DDR aber trotz der Versorgungszwänge mehr Umweltschutz betreiben können? Die Antwort heißt wahrscheinlich Ja. Deshalb müssen die Fehler der DDR-Politik genauso kritisch beleuchtet werden, wie die so propagandistische wie demagogische Verknüpfung von Umweltdesaster und Sozialismusversuch. Nur aus dem Anerkennen von Fehlern kann ein Lernprozess entstehen.

Definitiv hätte die DDR mehr in die Renaturierung sowie das Auffangen und Aufbereiten von Abwässern investieren müssen. Großteils unbegründet war auch ihr diktatorischer Umgang mit Umweltbewegungen, die sich in den 1970er Jahren herausgebildet hatten. Die Staatssicherheit bewachte die Gruppen und Aktivisten nicht nur, sondern behinderte auch massiv ihre Arbeit.

Natürlich gab es unter diesen Umweltaktivisten nicht wenige, die zugleich politisch opponierten. Wohl rechtfertigte das nicht das insgesamt wenig differenzierte, repressive Vorgehen gegen alle Engagierten. Viele Kritiker der Umweltpolitik waren wahrscheinlich nicht einmal gegen den Sozialismus-Versuch. Ähnlich zeigte sich dies ja auch 1989, als die meisten „Oppositionellen“ sich lediglich für eine demokratischere DDR aussprachen. Eins muss man festhalten: Die Führung vermied zusehends den Diskurs mit der Bevölkerung.

Zu kritisieren ist ebenso der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), den der sogenannte Ostblock 1949 als sozialistisches Pendant zum Kalten Krieg unter Führung der Sowjetunion gegründet hatte. Der RGW erfüllte seine zu Anfang anvisierten Ziele in den 40 Jahren nicht:. Nie kam es zu demokratisch erarbeiteten Wirtschaftsplänen, um den Aufbau eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets zu forcieren. Egoistische Ziele der einzelnen Staaten blieben vordergründig.

Ein Minizeitfenster

Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall sehen wir noch immer gravierende Unterschiede zwischen Ost und West. Geringere Löhne, niedrigere Renten und weniger Perspektiven für Lohnabhängige statt Kohls versprochenen „blühenden Landschaften“ sind Teil der kapitalistischen Agenda. Und die kapitalistische Privatwirtschaft opfert gerade unserer Umwelt für ihre gigantische Profitmaximierungsmaschine.

Sinnbildlich gesprochen sind 30 Jahre nur ein Katzensprung. 40 Jahre DDR sind kaum mehr. Man darf nicht vergessen, dass die DDR aus einem zerbombten, ökonomisch fast komplett zerstörten Land entstanden war, das viele Jahre damit zu kämpfen hatte, seiner Bevölkerung überhaupt eine Grundversorgung zu sichern. Es mangelte an allem. Die Wissenschaft und das Umweltbewusstsein waren längst nicht so weit entwickelt wie heute — auch im Westen nicht. Die Bedingungen, verschärft durch den Kalten Krieg, waren mehr als dürftig.

Utopisch ist es, anzunehmen, man hätte unter diesen Bedingungen einen perfekten, ökologischen Sozialismus aufbauen können. Zumal sich die wenigen Länder, die den Sozialismusversuch gewagt hatten, entscheiden mussten zwischen einem ökonomischen Rückfall ins Mittelalter und einer Anbiederung an den sie umgebenden kapitalistischen Markt. Stalins These, wonach Sozialismus in einem einzelnen Land inmitten einer imperialistischen Profitwirtschaft möglich und zu halten sei, hat sich als Demagogie entpuppt. Schon aus diesem Grunde ist Internationalismus unabdingbar für eine fortschrittliche Bewegung gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur durch die Klasse der Kapitalisten.

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Die Furcht vor der Freiheit
Mittwoch, 13. November 2019, 12:00 Uhr
~9 Minuten Lesezeit

Die Furcht vor der Freiheit

In 40 Jahren DDR hat es die Ideologie des Marxismus-Leninismus nicht fertig gebracht, einen „neuen Menschen“ zu „erziehen“.

von Peter Frey

Foto: N. Veselov/Shutterstock.com

Die kritische Betrachtung dessen, was den Menschen in der DDR im Jahre 1990 versprochen wurde, führt in der Regel zur Erkenntnis, dass diese Versprechen nicht gehalten wurden. Die Mächtigen und die Beherrschten des untergehenden Systems wurden kollektiv Opfer des neuen Systems. Es stellt sich aber die Frage, ob eine solcherart verkürzte Betrachtung für die Herausforderungen der Gegenwart tatsächlich hilfreich ist. Gewiss, die DDR-Bürger wurden zum Konsumismus verführt und hinters Licht geführt. Dass man das mit ihnen machen konnte, hat aber auch damit zu tun, dass die Menschen in ihrer Mehrheit der Sicherheit den Vorzug vor der Freiheit gaben. Die Vielfalt der Optionen, die sich in einer chaotischen Übergangssituation plötzlich auftat, machte ihnen Angst.

Gab es ab 1989 in der DDR weniger einen Systemwechsel als vielmehr einen Machtwechsel? Worin unterschied sich das System der DDR von dem der BRD, wenn wir das Handeln der Menschen im Einzelnen betrachten?

Wenn etablierte Macht — bislang als Glaube in den Menschen manifest — sich auflöst, ergibt sich auch eine ganz neue Möglichkeit der gelebten Rolle: Autonomie.

Diese Rolle muss natürlich zuvor erwogen und idealerweise geprobt worden sein, ansonsten wird sie als Möglichkeit gar nicht erst wahrgenommen, oder aber es wird vor ihr zurückgeschreckt.

Im politischen System der DDR umfasste der Systemwechsel einen Zeitraum von zwei Monaten. Zwei Monate, in denen etwas tatsächlich völlig anderes grundsätzlich möglich schien. Dieses Andere — eh ein zartes Pflänzchen — wurde rasch zertreten.

Die Hinwendung zur neuen Macht wurde entschieden, als die alte Macht noch gar nicht abgetreten war. Dieses Annehmen einer neuen gesicherten Herrschaftsform fand „oben“ wie „unten“ statt. Der Glaube an das bisherige System wurde durch den an das „neue“ System ersetzt.

Am 1. Dezember 1989 beschloss die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), den Führungsanspruch der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) aus der Verfassung der DDR zu streichen (1).

Was so hoffnungsvoll als Auflösung bestehender Machtverhältnisse, hin zu wahrer Basisdemokratie gedeutet werden möchte, war in Wirklichkeit nur die notwendige Entmachtung zur Erweiterung einer bereits existierenden Macht. Macht gewinnt zuerst in den Köpfen und erst danach bestimmt sie reale Prozesse.

In der selben Volkskammertagung wurde bereits deutlich, wohin die Reise gehen würde. Die neuen „Guten“ wagten sich vor und hofierten die gerade im Westen auf Hochtouren laufende Propaganda gegen das „chinesische Regime“, das angeblich in Peking ein Massaker auf dem Tiananmen-Platz angerichtet haben sollte. Das Protokoll gibt wieder:

„Auf derselben Tagung stellte der Abgeordnete Richard Wilhelm den Antrag, dass die Volkskammer sich von der von ihr am 8. Juni 1989 verabschiedeten China-Resolution distanzieren solle“ (2).

Richard Wilhelm, ein CDU-Abgeordneter, sagte wörtlich:

„Das war einer der schwärzesten Tage in der Geschichte unseres Hauses“ (3).

Womit er eine Erklärung der DDR-Volkskammer vom Juni 1989 meinte, in der diese sich gegen die Einmischung in die inneren Belange Chinas gewandt hatte. Die Erklärung führt unter anderem aus:

„Die Abgeordneten der Volkskammer stellen fest, dass in der gegenwärtigen Lage die von der Partei- und Staatsführung der Volksrepublik China beharrlich angestrebte politische Lösung innerer Probleme infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente verhindert worden ist. Infolgedessen sah sich die Volksmacht gezwungen, Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wiederherzustellen. Dabei sind bedauerlicherweise zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen“ (4).

Die Volkskammer war ein Verein von Jasagern im DDR-Machtsystem. Beschlüsse wurden in 99 Prozent aller Fälle einstimmig gefasst und jeder Abgeordnete hielt sich an die vorgegebene Haltung zu Partei und Staat. Ungeachtet dessen war diese China-Resolution fernab von Klassenkampf und Marxismus-Leninismus. Sie hielt sich an die Regeln des Völkerrechts und wies auf dessen Verletzung hin. Außerdem stützte sie sich auf überprüfbare Fakten und stellte die groben Zusammenhänge jener Tage in China durchaus richtig dar.

Allerdings: Die sich in diesen Wochen neu erschaffenden - weil ja nicht mehr sozialistisch-kommunistisch geprägten — Demokraten befassten sich nicht mit den akuten Problemen des Staates DDR, den sie doch noch immer zu vertreten hatten. Sie holten sich statt dessen Themen ins Haus, an denen sie sich moralisch aufrichten konnten, ohne wirklich ernsthafte Konsequenzen in Bezug auf ihre eigene Rolle im System ziehen zu müssen. Oberflächlich und emotional auftretend, machten sie sich nebenbei für fremde Macht- und Herrschaftsansprüche lautstark bemerkbar.

Meinungsmacht bedeutet, in der Lage zu sein, Geschichte neu zu schreiben. Sie ist tief verstrickt mit jenen, welche die Szenarien produzieren, die zur Schaffung der Narrative — also der veränderten, entwickelten und zu den verfolgten Zielen passenden Geschichten — notwendig sind.

Was Richard Wilhelm damals tat, ist Normalität in der deutschen parlamentarischen Demokratie: Er spreizte sich im Empörungsmanagement, produzierte sich als Fassadendemokrat und verkündete vor aller Welt, dass er verstanden hatte. Eloquent hatte er mit diesem „mutigen“ Schritt ein Zeichen gesetzt, dass er bereit sei, schmerzfrei die Seiten zu wechseln. Er dienerte sich seinen neuen Herren an und kümmerte sich um seine persönliche Perspektive - wie so viele „da oben“.

Und die „da unten“ — waren die anders? Oder handelten sie auf ihrer Ebene nicht ähnlich, weil Menschen nun einmal so gestrickt sind?

Der weitgehend abgeschlossene Wechsel des Systems manifestierte sich im Wechsel der primären Identifikation innerhalb der Gesellschaft:

von: „Wir sind DAS Volk!“
zu: „Wir sind EIN Volk!“

Als Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 an der Ruine der Dresdner Frauenkirche vor einem Meer von Deutschland-Fahnen — Wo kamen die eigentlich plötzlich her? — seinen Appell an die „Brüder und Schwestern im Osten“ hielt, waren die Würfel gefallen. Diese Rede war eine einzige Inszenierung, sowohl für die Menschen der DDR und der BRD, wie auch für die Weltöffentlichkeit. Aber es war eben auch eine Rede, die letztlich von der großen Mehrheit dankbar angenommen wurde. Selbst die sogenannten Hochrufbrigaden — zuvor Stimmungsmacher bei Veranstaltungen der Partei- und Staatsführung —, über die sich DDR-Bürger eher amüsierten, erlebten an jenem Dresdner Abend eine Neuauflage (5).

Das gesellschaftliche Bewusstsein fiel wieder dahin zurück, wo es hergekommen war: in die Rolle von Schafen. Schafe, die nun einen neuen Herrn gefunden hatten.

Die alten Herren freilich, mussten sich neue Herren suchen oder sich in der bisherigen Rolle mit diesen neuen Herren arrangieren.

Schafe die Sicherheit gesucht hatten - das ist eine emotionale Grundlage jedweden Herrschaftsverhältnisses — bekamen die Sicherheit. Sie bekamen sie zurück. Die Macht war nur anderer Natur. Auch unterschied sie sich in der Doktrin, in ihrer Ideologie. Doch was beide Systeme boten, das war Sicherheit.

Sicherheit ist allerdings nicht zu verwechseln mit Freiheit. Denn wirklich gelebte Freiheit offenbart sich in Autonomie.

Die Freiheit, etwas Neues zu wagen, fordert das Verlassen von Sicherheit explizit heraus. Sie meint das Wagnis, aus denen so viel beruhigende Sicherheit versprechenden Grenzen auszubrechen. Sicherheit ist in gewisser Weise — und aus einer anderen Perspektive betrachtet — auch ein Gefängnis, ein selbst gewähltes.

Die DDR gab Sicherheit — Sicherheit in Strukturen, aber vor allem soziale Sicherheit, und es war vor allem der drohende Verlust eben dieser, der die Auflösung der etablierten Machtverhältnisse vorantrieb. Das zu beschleunigen, bedurfte es nur kleiner, aber trotzdem sehr wirkmächtiger Antriebe von außerhalb. Hundert Deutschlandfahnen vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche im Dezember 1989 waren eine dafür allemal lohnende Investition.

Was versprachen die Opportunisten, der von den Parteien des Westens hochgepäppelten Parteien der nunmehr aufgelösten „Nationalen Front“?: Keine Experimente.

Sie spielten mit der Angst einer Wiederkehr von Kommunisten und Stasi und boten an: Sicherheit.

Sie taten das, was bis zum heutigen Tag bei jeder Wahlkampagne innerhalb des parlamentarischen Systems geschieht. Wenn wir allein unseren Emotionen folgen, können wir ein solches Angebot einfach nicht ausschlagen.

Schafe tun nicht. Aber mit ihnen wird getan.

Die Perspektive der Zehntausenden, welche in jener Zeit — der zwischen dem Wechsel des Herrschaftssystems — die DDR verließen, war eh nie anders.

Am 18. März 1990 fanden vorgezogene Wahlen zur DDR-Volkskammer statt (Hervorhebung durch Autor):

„Die Wahlbeteiligung liegt bei über 93 Prozent. Wahlsieger ist die ‚Allianz für Deutschland‘, ein Bündnis aus CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und Deutscher Sozialer Union (DSU). Sie erhält 48 Prozent der Stimmen, während auf die SPD 21,9 Prozent entfallen. Die PDS ist mit 16,3 Prozent drittstärkste Kraft. Bündnis 90, die Träger der friedlichen Revolution erhalten nur 2,9 Prozent. Die Wähler stimmen damit für die Deutsche Einheit, westliche Demokratie und Soziale Marktwirtschaft“ (6).

Die wirklich Mutigen waren immer in der Minderheit. Die Wähler aber — das waren WIR. Jene, die damals ihre politische Verantwortung nutzten, um das Kreuzchen dort zu machen, wo es notwendig war. Denn wir wollten schnell im Hafen der Marktwirtschaft ankommen. Wir wurden nicht betrogen, sondern haben uns selbst dafür entschieden, zukünftig in einer Ellbogengesellschaft zu leben, in der Karriere, Vermögen und Kicks das Lebenselixier sind. Dafür ließen wir uns gern das Märchen von den blühenden Landschaften erzählen.

Aber das war kein Verrat an der DDR, wie man es damals die Gegner einer schnellen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten oft nannten. Es war ein Verrat an unserem zutiefst immanenten Streben, ein tatsächlich selbstbestimmtes und in Kollektiven organisiertes Leben anzustreben.

Wobei der Autor mit dieser Aussage keine Wertung implizieren mag. Er stellt die Dinge schlicht fest.

Wir in der DDR - deren Bürger auch ich war — waren unzufrieden mit den Herrschenden und wollten einfach nur besser behandelt werden. Nun haben wir — die Klasse der ehemaligen DDR-Bürger - neue Herren, mit denen wir ebenfalls nicht zufrieden sind.

Dahinter verbirgt sich die tief verinnerlichte Unzufriedenheit, nicht selbst Herr zu sein — Herr über sich selbst.

In 40 Jahren DDR hatte es die Ideologie des Marxismus-Leninismus nicht fertig gebracht, einen „neuen Menschen“ zu „erziehen“. Sie hatte die Menschen lediglich diszipliniert. Als der Glaube an die institutionelle Macht dieser Ideologie wegbrach, hielten sich die Menschen auch nicht mehr an deren Regeln.

Die Kraft der auf Eigentum basierenden Ideologien — und der Kapitalismus beruht auf einer solchen — liegt in ihrer Fokussierung auf bestimmten, uns zutiefst innewohnenden und lebensnotwendigen Verhaltensmustern. Sie triggert Verlustängste und produziert so Gier. Diese Gier — über das „normale“ Maß hinaus, empfinden wir tief in uns durchaus als unseren ethischen Prinzipien widersprechend. Die resultierende Schuld lässt sich mit Ideologie kompensieren. Daraus resultiert ein innerhalb des kapitalistischen Systems schwer lösbares Problem für den Einzelnen.

Doch gibt es für jeden Menschen die spannende Perspektive, im eigenen Denken und Handeln - Handeln impliziert übrigens auch den gedanklichen Austausch — das System zu verlassen. Als die DDR unterging, nutzten wir die Chance nicht.

Bitte bleiben Sie schön aufmerksam.

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Wehe den Besiegten!
Mittwoch, 13. November 2019, 12:00 Uhr
~21 Minuten Lesezeit

Wehe den Besiegten!

Nach der Wiedervereinigung wurden Waffen und Knowhow der NVA ausgeschlachtet und landeten schließlich bei NATO und Bundeswehr. Exklusivabdruck aus „Waffenschmiede DDR“.

von Uwe Markus

Foto: DONOT6_STUDIO/Shutterstock.com

Selten hatte in der Geschichte ein Land die Gelegenheit, sich Armee und Ausrüstung eines anderen anzueignen, das zuvor als „feindlich“ gegolten hatte. Nach der Wende stand Westdeutschland vor dem Dilemma, die Nationale Volksarmee (NVA) zwar immer noch insgeheim zu verachten, jedoch zugeben zu müssen: wir können sie gut gebrauchen. Jedenfalls Waffen und Ausrüstung und auch militärisches Knowhow. Die soziale Absicherung der Soldaten, die in den Wendejahren oftmals ihre Stellung verloren, hielt man für vernachlässigbar. Dem bestehenden Dilemma begegnete die Bundesrepublik Deutschland mit einer Doppelstrategie. Sie baute erstens einseitig die Bestände der NVA ab, um in jener Epoche der Entspannungspolitik ihre Abrüstungsverpflichtungen zu erfüllen, und ließ indes die Bundeswehr in ihrer alten Stärke bestehen. Zweitens wurde alles Verwertbare aus der DDR-Armee der Bundeswehr hinzugefügt — und mehr noch: den NATO-Partnern zur Verfügung gestellt, bei denen man sich lieb Kind machen wollte. Ein Blick auf einen vergessenen und verdrängten Aspekt der deutschen Geschichte.

Als mit der DDR ihre Streitkräfte abgewickelt wurden, verschwanden die Waffen- und Ausrüstungsbestände der NVA aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Wen interessierte schon die scheinbar nutz- und wertlose militärische Hinterlassenschaft jenes Staates, den man als historischen Sperrmüll entsorgte und der nach dem Willen mancher Politiker zukünftig lediglich eine Fußnote der Geschichte wert sein sollte?

Auch die Unternehmen der Speziellen Produktion benötigte der neue, alte deutsche Staat nicht. Für die Ausstattung der Bundeswehr sorgten die etablierten Wehrtechnikhersteller der Bundesrepublik. Die Zeichen standen auf Abrüstung, was schrumpfende Auftragseingänge im Wehrtechnikbereich erwarten ließ. Die ostdeutschen Unternehmen der Branche waren plötzlich unliebsame Konkurrenten auf den angestammten Märkten des Westens, an deren Erhalt kein westdeutscher Wirtschaftsführer oder Politiker Interesse haben konnte. Sie hatten in Bonn keine Lobby, ohne deren segensreiches Wirken das Geschäft im Wehrtechnikmarkt noch nie funktionierte. Die Währungsunion brachte den Unternehmen der Speziellen Produktion zudem den Zusammenbruch der Ostmärkte, weil die Kunden die nun geltenden D-Mark-Preise nicht zahlen konnten.

Der deutsche Staat in Gestalt der Spitzen von Bundesverteidigungsministerium und Bundeswehr sah keine Veranlassung, durch Aufträge die Marktchancen der im freien Fall befindlichen ostdeutschen Wehrtechnikunternehmen zu verbessern. Bei der Begründung dieses Vorgehens wurde bewusst unterschlagen, dass auch die traditionelle Wehrtechnikproduktion im Westen durch direkte und indirekte öffentliche Subventionen gestützt wird und wettbewerbsverzerrende industriepolitische Interventionen der Staaten zugunsten ihrer Rüstungsunternehmen eher die Regel als die Ausnahme sind.

Daher bedurfte es einer tragenden kommunikationspolitischen Idee für die Abwicklung häufig modern ausgerüsteter ostdeutscher Wehrtechnikunternehmen. Mit dem Hinweis auf die hohen Anforderungen der internationalen Märkte, den sich verschärfenden Wettbewerb und das angeblich zu geringe technologische Niveau der Produktion im Osten wurden Unternehmen zerschlagen und — der reinen Lehre folgend — häufig unter Wert privatisiert.

Diese günstigen Privatisierungskonditionen lockten Interessenten an, die sich geübten Auges die Filetstücke aus der Konkursmasse der einstigen DDR-Rüstungsindustrie herauspickten. Die Mitarbeiterzahlen der privatisierten Unternehmen wurden dabei in der Regel drastisch reduziert. Nur für geringe Teile der alten Belegschaften erfüllte sich die Hoffnung, den in Ostdeutschland einsetzenden Deindustrialisierungsprozess unbeschadet überstehen zu können.

Manche der einstigen DDR-Rüstungsunternehmen sind nach wie vor in der Wehrtechnikbranche tätig.

Aus dem Instandsetzungswerk Ludwigsfelde wurde ein Unternehmen des zur EADS-Gruppe gehörenden Konzerns MTU. Am Standort Ludwigsfelde wurde der größte Serienprüfstand für Propellertriebwerke in Westeuropa errichtet. Die für den europäischen Militärtransporter A400M in Ludwigsfelde endmontierten Triebwerke sollten auf diesem Prüfstand getestet werden.

Der Jenoptik-Konzern ist als Nachfolger des Kombinats Carl Zeiss Jena mit seinen Tochterunternehmen weiterhin im Wehrtechnikmarkt tätig und besetzt die bereits vor 1990 definierten wehrtechnisch relevanten Kompetenzfelder. Das Sprengstoffwerk Schönebeck gehörte 2010 wie das Nachfolgeunternehmen des Instandsetzungswerkes Pinnow zur skandinavischen Nammo-Gruppe, die unter anderem mit der Herstellung von Munition ihr Geld verdient.

Auch das Unternehmen Pyrotechnik Silberhütte im Harz, das bis 1990 Fallschirmnotsignale, Übungsmunition, Leucht- und Signalmunition, Nebelmunition für Panzer und Schiffe sowie Radartäuschkörper produzierte, war vor zehn Jahren als 100-prozentige Tochter der Firma Rheinmetall wieder im Wehrtechnikgeschäft. 90 Prozent der damaligen Produktion waren militärische Erzeugnisse, wie Leucht- und Signalmunition, Simulatoren, Täuschkörper, Reizstoffprodukte und pyrotechnische Munition. Die Abnehmer fanden sich in 30 Ländern.
Die Flugzeugwerft Dresden mutierte zur Elbe Flugzeugwerft und ist als EADS-Tochter am Umbau militärischer Transportflugzeuge beteiligt. Das Seifhennersdorfer Unternehmen SPEKON produziert wieder Fallschirme für den Bedarf des Militärs.

Das Spreewerk Lübben wurde Teil des US-Konversions- und Rüstungskonzerns General Atomics. Und auch die Peene-Werft Wolgast ist als Unternehmen der Lürssen-Gruppe im Wehrtechnikgeschäft tätig.

Dass die Grundlagen für die heutigen Marktpositionen dieser Unternehmen in der DDR und mit dem Geld der DDR-Bürger gelegt wurden, ist im Strudel des gesellschaftlichen Umbruchs im Osten schnell in Vergessenheit geraten.

Ähnlich wie im Bereich der Speziellen Produktion ist das Bild beim Umgang mit den Sachwerten der NVA. Bereits Ende 1989, Bezug nehmend auf die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE), hatte die DDR eine drastische Verringerung ihres Militärpotenzials angekündigt. Die NVA sollte um 10.000 Soldaten verringert, die Militärausgaben um zehn Prozent reduziert, sechs Panzerregimenter mit 600 Panzern sollten aufgelöst werden. Damit boten sich nicht nur Möglichkeiten für eine Verringerung der Spannungen in Europa, sondern auch für eine Entlastung der ostdeutschen Volkswirtschaft.

Dass Investitionen in die Sicherung der Landesverteidigung immer Mittel binden, die in anderen Bereichen fehlen und dass Aufwendungen für das Militär ökonomisch so wirken, als würde man Geld aus dem Fenster werfen, war auch den politischen Entscheidern der DDR klar. Bis auf jene Erzeugnisse und Leistungen, mit denen sich Devisen erwirtschaften ließen, hätte man gerne auf die Spezielle Produktion verzichtet. So wurden bis zum März 1990 verschiedene Konzeptionen für die weitere Abrüstung der NVA und die Umstellung von Rüstungsunternehmen auf die Herstellung ziviler Produkte entwickelt.

Noch am 16. März 1990 — zwei Tage vor der Volkskammerwahl — beschloss die Modrow-Regierung die Bildung eines Amtes für Abrüstung und Konversion als nationale Abrüstungsbehörde. Auch praktische Abrüstungsschritte wurden in dieser Zeit eingeleitet. So waren bis Ende Mai 1990 bereits 346 Kampfpanzer demilitarisiert und 230 Panzer für die Demilitarisierung vorbereitet worden. 21 dieser Fahrzeuge wurden für Verwendungen in der Volkswirtschaft sowie als Berge- und Räumfahrzeuge für Katastrophenfälle umgebaut. 50 Kampfflugzeuge wurden entweder verschrottet oder funktionsuntüchtig gemacht und anderen Zwecken zugeführt, zum Beispiel als Exponate für Museen. 27 Startrampen für den Einsatz operativ-taktischer Raketen wurden außer Dienst gestellt.

Die für die Abrüstung Verantwortlichen der Modrow-Regierung hatten — zunächst in Erwartung eines länger währenden Vereinigungsprozesses und einer weiteren Existenz der DDR im Rahmen einer Konföderation — das Schwergewicht auf eine volkswirtschaftlich abgestimmte, langfristige Konversion gelegt.

Mit dem Regierungswechsel im Frühjahr 1990 änderte sich an dieser generellen Orientierung offiziell zunächst nichts. Der von seinen westdeutschen Beratern betreute neue Minister für Abrüstung und Verteidigung Rainer Eppelmann forcierte nun jedoch vor allem die Umsetzung der bereits von der Vorgängerregierung beschlossenen Festlegungen zur Vernichtung von Militärtechnik. Das zielte — jenseits offizieller Verlautbarungen — nicht mehr nur auf die Abrüstung oder die Entlastung der DDR-Volkswirtschaft, sondern auf die sukzessive Ausschaltung der NVA als Machtfaktor im Land.

Kurz nach dem Regierungswechsel gingen fast alle politischen Akteure offiziell von der zumindest mittelfristigen Fortexistenz beider deutscher Staaten und ihrer Streitkräfte aus. So äußerte sich auch der neue Minister für Abrüstung und Verteidigung. Doch hinter der Fassade bürokratischer Betriebsamkeit wurden die Weichen für die Zerschlagung der NVA gestellt. Die neue DDR-Regierung meinte, die Streitkräfte und ihr Offizierskorps zunächst einhegen und verbal beruhigen zu müssen, um zu verhindern, dass von dieser Seite Widerstand gegen die Politik zur Demontage der DDR geleistet würde. Immer wieder tauchten zum Teil bewusst gestreute Gerüchte auf, die NVA könne mit einem Putsch die DDR übernehmen. Vernichtete man die Waffen, nahm man der Armee — vor allem dem Offizierskorps — die Existenzberechtigung. Die Befürchtungen des Ministers und seiner Berater erwiesen sich zwar als völlig unbegründet, doch die beschleunigte Aussonderung und Verschrottung von Bewaffnung und Ausrüstung schienen ein gut zu kommunizierender Einstieg in die Entsorgung der ganzen Armee zu sein.

Gegen Abrüstung und die Verringerung der Streitkräfte konnte angesichts der Veränderungen in der Welt niemand etwas haben. Scheinbar war nun der Zeitpunkt für den Genuss der volkswirtschaftlichen Entspannungsrendite gekommen. Um die Gemüter in den Führungsstäben der Armee und in den Kasernen zu beruhigen, wurde in der Öffentlichkeit ausgiebig über die Perspektiven für die Entwicklung einer umstrukturierten, reduzierten NVA und ihre Fortexistenz als Teil einer gesamtdeutschen Armee diskutiert. Und auch um die sozialen Belange der Berufssoldaten und Zivilbeschäftigten wollte man sich kümmern.

Die Verwertung des NVA-Sachvermögens sollte dafür finanzielle Spielräume schaffen. Eine vom Finanzministerium und dem Ministerium für Abrüstung und Verteidigung erarbeitete Beschlussvorlage für den Ministerrat der DDR vom Juli 1990 sah vor, dass „Veräußerungserlöse von NVA-Vermögenswerten (…) als Finanzierungsquelle für die Lösung der sozialen Fragen innerhalb der NVA und für die Bereiche der Konversion, die nur Aufwand erfordern und keine Erlöse bringen, genutzt werden (müssen).“

Diese Vorschläge blieben jedoch aus durchsichtigen Gründen in ministerialen Warteschleifen hängen, bis sie von den politischen Entwicklungen überrollt wurden.

Für den sozialen Bestandsschutz der NVA-Berufssoldaten und Zivilbeschäftigten, die mancher als privilegierte Stützen des in Auflösung befindlichen Staates ansah, mochte sich kaum einer der die DDR abwickelnden Politiker über allgemeine Absichtserklärungen hinaus einsetzen.

So scheiterten folgerichtig auch Versuche, entsprechende Festlegungen im Einigungsvertrag zu verankern. Am 18. Juli 1990 unterbreitete die Hauptabteilung Allgemeine Angelegenheiten der Abrüstung im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung Vorschläge für eine zeitlich über drei bis vier Jahre gestreckte, sozial verträgliche personelle Reduzierung der NVA, die in den Staatsvertrag zur Herstellung der Einheit einfließen sollten. Doch die Tatsache, dass der Staatsvertrag zweckentsprechend zum politischen Exitus eines der beiden Verhandlungspartner führte, hätte selbst bei Berücksichtigung dieser Vorstellungen im Vertragstext kaum etwas an der schließlich an der NVA exekutierten Auflösungspraxis geändert.

Mit den Unterschriften des Ministers für Abrüstung und Verteidigung, des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten und des Ministers für Wirtschaft der noch existierenden DDR wurde am 7. August 1990 eine Vorlage über die Bildung einer Regierungskommission für Abrüstung und Konversion bestätigt. Das Wirtschaftsministerium sollte für die „zivile Verwendung bisher militärisch genutzter Produktions-, Forschungs- und Dienstleistungskapazitäten sowie die Eingliederung von bisherigen Arbeitskräften bei Sicherung eines neuen marktfähigen Produktionsprofils der betreffenden Bereiche“ Sorge tragen und die Ministerien für Abrüstung und Verteidigung und des Innern „…bei der Organisation der Verwertung/Verwendung auszusondernder Militärtechnik und Bewaffnung durch Unternehmen der Industrie“ unterstützen.

Diese zunächst noch offiziell gültige Orientierung auf eine volkswirtschaftlich sinnvolle Verwendung frei werdender Mittel und Produktionskapazitäten im Interesse der DDR-Volkswirtschaft und der Ostdeutschen findet sich auch im Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990, das am 22. August vom Ministerrat der DDR bestätigt wurde. Demnach sollte ausgesondertes Militärvermögen der Treuhandanstalt übertragen werden und damit für Investitionen in der DDR zur Verfügung stehen.

Doch durch die Wirtschaft- und Währungsunion waren diese Festlegungen im Grunde schon bei ihrer Inkraftsetzung Makulatur und dienten in der Folgezeit eher als Nebelkerzen bei der Forcierung des Beitrittsprozesses. Die baldige deutsche Einheit im Blick, ging es den verantwortlichen Politikern der DDR offenkundig nicht mehr um eine längerfristig angelegte, volkswirtschaftlich ausgewogene Abrüstung und Reduzierung der NVA, sondern um die schnellstmögliche Beseitigung dieser politisch nicht gewollten Erblast.

Mit Befehl Nummer 31/90 vom 16. August 1990 über Maßnahmen zum Verkauf von Material und Ausrüstung aus den Beständen der NVA und der Einbeziehung privater Unternehmen in die Verwertung militärischer Ausrüstung wurde durch den Minister für Abrüstung und Verteidigung ein Verkauf von Sachwerten der NVA in Gang gesetzt, der bis zum 3. Oktober 1990 ein Umsatzvolumen von 600 Millionen bis zu einer Milliarde D-Mark erreicht haben soll.

Die am 30. August 1990 per Ministerbefehl erlassene Ordnung für die technische Abrüstung und Verwertung von Wehrmaterial der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR — Technische Abrüstungsordnung — legte, dieser Intention offenbar folgend, in Abschnitt 2 fest, dass für die technische Abrüstung und Verwertung des NVA-Wehrmaterials eine eigenständige Abrüstungsbehörde die Rechtsträgerschaft übernimmt. Diese Behörde wurde bevollmächtigt „(…) abzurüstendes Wehrmaterial und Objekte als Anteile in Verwertungsunternehmen einzubringen. Die Zwischenlagerung und Verwertung ausgesonderten Wehrmaterials kann staatlichen und privaten Unternehmen übertragen werden.“

Damit wurde bereits im Spätsommer 1990 der Weg für die Einbindung interessierter privatwirtschaftlich tätiger Unternehmen in den Vermarktungsprozess von NVA-Sachwerten frei gemacht. Im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung im Brandenburgischen Strausberg gaben sich Vertreter westdeutscher Verwertungs-, Konversions- und Rüstungsunternehmen die Klinke in die Hand, um an der bereits begonnenen und noch zu erwartenden massenhaften Vermarktung und Vernichtung von NVA-Wehrtechnik und Munition partizipieren zu können.

Allerdings erwies sich diese kommerzielle Betriebsamkeit nur als Vorspiel für die Geschehnisse nach dem Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik.

Sehr schnell wurde klar, dass die internationalen Abrüstungsverpflichtungen (VKSE) der beiden deutschen Staaten vor allem durch die Vernichtung von NVA-Technik erfüllt werden würden, während die Bestände der Bundeswehr nach der Herstellung der staatlichen Einheit dadurch nicht wesentlich reduziert werden mussten.

Überdies: Der einseitige Abrüstungsprozess war mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren. Das versprach gute Geschäfte für jene westdeutschen Unternehmen, die beizeiten ihre Interessen anmeldeten und auf das hilfreiche Wirken ihrer Lobbyisten im Bundesministerium der Verteidigung rechnen konnten.

Und in der Tat: Die Reduzierungsverpflichtungen der nach dem 3. Oktober 1990 in Rechtsnachfolge der DDR handelnden, erweiterten Bundesrepublik bei Kampfpanzern, gepanzerten Kampffahrzeugen, Kampfflugzeugen oder Artilleriewaffen wurden fast vollständig durch die Aussonderung von NVA-Waffen erfüllt.

Allerdings mussten die Abrüstungsverpflichtungen nicht unbedingt durch Verschrottung, sondern durften auch durch den Verkauf konventioneller Waffen erfüllt werden. Wovon die Bundesrepublik aus Kostengründen intensiven Gebrauch machte.

Dadurch änderten sich die Zahlen der durch das vereinte Deutschland abzurüstenden Waffensysteme bis zum Inkrafttreten des KSZE-Vertrages im Jahr 1992. So kamen schließlich von insgesamt 2.566 auszusondernden Panzern 1.914 aus NVA-Beständen. Von 4.257 gepanzerten Kampffahrzeugen, die abzurüsten waren, trugen 4.145 das NVA-Hoheitskennzeichen. 1.344 Artilleriewaffen von 1.632 zu vernichtenden waren von der NVA übernommen worden. Und alle 140 durch die nun größere Bundesrepublik abzurüstenden Kampfflugzeuge sicherten bis 1990 den Luftraum der DDR.

Außerdem konnte die nun auf nur noch 370.000 Mann Truppenstärke festgelegte Bundeswehr auf die Waffen der NVA verzichten. Für 93 Prozent des DDR-Wehrmaterials hatte die Bundeswehr keine Verwendung. Als am 3. Oktober 1990 die Befehls- und Kommandogewalt über die mittlerweile ihres Führungspersonals beraubte NVA an den Bundesminister der Verteidigung überging, begann daher der massenhafte Verkauf von Kriegsgerät und sonstiger Ausrüstung der NVA auf Rechnung der Bundeswehr, was dem Abrüstungs- und Konversionsgedanken sowie dem Treuhandgesetz widersprach. Doch welche normative Kraft konnten die Gesetze eines Staates haben, der sich selbst abgeschafft hatte?

Eine exakte Bestandsaufnahme der NVA-Sachwerte fand nach dem 3. Oktober 1990 ebenso wenig statt wie eine ordnungsgemäße Übergabe und eine seriöse Darstellung des Marktwertes der übernommenen Bewaffnung und Ausrüstung. Wegen des anderen Wehrsystems und der schließlich durch den letzten Abrüstungs- und Verteidigungsminister der DDR und das Territorialkommando Ost der Bundeswehr eifrig betriebenen Entlassung höherer NVA-Offiziere sei eine Bestandserfassung angeblich nicht möglich gewesen.

Damit waren die durch die Vermarktung von NVA-Ausrüstung auf Rechnung der Bundesrepublik oder der Bundeswehr erwirtschafteten Erlöse einer öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogen. NVA-Material wurde zum Nutzen der Bundesrepublik in 70 Staaten geliefert. Die im Auftrag der Bundeswehr agierende Firma VEBEG erzielte im letzten Quartal des Jahres 1990 mit dem Verkauf ausgesonderter NVA-Ausrüstungen 75 Millionen D-Mark Umsatz. Im Folgejahr waren es schon 121 Millionen Deutsche Mark.

Die Dimensionen der Geschäfte mit der Entsorgung der NVA und ihrer Ausrüstung lassen sich anhand einer Aufstellung des ausgesonderten und zu verwertenden Wehrmaterials der NVA aus dem Jahr 1991, also nach Übernahme der Befehls- und Kommandogewalt durch den Bundesminister der Verteidigung, nur erahnen. Die Zahlen belegen indirekt die Erfüllung der für beide deutsche Staaten geltenden VKSE-Verpflichtungen durch die einseitige Verschrottung von NVA-Waffensystemen.

Nicht nur mit der Verschrottung und Vermarktung von NVA-Technik und Ausrüstung öffneten sich für die Bundeswehr und für die von ihr beauftragten Unternehmen renditeträchtige Betätigungsfelder. Die Munitions- und Sprengstoffbestände erweckten ebensolche Begehrlichkeiten. Einer Aufstellung der Verwaltung Rückwärtige Dienste des Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung zufolge, verfügte die NVA 1990 über Munitions- und Sprengstoffbestände in Höhe von 295.430 Tonnen.

Die Entsorgung von Munitionsbeständen der NVA wurde für etliche westdeutsche Unternehmen ein unerwartetes und sicher finanziertes Geschäft.

Insgesamt waren 105.548.752 Tonnen an Trägermitteln, Startrampen, Raketen und Munition zu entsorgen, wobei sich die beauftragten Unternehmen durchaus spezialisierten.

Nach Berechnungen von Wolfgang Neidhardt und Ludwig Marum ging es bei der Abwicklung der NVA unter Berücksichtigung des Alters und Zustandes der NVA-Bewaffnung und Technik um einen Wert zwischen 40 und 45 Milliarden D-Mark. Die beiden Zeitzeugen wissen, worüber sie reden — waren sie doch im Ministerium für Nationale Verteidigung beziehungsweise in der Staatlichen Plankommission der DDR für die militärökonomische Sicherstellung der DDR-Streitkräfte verantwortlich. Sie können kompetent einschätzen, was das Erbe der NVA wert war.

Der Zeitwert von Bewaffnung, Militärtechnik, Munition, Ersatzteilen, Zubehör, Immobilien, stationären Anlagen wie Häfen und Flugplatzeinrichtungen sowie von Lagerbeständen ist mit einem Betrag in Höhe von 150 bis 200 Milliarden D-Mark anzusetzen, wobei Immobilien und Bauten militärischer Zweckbestimmung mit etwa 100 Milliarden D-Mark zu Buche schlagen. Lagerbestände an Verpflegung, Bekleidung und Ausrüstung hatten, die Bestände der Staatsreserve nicht eingerechnet, einen Zeitwert von zehn bis 15 Milliarden D-Mark.

Der Beschaffungswert der von der Bundeswehr weiter genutzten NVA-Technik (darunter 24 Jagdbomber MiG-29, drei Raketenkomplexe Kub -SA-6, drei Raketenkomplexe OSA AK und zwei Raketenkomplexe Wega, 1.896 Fliegerabwehrraketen Strela-2M und 75 Fla-Raketen Igla, 892 Schützenpanzer BMP, 126 Transporthubschrauber und 21 Transportflugzeuge) wurde 1992 von der Bundesregierung mit zwei Milliarden D-Mark angegeben. Nach realistischen Berechnungen lag jedoch allein der Marktwert der hochmodernen MiG-29 bei über zwei Milliarden D-Mark. Die 24 MiG-29 wurden bei EADS mit Zusatztanks zur Erhöhung der Reichweite und mit neuen Navigationssystemen versehen. Die Maschinen bewährten sich bis 2003 im Jagdgeschwader 73 der Luftwaffe, das in Laage bei Rostock stationiert ist.

Wegen der guten Erfahrungen mit der Nutzung der MiG-29 gab es Überlegungen, diese Maschinen generell in der Luftwaffe einzuführen. Deutschland hätte so zu einem sehr günstigen Systempreis hochmoderne Jagdbomber erhalten, die sofort einsetzbar gewesen wären. Die Verhandlungen mit Russland scheiterten jedoch. Zum einen befürchtete man, sich im Bereich der Luftrüstung zu stark von Russland abhängig zu machen. Zum anderen sollten die Investitionen in neue Kampfflugzeuge dem Ausbau der europäischen Luftfahrtindustrie zugutekommen. Dabei ging es auch um Arbeitsplätze in den deutschen Unternehmen der EADS-Gruppe. Dass sich damit die Kosten für die Beschaffung neuer Maschinen massiv erhöhten und mit dem Eurofighter ein Flugzeug eingeführt wurde, das weder im Luftkampf erprobt noch technisch ausgereift war, wurde billigend in Kauf genommen. Nach Ausmusterung der 24 MiG-29 aus dem Bestand der Luftwaffe wurden sie für den symbolischen Preis von einem Euro pro Maschine im Jahr 2003 an Polen verkauft.

Die Kampfwerterhöhung der Bundeswehr durch Übernahme modernsten NVA-Gerätes kann ebenso wenig beziffert werden wie die nicht materiellen Effekte für die Weiterentwicklung westlicher Kampftechnik durch die Kenntnis konstruktiver Details und Leistungsparameter der Ausrüstung des einstigen Gegners. Das ist nur ein Teil des offenbar nicht unattraktiven militärökonomischen Erbes, das der Bundesrepublik Deutschland durch die Abwickelung der DDR zufiel. Das Ende der DDR und ihrer Streitkräfte bescherte der Bundesrepublik eine unverhoffte politische und finanzielle Rendite, die sich vor allem aus drei Quellen speiste:

Erstens: Die Bundesrepublik ist den Abrüstungsverpflichtungen beider deutscher Staaten vor allem durch die Verschrottung oder den Verkauf von NVA-Gerät und die weitgehende Auflösung der NVA nachgekommen. Ausrüstung, Bewaffnung und Personalbestand der Bundeswehr konnten somit ungeachtet aller ursprünglich für die Bundesrepublik allein geltenden Abrüstungsverpflichtungen weitgehend erhalten werden. Die ehemaligen DDR-Bürger haben mit den von ihrem Geld erworbenen NVA-Waffen indirekt den Bestandsschutz für Angehörige der Bundeswehr ermöglicht und ihren ganz speziellen Beitrag zum Erhalt des sozialen Friedens in den Kreisen der uniformierten Staatsdiener geleistet.

Zweitens: Die Bundesrepublik hat an NATO-Partner (auch in Spannungsgebieten) NVA-Kampftechnik und Ausrüstung geliefert. Ein bedeutender Teil der Militärhilfe für die USA, Israel, die Türkei, Frankreich und Ägypten im Zweiten Golfkrieg gegen den Irak (Operation Desert Storm) bestand aus unentgeltlich überlassenem NVA-Gerät. Die damalige Bundesregierung erkaufte sich das Wohlwollen der westlichen Führungsmacht durch die Übergabe von Schutzmasken, Wasserbehältern, mobilen Duschanlagen, Sanitätskraftwagen, Tankfahrzeugen und Pioniertechnik aus Beständen der NVA an die US-Army. Die Führung der amerikanischen Hightech-Armee hatte zwar dafür gesorgt, dass die Einheiten im Gefecht per Laptop und GPS geführt werden konnten, doch auf einen Schlagabtausch unter Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch einen scheinbar zu allem entschlossenen Gegner war die Invasionsarmee offenbar nur unzureichend vorbereitet. Da kamen die Ausrüstungen der NVA für die ABC-Waffenabwehr — überwiegend aus DDR-Produktion — gerade recht.

Der deutsche Staat verschenkte DDR-Volksvermögen im Wert von etwa 740 Millionen D-Mark an seine Verbündeten zur Führung eines Krieges. Es war eine durch die Menschen in der DDR finanzierte Freikaufaktion der Bundesrepublik vom Druck der USA zu einer Beteiligung an dieser von Rohstoffinteressen der westlichen Supermacht befeuerten Kampagne.

Auch bei der Stärkung der Südflanke des NATO-Bündnisses in Gestalt der Türkei und Griechenlands setzte die Bundesrepublik auf von der DDR-Bevölkerung finanzierte NVA-Technik im Gesamtwert von 2,1 Milliarden D-Mark. Die türkische Armee profitierte von der Lieferung von 300 Schützenpanzerwagen BTR und SPW-60 PB, Schützenwaffen, Munition, Panzerfäusten RPG-7, Feldlazaretten, Tankfahrzeugen, Stahlhelmen und Pionierausrüstungen im Rahmen der NATO-Verteidigungshilfe. Diese Technik war in Filmberichten über den Einsatz der türkischen Armee gegen die kurdische Guerilla zu sehen — eine Verwendung dieser Ausrüstungen, die nach Aussage deutscher Politiker im Liefervertrag angeblich ausdrücklich ausgeschlossen wurde.

Wo der NATO-Partner Türkei versorgt wird, muss auch der regionale Rivale Griechenland bedacht werden. Die Lieferung von drei Fla-Raketenkomplexen OSA-AK mit 924 Raketen, 120 Fla-Selbstfahrlafetten Schilka, 500 Schützenpanzern BMP-1, verschiedenen Arten von Panzerabwehrlenkkomplexen mit entsprechenden Raketen, 158 Geschosswerfern RM-70 mit Munition, Schützen- und Panzerminen, Brückenlegegeräten sowie Rad- und Kettenzugmitteln durch die Bundesrepublik wirkte für das griechische Militär wie eine militärtechnische Frischzellenkur.

Wer hätte in den aufregenden Tagen des Wendeherbstes und des Jahres 1990 angesichts allgemeiner pazifistischer Schwärmerei über die nun mögliche Auflösung beider Militärblöcke gedacht, dass mit dem Geld der DDR-Bürger teuer erworbene Waffen zur militärtechnischen Korsettstange für NATO-Staaten werden würden?

Auch der Balkankrieg wurde offenbar zum Teil unter Einsatz von NVA-Waffen geführt. Lieferungen von Kampfpanzern, Schützenpanzerwagen, Artilleriesystemen und Kampfflugzeugen an Jugoslawien, Mazedonien und Kroatien waren mit Sicherheit nicht im Sinne der europäischen Abrüstungsvereinbarungen. Indonesien orderte im Rahmen regulärer Exportverträge 39 Kampf-, Landungs- und Versorgungsschiffe der DDR-Volksmarine mit einem Beschaffungswert von 1,7 Milliarden DDR-Mark, wobei der durch die Bundeswehr angegebene Zeitwert mit lediglich 187 Millionen D-Mark nicht nur deutlich unter dem Beschaffungswert in Mark der DDR, sondern auch unter dem internationalen Marktwert in Höhe von etwa 1,8 Milliarden D-Mark lag.

Weitere Exporte von NVA-Kriegsgerät (Kampfpanzer T-72, Schützenpanzer BMP, Artilleriesysteme, Sturmgewehre) gingen nach Schweden, Finnland und Belgien.

Drittens: Die Bundesrepublik hat verschiedenen Verbündeten modernste NVA-Technik zur Auswertung und Gegnerdarstellung für Trainingszwecke zur Verfügung gestellt.
Entsprechende Techniklieferungen gingen an Israel, die USA, Großbritannien, Frankreich und die Niederlande.

Israel erhielt Exemplare fast aller in der NVA genutzten Raketensysteme (Schiff-Schiff-, Luft-Luft-, Luft-Boden-Raketen, Gefechtsköpfe der Rakete Luna M, Panzerabwehrlenkraketen und Fliegerabwehrraketen). Hinzu kamen die Radar-, Laseraufklärungs- und Gefechtsfeldüberwachungssysteme der NVA, Freund-Feind-Kenngeräte, das Radar für die MiG-29, Feuerleitsysteme sowie Mittel der Funkgegenwirkung, die Fla-Selbstfahrlafette Schilka, Panzer- und Schützenminen, Minenräumgeräte und der Torpedo SAET-40.

Amerikanisches Militär und die Rüstungsindustrie der USA nutzten die günstige Gelegenheit für den Erwerb von NVA-Raketenkomplexen, Gefechtsleitelektronik, Funkstörgranaten, Panzer- und Schützenminen, Minenräumgeräten, der Fla-SFL Schilka, des Torpedos SAET-40, der Raketenstarteinrichtung PK-16, diverser Seeminen, des Marinehubschraubers MI-14, und des Flugzeuges MiG-29, wobei das besondere Interesse dem Triebwerk und dem mit einem integrierten elektronischen Visier ausgestatteten Pilotenhelm für dieses Flugzeug galt. Außerdem übergab die Bundesrepublik ein aus dem Bestand der 6. Volksmarine-Flottille übernommenes Kleines Raketenschiff Projekt 1241 (Tarantul) zu Forschungszwecken an die US-Navy, die sich für die hochmoderne Turbinenanlage, den Schiffskörper und die Raketentechnik dieses Waffensystems interessierte.

Panzer, Panzerhaubitzen, Geschosswerfer und andere Kampftechnik der NVA wurden an die USA in größerer Zahl zur Gegnerdarstellung kompletter Einheiten (etwa in Regimentsstärke) bei Gefechtsübungen geliefert.

An Großbritannien gingen Exemplare von Kampfschiffen der Volksmarine, Raketen, die Jagdbomber SU-22M4 und MiG-23BN, die Raketensysteme Luna M und Rubesh (Küstenraketensystem), der Torpedo SAET 40, Schiffsminen, Panzer- und Schützenminen sowie Minenräumgeräte, während der französische Warenkorb Panzerabwehrlenkraketen, Handfeuerwaffen, Nachrichtensysteme und den Raketenkomplex Luna M enthielt. Die Niederlande beschränkten sich — vergleichsweise bescheiden — auf die technische Auswertung der Schiff-Schiff-Raketen und des Torpedos SAET 40.

Diese Beispiele verdeutlichen zweierlei:

Erstens zeigte sich die Bundesregierung gerne spendabel, wenn es um die nicht mehr benötigten Waffen und Ausrüstungen der NVA ging.

Die Ostdeutschen sorgten ungewollt mit den von ihrem Geld beschafften NVA-Waffen dafür, dass die deutsche Regierung Partnern in aller Welt gefällig sein konnte.

Das offen zuzugeben hätte allerdings nicht in das kommunikationspolitische Konzept der Bundesregierung gepasst.

Zweitens bemühte sich die Bundesregierung in ihren Verlautbarungen immer, den Wert der übernommenen NVA-Technik und die Erlöse aus den Waffenexporten möglichst niedrig zu beziffern.

Nichts, was die Menschen dieses untergegangenen Staates unter vielen Entbehrungen geschaffen hatten, sollte im öffentlichen Bewusstsein Bestand behalten. Die ostdeutschen Neubürger sollten nicht zu viel Selbstbewusstsein entwickeln.

Was zählten schon ihre Lebensleistungen, da sie doch in einer Diktatur erbracht worden waren. Politisch erwünscht waren die retrospektive Pauschalverurteilung der DDR durch die Ostdeutschen und die Dankbarkeit für die Transferleistungen des Bundes. Eine faire Eröffnungsbilanz der nun größeren Bundesrepublik, die den Wert des NVA-Sachvermögens angemessen berücksichtigt hätte, wäre in diesem Zusammenhang kontraproduktiv gewesen.

1990 verfügte die NVA über eingelagerte Bekleidung und persönliche Ausrüstung im Wert von etwa 2,2 Milliarden D-Mark. Durch den Verkauf dieses Materials zu Schleuderpreisen erzielte die Bundesrepublik lediglich Einnahmen in Höhe von 17,3 Millionen D-Mark. Die Gewinnspanne für die Wiederverkäufer dürfte beträchtlich gewesen sein. Auch der nicht näher zu benennende Erlös aus dem Verkauf von 27 nichtmilitärischen Flugzeugen der NVA, von 86 Marinefahrzeugen und sechs Kriegsschiffen, 55.000 Kraftfahrzeugen und 67.570 Handfeuerwaffen im In- und Ausland durch das im Auftrag der Bundeswehr handelnde Unternehmen VEBEG kam nicht den Menschen in den neuen Bundesländern zugute.

Der eilige Ausverkauf von NVA-Technik und Ausrüstung zeugt von der Absicht, das ungeliebte Erbe möglichst schnell loszuwerden. Auf die Chance, durch eine strategisch weitsichtige Marktbearbeitung möglichst hohe Erlöse zu realisieren, wurde dabei vorsätzlich verzichtet. Verwunderlich ist das nicht. Handelte es sich doch um Vermögen, das der Bundesrepublik ohne eigenen Aufwand zugefallen war. „Was nichts kostet, ist nichts wert.“ So wurden die militärischen Sachwerte der untergegangenen DDR durch die Bundesregierung verschleudert, während man öffentlich die Höhe der Transferzahlungen für die Neuen Länder beklagte.

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 In Katerstimmung
Mittwoch, 13. November 2019, 10:00 Uhr
~6 Minuten Lesezeit

In Katerstimmung

Im Jahr zwei nach der deutschen Wende breiteten sich im Osten gemischte Gefühle aus.

von Winfried Wolk

Foto: Rainer_81/Shutterstock.com

Filme über die DDR enden oft mit einem kräftigen Happy End: dem Tanz der Massen auf der Mauer am 9. November 1989. Wie bei einer Hochzeit zwischen zwei Menschen gehen nach diesem Augenblick höchsten Glücks aber die Probleme erst richtig los. Es ist daher sinnvoll, den Blick zurück auf die ersten Jahre nach der Wende zu richten. Damals hatten Fehlentwicklungen schon begonnen, vieles war aber noch offen. Welche ihrer Träume sahen ehemalige DDR-Bürger verraten — und von wem? Vermochten sie noch Pläne für eine bessere Zukunft zu entwerfen? Hatten die Schwierigkeiten nur mit dem schweren Erbe des SED-Regimes zu tun? Oder ist nicht vielmehr jede Ehe zum Scheitern verurteilt, bei der ein Partner vom anderen bedingungslose Selbstaufgabe und Anpassung verlangt? Auf der Festveranstaltung zum 1. Jahrestag der deutschen Einheit des Kreistages Schwerin-Land am 26. September 1991 im Kulturhaus Crivitz hielt Winfried Wolk als Vorsitzender der Fraktion Neues Forum/Grüne die folgende Rede.

Ein Jahr „Deutschland einig Vaterland“ liegt hinter uns, ein Ereignis von historischer Bedeutung, das nur wenige in so kurzer Zeit für möglich gehalten hatten. Haben sich unsere Hoffnungen und Wünsche erfüllt?

Ich bin froh und traurig zugleich, bin hin und her gerissen von meinen Hoffnungen, Wünschen und Träumen und der erlebbaren Realität. Die euphorische Freude über die Grenzöffnung liegt weit zurück. Vergessen fast sind die hunderttausendfachen Umarmungen und die Tränen, gemeinsam geweint. Hatte uns das nicht gezeigt, dass wir ein Volk sind?

Längst vorbei alles, was vorher war, vorbei die mutigen, nahezu aussichtslosen, gefährlichen Proteste gegen die selbstherrliche, anmaßende, scheinbar so fest zementierte Macht der alten SED-Führung. Das große Gefühl solidarischen Miteinanders auf den Straßen der Städte dieses Landes — vorbei. Uns hatte das aus unserem Gebücktsein zum aufrechten Gang gebracht. Die aufkommende Demokratie mit dem importierten, schmutzigen Parteiengezänk des Wahlkampfes im Frühjahr 1990 hat notwendige Gemeinsamkeit dem Kampf um die Macht geopfert. Das ist der Alltag und dieser Alltag hat uns längst eingeholt mit allen Problemen, die wir wegen der Tränen in unseren Augen nicht gesehen hatten.

40 Jahre Trennung, Hasspropaganda und kalter Krieg haben Spuren hinterlassen und unterschiedliche Wertvorstellungen, Lebenspositionen und Standpunkte gefördert. Da wachsen Missverständnisse, auch weil unsere Erwartungen einfach nicht realistisch waren.

Warum sollte ein Unternehmer hier ein Konkurrenzunternehmen fördern, wo er doch selbst genug produziert und er vor allem an neuen Märkten interessiert ist? Mit unseren ausgehungerten Bedürfnissen sind wir ein optimaler Markt! Hatten wir von der Marktwirtschaft wirklich erwartet, sie werde nur unsere Läden füllen und unseren Bauch?

Die notwendige Konsequenz ist bitter, weil sie bei uns an die Substanz geht. Unsere eigenen Möglichkeiten, die Produktion zu steigern, die Wirtschaft zu stabilisieren, sind gering. Noch arbeiten ganz wenige Betriebe effektiv genug, um dem unbarmherzigen Wettbewerb standzuhalten. Wir werden lange die Hilfen aus den alten Bundesländern brauchen. Manche lassen uns das bitter spüren.

Doch da sind nicht nur die Probleme zwischen Ost und West. Ich sehe auch hier bei uns eine Fülle von Schwierigkeiten, die den innerdeutschen Integrationsprozess belasten. Der Tag der deutschen Einheit liegt so fatal nah am 7. Oktober. Und zu viele, die jetzt scheinbar begeistert demokratisch gesamtdeutsch wirken, waren zum letzten DDR-Jubelfest noch stramm und treu bei der pseudo-sozialistischen Sache. Die Blockparteien, bis zuletzt im Geschirr der SED, erleben nun unverhofft eine demokratische Renaissance. Hier in Schwerin standen am 23. Oktober 1989 noch führende CDU-Politiker Schulter an Schulter mit der SED auf deren Tribüne, während 60.000 mit brennenden Kerzen durch die Stadt und um den Pfaffenteich zogen. Heute ist alles gewendet, vor allem für die eigene Karriere.

Wir waren leider nicht in der Lage, unsere eigenen Angelegenheiten einigermaßen vernünftig zu ordnen. Keiner der wirklich Verantwortlichen wurde zur Rechenschaft gezogen, das hat Folgen. Die Unsicherheiten und Ängste allerorten sind aber nicht nur das Ergebnis der verfehlten Politik der SED über Jahrzehnte, sie sind auch erzeugt durch Konzeptionslosigkeit während des Übergangs und durch das Fehlen wirksamer Übergangsrahmenbedingungen. Die politischen Parteien schweigen, was überzeugende Gesellschaftsprogramme angeht. Gerade solche Konzepte könnten Orientierung geben und Zukunftshoffnung erzeugen. Doch sehe ich nirgends Überlegungen, unsere speziellen Erfahrungen unseres Lebens in diesen 40 Jahren, unsere daraus gewonnene Weltsicht und unsere Haltung in gesamtdeutsche Zukunftsvorstellungen zu integrieren.

Fast alles vollzieht sich als einfache Übernahme in im Westen übliche Bedingungen. Aber das neue Deutschland kann doch nicht einfach nur eine vergrößerte Bundesrepublik sein. Damit nehmen wir dem deutschen Volk die Chance einer gemeinsamen neuen Position.

Das ist dumm und gefährlich, weil so unsere notwendige Identität verloren geht und unser Selbstwertgefühl noch weiter herab gesetzt wird. Das alles ist am Ende mitverantwortlich für wachsenden Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und öffentlich ausgetragene Gewalt.

An der Schwelle des Jahres zwei der deutschen Einheit stehe ich nun mit ziemlich gemischten Gefühlen, obwohl doch eigentlich Freude herrschen müsste. Es macht vielen große Schwierigkeiten, die neuen gesellschaftlichen Verwaltungsstrukturen zu verstehen. Dabei müssen wir sie doch auf Anhieb beherrschen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Viele haben ihren Arbeitsplatz verloren und mit ihm den Optimismus, viele fürchten um ihren Arbeitsplatz. Zur Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt kommen die Verunsicherungen durch die Steigerungen der Kosten für Mieten, Heizung, Strom, Gas, Gebühren.

Die Nichtanerkennung hier geleisteter Berufsjahre beleidigt uns und lässt uns spüren, dass unser Leben als vergeblich bewertet wird. Das alles hilft unserem Selbstbewusstsein nicht.

Wir müssen versuchen, die gegenseitigen Missverständnisse, entstanden durch falsche Erwartungen und überzogene Hoffnungen einerseits und Unkenntnis, Intoleranz und Überheblichkeit andererseits mit Geduld und in persönlichen Gesprächen und Begegnungen aufzulösen. Wir sind nicht die Steinzeittölpel, auch wenn wir mit vielen der neuen Bedingungen unsere Schwierigkeiten haben.

Ich träumte davon, dass dieses einheitliche Deutschland ein Land werden könnte, das mit offenen, freundlichen Händen auf seine Nachbarn zugeht. Dass wir nicht vergessen, dass wir in der Schuld unserer ehemaligen Bruderländer stehen, weil wir ohne sie keinen Herbst 89 gehabt hätten. Die Tschechen und Slowaken mit ihrem Prager Frühling 1968 und die Polen mit der Solidarnosc-Bewegung von 1980 waren viel früher bereit, dem stalinistischen System den Kampf anzusagen. Da zuckten die meisten hier noch die Achseln.

Die Ungarn haben mit der Grenzöffnung die Umsturzbewegung im Ostblock ausgelöst. Alle diese Völker müssen nun den schweren Weg der Neuordnung allein gehen. Uns dagegen gibt die Hilfe der Altbundesländer ganz andere Perspektiven. Ich meine, dass es unsere gesamtdeutsche Pflicht sein muss, Hilfe bei diesem schwierigen Prozess anzubieten. Gerade wir Ostdeutschen hatten doch langjährige Verbindungen, die jetzt zur Brücke zwischen Ost und West werden könnten.

Ich träumte davon, dass das Ende des kalten Krieges und der globalen Spannungen eine wirkliche internationale Entspannung schafft, die die Rüstung in allen Teilen der Welt überflüssig werden lässt.

Welch immensen Ressourcen wären das für die Hilfe der Völker im Osten, in der Dritten Welt und für den notwendigen Schutz der Umwelt. Längst sind hier globale Programme nötig, die so finanziert werden könnten.

Die Welt ist leider nicht friedlich geworden. Spannungsherde schießen wie Pilze aus dem Boden, nicht nur im Nahen Osten. Die ehemals sozialistischen Völkergemeinschaften in Jugoslawien und der Sowjetunion brechen auseinander. Die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen, wie jetzt in Jugoslawien, sind regelrecht vorprogrammiert. Wird eine friedliche Welt überhaupt möglich sein?

Und wird eine friedliche Welt überhaupt möglich sein, wo wir doch hier in Deutschland statt der dringend erforderlichen Gemeinsamkeit der Demokraten vor allem Parteiengerangel um Machterwerb und Machterhalt erleben? Die gewonnene Einheit ist eine große Chance, ich bin aber nicht sicher, ob wir uns diesen Anforderungen als gewachsen erweisen.

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SED-Presse in treuen Händen
Dienstag, 12. November 2019, 15:00 Uhr
~21 Minuten Lesezeit

SED-Presse in treuen Händen

Die Regionalmonopole der SED-Presse wurden aus wirtschaftlichem Kalkül von Westkonzernen weitergeführt — eine souveräne ostdeutsche Presse konnte sich so nicht entwickeln.

von Mandy Tröger

Foto: VGstockstudio/Shutterstock.com

Bereits im Juni 1990 war die Übernahme der DDR-Presse durch westdeutsche Verlage beschlossene Sache. Lange vor der Treuhandanstalt (THA) hatten finanzstarke BRD-Verlage ehemalige SED-Bezirkszeitungen untereinander aufgeteilt. Der THA fehlte der politische Auftrag, um gegen diese Monopolübertragung vorzugehen. Das Versagen lag bei der Bundesregierung. Damit blieb die „Medienrevolution“ der DDR unvollendet. Der Marktdrang westdeutscher Verlage und Fehlentscheidungen auf Bundesebene führten zu einem Zeitungssterben und dem Untergang eines Stückes des demokratischen Traums der Wendezeit.

Das „Treuhand-Trauma“

„Das Treuhand-Trauma ist nicht überwunden“, erklärte Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linken-Fraktion im Bundestag, am 20. April 2019 (1). Politische Fehler der Nachwendezeit müssten von der heutigen Politik aufgearbeitet werden. Diese Forderung stößt aktuell auf wenig Gegenliebe; das Problem sind die Interessen der Gegenwart. Denn eine konsequente Aufarbeitung der Treuhandgeschichte bedeutet eine kritische Reflexion der Versäumnisse der Bundesregierung (2).

Dieser Beitrag dokumentiert die Rolle der THA bei der Privatisierung des DDR-Pressewesens 1989 bis 1991. Der Zeitraum erstreckt sich vom Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 bis zur Privatisierung der großen ehemaligen SED-Bezirkszeitungen am 13. April 1991. Schon 1992 dokumentierte Beate Schneider, dass diese Zeitungsmonopole nicht, wie einst als DDR-Reformziel gedacht, aufgespalten worden waren. Sie blieben bestehen und wurden von westdeutschen finanzstarken Verlagen weitergeführt (3).

Der Medienwissenschaftlicher Walter Mahle schlussfolgerte im Jahr 1992, die Gliederung des Pressemarkts in den neuen Bundesländern sei „den Grenzziehungen der SED nachgebildet … natürlich nicht aus politischen Gründen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen“ (4). Monopole bestünden weiter, niemand habe das erwartet. „Leidtragende waren“, laut dem früheren DDR-Medienminister Gottfried Müller, „kleinere Blätter und vor allem auch die Lokalpresse“ (5). Sie gingen bankrott.

Laut Müller sei die Frage bis heute: „Was hat die Treuhand bewogen, bei den Bezirkszeitungen die von der SED geschaffene Zeitungsstruktur beizubehalten?“ (5). Ziel dieses Beitrags ist, diese Frage zu beantworten. Die Ergebnisse stammen aus mehrjähriger Archivarbeit und können an anderer Stelle detailliert nachgelesen werden (2, 6). Fazit:

Die Treuhand allein war nicht verantwortlich für des Presse-Trauma der Nachwendezeit. Westdeutscher Marktdrang und Fehlentscheidungen der Bundesregierung schufen strukturelle Bedingungen, in denen die THA nur begrenzt wirkte.

Deutungsstreit zur THA

Ein Blick in die Literatur: Historische Forschung zur THA ist lückenhaft, Bücher durch ihre oft starke Polarisierung nur bedingt brauchbar (7, 8). „(D)ifferenzierte Zwischentöne“, schreibt Marcus Boeick in seiner Ausnahmestudie „Die Teuhandanstalt“, können sich „im schrillen Meinungs- und Deutungsstreit um die Treuhand und ihr Vermächtnis nur selten Gehör verschaffen“ (9).

In seinem Buch „Der Treuhand-Komplex“ kommt der ehemalige Spiegel-Redakteur Norbert F. Pötzl zu dem Schluss, dass die THA so schlimm nicht war: Tragische Einzelfälle stünden im Mittelpunkt ostdeutscher Empörung (10). Diesen Emotionen entgegne er mit Fakten: Die THA suche geschichtlich ihresgleichen. Niemand habe wissen können, wie sich die Dinge damals entwickelten. Die Ostdeutschen hätten die D-Mark gefordert und bekommen und manche spielten heute, auch auf dem Rücken der THA, die Opferkarte (11). Kurz: Pötzl erklärt Ostdeutschen ihre Geschichte. Das tut er nach einem westdeutschen Standardnarrativ, das selten selbst in der Kritik steht.

Pötzls Paternalismus stößt vielen Ost- und Westdeutschen zu Recht auf. Auch Fakten bedürfen einer Auswahl und hier lässt Pötzls Analyse des Treuhand-Komplexes den Marktdrang westdeutscher Unternehmen, sowie die Versäumnisse der Bundesregierung konsequent aus. Er bedient damit die Interessen derer, denen an einer Aufarbeitung der Wendezeit nicht gelegen ist. Ob sich das mit der Öffnung der Treuhandarchive ändern wird, bleibt abzuwarten.

Entstehung der THA

Ein kurzer Blick in die Entstehungsgeschichte der THA zeigt: Ihr ursprüngliches Ziel war die Wahrung der Rechte der DDR-Bevölkerung. Am 12. Februar 1990 forderte Wolfgang Ullmann, Mitglied des oppositionellen Runden Tisches, die Ernennung einer treuhänderischen Anstalt. In der Umwandlung des DDR-Volkseigentums in Privateigentum sollten „Bürgerinnen und Bürger der DDR“ ihren Teil in „den vielfältigen Formen der Kapitalbeteiligung im Sinne der Marktwirtschaft“ erhalten (12).

Am 1. März 1990 folgte unter der Regierung Hans Modrows der Beschluss zur Gründung einer Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums. Volkseigene Betriebe sollten in Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHs) umgewandelt werden. Das Ziel, laut Modrow, war, vorhandene DDR-Wirtschaftsgüter in ihrer Substanz zu bewahren und vor kapriziösen Übernahmen zu schützen. Betriebe sollten sich bei Abschluss von Partnerschaftsvereinbarungen auf die neuen Bedingungen einer privaten Marktwirtschaft einstellen können (13).

Nach den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 wurde Lothar de Maizière vom konservativen Bündnis „Allianz für Deutschland“ oberster Mann im Staat. Er führte den Kurs weiter. Der Plan: Wettbewerbsrichtlinien für den Privatisierungsprozess mittels eines Gesetzes. Das Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens (Treuhandgesetz) wurde am 17. Juni 1990 beschlossen. Danach fiel das gesamte DDR-Volkseigentum ab dem 1. Juli unter das Treuhandgesetz.

Bis zum 1. August 1990 sollten alle Betriebe in GmbHs umgewandelt werden. Diese standen dann im Eigentum der THA. Darunter fielen zunächst 8.500 Betriebe mit rund vier Millionen Beschäftigten in rund 45.000 verschiedenen Einrichtungen (10, 14). Nach Einschätzung des damaligen THA-Direktors und ehemaligen Leiters des Stahlkonzerns Hoesch, Detlev Rohwedder, war „der ganze Ramsch 600 Milliarden D-Mark wert“ (15). Ein Teil davon war die ehemalige SED-Presse.

Probleme der THA

Schon im August 1990 mahnte Günter Nooke, Vertreter der Opposition und Mitglied des THA-Verwaltungsrates, die THA stehe vor großen Problemen: Sie benötigte Daten, um die Sanierungs- und Marktfähigkeit der Betriebe zu bewerten (16). Diese lagen nicht vor. Der THA fehlte auch die Rechtsgrundlage zur Bewertung der Vermögenswerte und Schulden. Obwohl sie offizieller „Eigentümer“ des ehemaligen DDR-Volkseigentums war, war ihr Hauptzweck, Eigentumsfragen durch Verkauf zu regeln. Das hieß, so Nooke, „(s)olange die Eigentumsverhältnisse nicht geklärt sind, sitzt der potentielle Investor am längeren Hebel und wartet, bis der den Betrieb billig bekommen kann“ (16). Obwohl die THA also verschiedene Angebote einholen konnte, war ihr Wirkungsfeld begrenzt.

Die THA wurde in Artikel 25 des Einigungsvertrags verankert. Zur deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 war sie aber kaum funktionsfähig — es mangelte an Personal und Einrichtungen. Bis zum Jahr 1993 beschäftigte sie dann 4.600 Mitarbeiter und wurde zum größten Verwaltungsapparat Deutschlands (14) — ein Manifest dafür, wie „Regierungen privatisieren“ (17).

Hans Modrow kritisierte aber schon 1991, dass ihr ursprünglicher Auftrag fehlgeschlagen war. „Privatisierung statt Sanierung und Erhalt“ war jetzt die Agenda. Diese Neudefinition der Aufgaben führte, laut Modrow, zu einem Zusammenbruch der gesamten industriellen und landwirtschaftlichen Produktion und zu einem Verkauf von Wirtschaftsgütern zu Dumpingpreisen (13).

Der Wende-Herbst und die DDR-Presse

Das Reformziel im Herbst 1989 war die Zerschlagung des SED-Informationsmonopols. Im November 1989 war die Produktion der DDR-Tages- und Wochenpresse stark konzentriert und in einigen Konglomeraten organisiert, die als Vereinigung Organisierter Betriebe (VOB) bezeichnet wurden. Der wichtigste, VOB Zentrag, gehörte der SED:

90 Prozent der Druckkapazitäten und der Papierzuteilung entfielen auf Zentrag. Dreizehn von fünfzehn Druckereien in der DDR wurden von ihr kontrolliert. Die SED hielt rund 70 Prozent der gesamten Zeitungsproduktion der DDR, die 1987 täglich insgesamt 9,7 Millionen betrug, — das heißt eine Auflage von 6,5 Millionen Exemplaren. Zu den SED-Zeitungen gehörten vierzehn Bezirkszeitungen mit einer Auflage von jeweils 200.000 bis 700.000 Exemplaren mit den dazugehörigen Lokalausgaben für über 200 Kreise, das landesweit vertriebene Neue Deutschland (Auflage: 1,2 Millionen Exemplare) und den verschiedenen Titeln des Berliner Verlags. Die SED besaß sechzehn von neununddreißig Tageszeitungen in der DDR (18).

Schon am 21. Dezember 1989 ratifizierte der DDR-Ministerrat den „Beschluß zur Neugründung von Zeitungen und Zeitschriften“. Damit unterstützte er den am 7. Dezember gegründeten Runden Tisch. Allen an ihm vertretenen neuen politischen Gruppen sollte der Zugang zu Medien und Informationen gesichert sein (19).

Kurz darauf, am 5. Februar 1990, verabschiedete die Volkskammer der DDR den Beschluss zur Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit. Jegliche Art der Zensur war verboten. Die Presse sollte frei sein von politischen und wirtschaftlichen Monopolen und damit frei sein, um eine Plattform öffentlicher Debatten und freier Meinungsbildungsprozesse mündiger Bürger zu werden. Jede natürliche und juristische Person in der DDR hatte das Recht zur Veröffentlichung von Printmedien. Die Lizenzierung wurde abgeschafft, nur eine Registrierung war nötig (20).

DDR-Pressefrühling

Es folgte eine Zeitungsexplosion: Laut Umfrage des DDR-Nachrichtendienstes ADN gab es bereits Anfang Februar1990 sechzehn Neuerscheinungen in der DDR, vier mit westdeutschen Investoren. Andere Titel waren von basisdemokratischen Bürgergruppen oder politischen Parteien gegründet worden. Wieder andere waren lokale Initiativen ostdeutscher Journalisten und Bürger, teilweise in Zusammenarbeit mit Verlagen der BRD (21).

Bis Juli 1990 wurden so rund 100 neue Zeitungen in der DDR gegründet. Zu diesem Zeitpunkt befassten sich gleich drei verschiedene DDR-Institutionen allein mit der Reform der DDR-Medien: der basisdemokratische Medienkontrollrat (MKR), das im April 1990 gegründete Ministerium für Medienpolitik (MfM) und der Ausschuss für Presse und Medien der Volkskammer (22).

BRD-Marktdrang

Parallel zu diesen politischen Initiativen wurde der DDR-Pressemarkt früh wirtschaftlich durch BRD-Verlage erschlossen. Schon im Februar 1990 mahnte die tageszeitung das „Einsteigen bundesdeutscher Großverlage über Joint Ventures in eure (die DDR-)Presselandschaft“ sei ein wachsendes Problem (23). Zwei Monate später, im April 1990, gab es keine DDR-Zeitungen, „bei denen nicht bereits Kaufverhandlungen laufen“ (24). Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) schlussfolgerte, alle westdeutschen Verlage versuchten im Osten, „sich mit Beteiligungen an DDR-Verlagen eine günstige Ausgangsposition für den Wettbewerb zu verschaffen“ (25). Ziel war die Expansion gen Osten.

Diese deutsch-deutschen Kooperationsverhandlungen liefen in einer rechtlichen Grauzone und waren laut Fachzeitschrift journalist „sehr vielgestaltig“ (26). Sie reichten von der Gewinnung von Anzeigenkunden, dem Verkauf von Werbung bis zum Zeitungsdruck durch BRD-Partner. Diese Allianzen waren „im Fluss,“ Kooperationen also ständig in Verhandlung. „Überwiegend wurden allerdings auch Kapitalbeteiligungen vollzogen oder in Vorverträgen geregelt“ (26).

Die Vorverträge waren rechtlich nicht bindend. Denn offiziell war die DDR weiterhin ein souveräner Staat und die Zustimmung über deutsch-deutsche Presse-Joint-Ventures lag offiziell beim MKR. Dieser erlaubte Minderheitsbeteiligungen westdeutscher Verlage. Inoffiziell aber wurden Verträge und Kooperationen ganz praktisch an allen staatlichen Einrichtungen vorbei ausgehandelt.

Diese Prozesse liefen so schnell, dass nur die Beteiligten wussten, wer mit wem verhandelte. Im Mai 1990 versuchte sich die DDR-Regierung an einem Überblick: Danach führte der Springer Verlag mit insgesamt elf Zeitungen Kooperations-, Joint-Venture- oder Kaufgespräche. Bauer hatte fünf Joint-Venture-Abkommen geschlossen, fünf weitere waren in Vorbereitung. Gruner + Jahr (G+J) plante ein Joint Venture mit der Sächsischen Zeitung (Auflage 544.700) und wollte zwei Zeitschriften kaufen. Die WAZ-Gruppe plante Joint Ventures mit vier Zeitungen, darunter der Leipziger Volkszeitung (Auflage circa 500.000) (27). Die Liste ging weiter.

SED-Bezirkszeitungen

Vor allem die vierzehn ehemaligen SED-Bezirkszeitungen — Sächsische Zeitung, Leipziger Volkszeitung und so weiter — standen bei westdeutschen finanzstarken Verlagen hoch im Kurs. Sie waren in Reformprozessen begriffen, erklärten sich unabhängig, ihre Eigentumsverhältnisse waren unklar. Mit hohen Auflagenzahlen und ungebrochenen Privilegien, wie etwa in Papierversorgung, Druck et cetera, blieben sie in ihren Bezirken aber Quasi-Monopole. Sie waren damit die „Filetstücke“ (26) unter den DDR-Zeitungen, bei denen sich „die Großverlage die Klinke in die Hand“ (28) gaben.

Insbesondere die „Großen Vier“, Springer, G+J, Burda und Bauer, steckten aktiv ihre „claims“ in der DDR ab. Laut Andreas Ruppert, Vertreter von G+J, hatten die Großverlage bereits im Mai 1990 die DDR-Zeitungen und -Zeitschriften untereinander aufgeteilt. Es kursierten Listen: kauffreudige BRD-Verlage standen neben „ihren“ hilfsbedürftigen DDR-Partnern. Letztere waren, laut Ruppert, auf finanzielle Hilfe angewiesen — alle steckten in den roten Zahlen und brauchten Investitionen (29).

Der Kampf der DDR-Zeitungen

Tatsächlich kämpften DDR-Zeitungen auf mehreren Ebenen gleichzeitig: Schlechte Papier- und Druckqualität, Papierknappheit und die Streichung der Subventionen am 1. April 1990. Vor allem aber massive Importe westdeutscher Titel und der schnell einsetzende 1:1-Preiskrieg der BRD-Verlage ab März 1990 setzten sie früh unter hohen wirtschaftlichen Druck. Westdeutsche Presseprodukte wurden nicht zum 1:3-Umtauschkurs verkauft, sondern unter Produktionskosten zum 1:1-Dumpingpreis. Ziel dieses Minusgeschäfts: der Gewinn neuer Leser.

Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den Bau eines exklusiven DDR-Vertriebssystems der „Großen Vier“ für westdeutsche Presseprodukte. 70 Prozent der Titel waren die der vier Großverlage selbst (2).

Trotz staatlicher Teilung war der deutsche Pressemarkt im Mai 1990 also faktisch vereint. DDR-Verlage, durch planwirtschaftliche Strukturen weiterhin eingeschränkt, standen früh in direkter Konkurrenz zu BRD-Verlagen, die in einem rechtlichen Vakuum nach privatwirtschaftlicher Logik agierten.

Eine vom MKR geforderte „Schonfrist“ gab es nicht (30).

BRD-Verlage unter sich

Der Runde Tisch, die Regierung der DDR, der MKR und die Gewerkschaften sahen diese Entwicklung kritisch. Sie protestierten — ohne Erfolg. Medienminister Gottfried Müller notierte in seinem Ministertagebuch, „das alte SED-Monopol bei Bezirkszeitungen“ ginge nun zusammen „mit neuem [wirtschaftlichen] Monopol aus dem Westen“ (31).

Beispiel Bauer: Bis August 1990 sicherte sich der Verlag den größten Stück des DDR-Kuchens. Mit 49 Prozent der Anteile an den Brandenburger Neusten Nachrichten, der Märkischen Oderzeitung, den Norddeutschen Neusten Nachrichten, dem Nordkurier, der Schweriner Volkszeitung und der Volksstimme hielt Bauer bis Juni 1990 Anteile an der Auflage von rund 1,2 Millionen Tageszeitungen. Der Verlag leistete technologische Unterstützung und zielte auf die Modernisierung veralteter Druckereien (25).

Bauers Hauptkonkurrent war Springer. Laut dem Vorstandsvorsitzenden Peter Tamm war das Ziel Springers, „die Stellung als führendes Pressehaus und bedeutendes Medienunternehmen in ganz Deutschland durch das starke Engagement in der DDR zu sichern“ (32). Das hieß: Joint-Venture-Vereinbarungen eingehen, trotz rechtlicher Grauzone. Mit seinen Tochtergesellschaften und mit Beteiligungen an der Märkischen Volksstimme, der Norddeutschen Zeitung und der Ostsee-Zeitung hielt der Verlag Anteile in Höhe von 30 Prozent der DDR-Gesamtauflage (26).

Minister Müller betonte zwar, diese Kooperationen seien rechtlich nicht bindend, das letzte Wort hätte die THA, aber Bauer und andere Großverlage erwartete die baldige „Umwandlung von Absichtserklärungen in endgültige Verträge“ (33). Sie behielten Recht.

Die Treuhand übernimmt

Bevor die THA am 1. August 1990 ihre Tätigkeit aufnahm, konsultierte sie das DDR-Amt für Wettbewerbsschutz und das MfM. Sie brauchte „offizielle und rechtlich gesicherte Aussagen“ zu westlichen Kapitalbeteiligungen und Kooperationsvereinbarungen mit DDR-Verlagen (34). Fazit: Es gab keine. Zwei DDR-Verlage hatten ausländische Beteiligung beantragt, von BRD-Seite lag „kein Antrag auf ausländische Beteiligung an den [nun in GmbHs] gewandelten Unternehmen vor“ (34). Allerdings, so die Ministerien, gäbe es Hinweise, dass Springer und andere Verlage Kooperationen anstrebten. Auf dieser Grundlage startete die THA ihre Arbeit. Sie war für die ehemalige SED-Presse zuständig.

Die THA erhielt rund achtzig Kaufanfragen für vierzig Verlage — die wichtigsten waren die für die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen. Die Eigentümerschaft von 10 dieser Zeitungen mit 8.000 Mitarbeitern und einer Gesamtauflage von 2,7 Millionen Exemplaren wurde offiziell am 13. April 1991 an „ausgewählte Erwerbsinteressenten“ übertragen (35). Der THA-Verwaltungsrat stimmte dem vorläufigen Verkauf an 12 verschiedene westdeutsche Presseunternehmen zu. Der Preis: 850 Millionen DM und ein Investitionsvolumen von 1,3 Milliarden D-Mark (36). Zwar stand noch die Prüfung privater Restitutionsansprüche aus, aber das Geschäft war besiegelt.

Nach der Ermordung Detlef Rohwedders wurde Birgit Breuel THA-Vorsitzende. Nach ihrer Aussage hatte das einstige Vorstandsmitglied Karl Schirner im April 1991 diese „Gesamtlösung“ entwickelt (37). Sie wurde zum Kernelement eines Umstrukturierungsprozesses, bei dem profitable Verlage der ehemaligen DDR systematisch auf westdeutsche Interessengruppen aufgeteilt wurden, die ihre Ansprüche bereits geltend gemacht hatten.

Damit folgte die THA ihrem politischen Auftrag, also dem wirtschaftlichen Erhalt der DDR-Verlage und ihrer Arbeitsplätze. Ihr Auftrag war nicht, über Eigentümerschaft für Pressevielfalt zu sorgen.

Wettbewerb, also auch der Wettbewerb der Meinungen, sollte allein nach den Kriterien des Kartell- und Wettbewerbsrechts festgelegt werden.

Das hieß, jeder finanzstarke westdeutsche Verlag durfte innerhalb einer Region nur eine auflagenstarke DDR-Zeitung kaufen. Breuel unterstrich, die BRD-Verlage hätten im Vorfeld der Entscheidung durch Berichterstattung und/oder finanziellen Druck ihre Macht zu ihren Gunsten ausgespielt (37). Alternativen boten sich für die THA nicht.

Die Bundesregierung entscheidet

Die Alternativlosigkeit war Folge politischer Entscheidungen: Im Vorfeld des 13. Aprils 1991 hatte Peter Hoss, Geschäftsführer des Verbandes der Lokalpresse, des Dachverbands der lokalen Zeitungsverleger, „mit größter Sorge“ beim Bundesministerium des Innern (BMI), dem Bundeswirtschaftsministerium sowie beim THA-Verwaltungsrat und Vorstand gegen die Übertragung der Zeitungen „an wenige westdeutsche Großverlage“ protestiert (38). Seit dem 7. November 1990 hatte er wiederholt gefordert, die Entscheidung „so lange zurückzustellen, bis alle noch offenen Möglichkeiten einer Beteiligung mittlerer und kleiner Verlage vorgetragen und geprüft worden sind“ (38).

Hoss‘ Hilfegesuche blieben erfolglos. Das BMI antwortete spät, am 6. Mai 1990 und berief sich auf den „Grundsatz der Staatsferne der Medien“ (39). Die Verantwortung für die Übertragung läge vollständig bei der THA. Ähnlich argumentierte Finanzminister Jürgen Möllemann. Die THA hätte einstimmig beschlossen „an bestimmte Verlage aus den alten Bundesländern“ zu verkaufen und dabei „alle relevante[n] Kriterien“ beachtet (40). Er hätte keinen Einfluss darauf nehmen können.

Intern sah die Kommunikation allerdings anders aus. Es gab keine kohärente Linie oder Vorgehensweise verschiedener Bundesbehörden bezüglich der Privatisierung ehemaliger SED-Bezirkszeitungen. Konflikte zwischen den Behörden, Kompetenzstreitigkeiten und Verantwortungszuschiebung bestimmten den Kurs (41). Eine Initiative im BMI, der THA zu empfehlen „soweit als möglich, die bisherigen Bezirkszeitungen in kleinere Einheiten zu entflechten und die Möglichkeit des Erwerbs von Teileinheiten auch für kleinere und mittlere Verlage zu öffnen“ scheiterte daran (41). Die Strategie des BMI war das Spielen auf Zeit.

Stattdessen entschied Wirtschaftsminister von Würzen, ein Mitglied des THA-Verwaltungsrates, „der Treuhand bei der Privatisierung der Tageszeitungen keine Vorgaben zu machen“ (42). Denn jegliche Einflussnahme würde nur eine „weitere Verzögerung der Privatisierung“ mit sich führen (42). So wurde auf Bundesebene beschlossen, den politischen Auftrag der THA nicht zu erweitern.

Wohlverhaltensklausel als Farce

Für einen dennoch fairen Wettbewerb und zum Schutz kleiner Verlage nahm der THA-Verwaltungsrat stattdessen eine „Wohlverhaltensklausel“ in alle Privatisierungsverträge auf. Käufer wurden verpflichtet, „in wirtschaftlich vertretbarem Umfang“ die Entfaltung „von kleinen Lokalzeitungen nicht zu behindern“ (43). Eine Prüfung dieser Auflage durch die THA, das BMI oder sonstige staatliche Stellen gab es nicht.

Laut Hoss wurde die Klausel vielerorts ignoriert und damit zur Farce. Aggressiver Wettbewerb bestimmte den Markt (44). Die THA betonte intern, es sei nicht ihre Aufgabe, „das Wohlverhalten der ausgewählten Erwerbsinteressen“ zu prüfen (45). Auch das BMI fühlte sich nicht verantwortlich, fürchtete Konflikte und finanzielle Hürden und verwies zurück auf die THA (36). Damit schloss sich der Kreis der Verantwortungszuschiebung.

Fazit: Pressemonopole im Osten

Regionalmonopole ehemaliger SED-Bezirkszeitungen standen bereits früh im Visier finanzstarker BRD-Verlage. Diese teilten sie untereinander auf und übernahmen sei letztlich. So wurden Monopolstrukturen der DDR nicht, wie ursprünglich gedacht, zerschlagen, sondern mit wirtschaftlichem Kalkül weitergeführt. Laut dem Verband der Lokalpresse hätten BRD-Verlage so einen „nach den Gesetzen des staatlichen Zentralismus als Monopol aufgebauten Markt, in unveränderter Struktur übergeben bekommen, sich danach zunehmend konsolidiert und den Markt weiter zementiert“ (36).

Diese „Übergabe“ war nicht allein dem Markt geschuldet; sie bedurfte politischer Rahmenbedingungen. Laut dem Historiker Konrad Dussel war sie der politischen Entscheidung der Bundesregierung „gegen jedes Experiment“ geschuldet (46). Die THA hatte hier nur einen begrenzten Einfluss.

Die Folge waren Pressekonzentration und Zeitungssterben: Bis Mai 1992 ging die Zahl der Zeitungen in Ostdeutschland drastisch zurück. Von den ursprünglich 120 Zeitungen, die 1990 neu gegründet worden waren, waren zwei Jahre später nur noch etwa 65 Zeitungen aus etwa 50 Verlagen übrig. Bis November 1992 war die Zahl auf 50 Zeitungen aus 35 Verlagen gefallen. Bei der Lokalpresse sah das nicht anders aus: von ursprünglich 98 Lokalzeitungen waren bis November 1992 30 Zeitungen von 19 Verlegern übrig (47). Der Verband der Lokalpresse nannte es ein „trauriges Ergebnis“ (47).

Damit blieb die „Medienrevolution“ der DDR unvollendet. Der Marktdrang westdeutscher Verlage und Fehlentscheidungen auf Bundesebene führten zu einem Zeitungssterben und dem Untergang eines Stückes des demokratischen Traums der Wendezeit.

Eine souveräne ostdeutsche Presse konnte sich danach nicht entwickeln. Eine verpasste Chance für ein vereintes Deutschland.

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Die verschwundene Revolution
Dienstag, 12. November 2019, 14:00 Uhr
~10 Minuten Lesezeit

Die verschwundene Revolution

Teile der sogenannten friedlichen Revolution von 1989 werden in der Geschichtsschreibung fast vollständig verschwiegen.

von Katrin McClean

Foto: Bildagentur Zoonar GmbH/Shutterstock.com

Erinnern Sie sich noch — zumindest aus den Nachrichten — an den „Runden Tisch“ und das „Neue Forum“? Damals, während der kurzen Übergangszeit von der DDR zur osterweiterten Bundesrepublik, gab es Hoffnung und Aufbruch — auch in Deutschland nie dagewesene kreative Formen, Demokratie zu organisieren. Menschen wollten eine echte Alternative zum verkrusteten Honecker-Regime, aber auch zum sozial blinden West-System: einen Sozialismus ohne Mauer und Indoktrination, mit menschlichem Antlitz. Was daraus geworden ist, wissen wir: Was als revolutionärer Tiger gestartet war, endete als Kohls Bettvorleger. Sind die Ostdeutschen also selbst schuld an dem, was ihnen passiert ist? Hier verbieten sich Verallgemeinerungen. Einige sind der Freiheit sehr rasch untreu geworden und wollten lieber bei der Vaterfigur „Helmut“ und seiner D-Mark unterkriechen; andere — wie die Autorin — haben sich ihren Aufbruchsgeist bis heute bewahrt und können von damals berichten: von einem fast vergessenen und verdrängten Stück deutscher Geschichte.

Die verlorene Illusion

Wenn ich heute beispielsweise Richard David Precht in einer Talkshow sehe, wenn er erklärt, was an unserem Bildungssystem falsch ist, bekomme ich eine Art Déjà-vu. Vor allem denke ich: Hätten sie „uns“ damals bloß machen lassen!

„Wir“ haben 1989 sehr ähnlich über das Bildungssystem diskutiert. Dabei haben wir uns nicht lange an ausführlicher Kritik aufgehalten, sondern vor allem gemeinsam darüber nachgedacht, was man besser machen könnte.

„Wir“ — das waren die Aktivisten einer „Arbeitsgruppe Volksbildung“ in Leipzig, die mehr oder weniger lose mit dem Neuen Forum verbunden war und sich gegründet hatte, um Bildungskonzepte für die Zukunft in einer demokratisierten DDR zu entwickeln.

Das Neue Forum, zur Erinnerung oder zur Information für die Jüngeren, war eine politische Oppositionsbewegung, die sich nach dem tschechoslowakischen Vorbild „Obcanske Forum“ (Bürgerforum) in der DDR gegründet hatte, um eine wählbare Alternative zur alles beherrschenden SED zu werden. Wir gingen jeden Montag auf die Straße, um gemeinsam mit anderen Demonstranten freie Wahlen und die Zulassung des Neuen Forums zu fordern, natürlich auch mehr Reisefreiheit und generell echte Demokratie.

Wir hatten die Vorstellung, wenn das Neue Forum einmal als Partei anerkannt würde, dann müsste es große Chancen haben, bei den ersten wirklich freien Wahlen in der DDR gegen die SED zu gewinnen und dann wäre es endlich so weit: Wir könnten die politischen Greise in der Regierung, die mit ihrem Parteiapparat jede vernünftige Entwicklung im Land massiv erschwerten, endlich ablösen und die DDR zu einer modernen demokratischen Gesellschaft umwandeln.

Und darauf wollten wir vorbereitet sein. Es gab noch weitere Arbeitsgruppen, für Wirtschaft oder für Umweltschutz. Ich engagierte mich in der für Bildung. Wir kamen alle aus der Praxis, als Lehrer, Erzieher, Psychologen berichteten von unserem Alltag, büffelten pädagogische Theorien, diskutierten über die Vermeidbarkeit von Strafen, über den Sinn und Unsinn von Zensuren, über die beste Verbindung von Theorie und Praxis. Wir waren uns einig gegen das Auswendig-Lernen und hatten ein Modell entwickelt, das sich Nachbarschaftsschule nannte und so konsequent wie möglich Lernen mit praktischer Erfahrung (zum Beispiel in der unmittelbaren Umgebung) verbinden wollte.

„Wir haben wirklich geglaubt, wir könnten die Volksbildungspläne der Zukunft gestalten“, sagte neulich ein Mitstreiter von damals zu mir, als ich ihn nach dreißig Jahren am Stand eines Kinderbuchprojektes wiedertraf. Er hatte Tränen in den Augen und lachte. Ja, wenn man heute darauf zurückblickt, glaubt man, die eigene Naivität kaum noch fassen zu können. Und doch war es so. Es waren nicht zuletzt die Verlockungen und Versprechungen von ZDF und ARD, die unsere „Revolution“ ja von Anfang an unterstützt hatten und uns glauben ließen, dass da wirklich irgendjemand an einer Selbstbestimmung der DDR-Bevölkerung interessiert sein könnte.

Als der Traum kurz vor der Erfüllung schien

Freilich, die DDR lag schon im Argen. In Ungarn waren die Grenzen zum Westen geöffnet, eine ganze Völkerwanderung schien sich da hindurch zu bewegen. Und doch glaubten wir, den Exodus aufhalten zu können, wenn wir unsere Gesellschaft rechtzeitig nach den Regeln der Vernunft gestalten würden. Selbstverständlich wurde viel über Wirtschaft gesprochen, etwa darüber diskutiert, wie viel Privateigentum eine demokratische Gesellschaft vertragen kann, und wie flexibel sich auch eine Planwirtschaft gestalten ließe. Aber ich kenne keinen einzigen, der auf die Idee gekommen wäre, die komplette Privatisierung der volkseigenen Betriebe der DDR zu fordern.

Wir erlebten ein paar wenige Wochen, in der unser Ziel fast greifbar schien. Im September und Oktober 1989 wurden die Demonstrationen, die sich an die Friedensgebete in der Nikolaikirche anschlossen, immer größer. Immer mehr Menschen kamen, um sich den Rufen nach Demokratie und Freiheit anzuschließen, während links und rechts der Straße Polizisten mit Gummiknüppeln und heruntergezogenem Visier Spalier standen. Nie wussten wir, was diese Vermummten tun würden. Am Sonntag, dem 7. Oktober 1989, zum 40. Jahrestag der Republik hatte eine zusätzliche Demonstration stattgefunden, in der sich die Menschen den offiziellen Lobhudeleien der Parteifunktionäre entgegensetzten und die mit Gewalt zerschlagen wurde.

Erst recht fanden sich am Tag darauf, am 8. Oktober, noch mehr Menschen an der Nikolai-Kirche ein, um gegen diesen Gewaltakt zu protestieren. Diesmal tat die Polizei nichts. Und auch in den Wochen darauf, hielt sie sich zurück. Das sprach sich herum. Der Protest schwoll an, am Montag, dem 5. November, dann das Unfassbare: Eine gigantische Massendemonstration wälzte sich über den Leipziger Ring. Jemand erzählte mir, Straßenbahnen sollen angehalten und sich die komplette Fahrgastschar der Demonstration angeschlossen haben. All diese Massen wollten den Wandel unserer Gesellschaft!? Wir staunten, wir hatten das Gefühl, unsere große Zeit sei ganz nah. Noch standen die Polizisten bewaffnet am Straßenrand. Es heißt, nur das Intervenieren von Kurt Masur habe verhindert, dass sie an diesem Tag der größten Massendemonstration seit Beginn der Montagsdemos nicht zugeschlagen haben. Es fühlte sich an wie ein Siegeszug.

Am Freitag darauf trafen wir uns: Jetzt konnten, jetzt mussten wir Nägel mit Köpfen machen, dachten wir.

Mit der Mauer fiel auch die Revolution

Damals war es noch ziemlich normal, keinen Fernseher zu haben und auch kein Radio zu hören. Viele von uns hatten nicht mal ein Festnetztelefon zu Hause.

So ging ich also am Freitag, dem 9. November 1989, voller Zukunftsideen zu der Wohnung, in der sich unsere „Gruppe Volksbildung“ traf. Als mir jemand öffnete, sah ich Sektgläser. Meine Mitstreiter standen mit sehr unterschiedlichen Gesichtsausdrücken im Wohnzimmer herum.

Ich hörte es zum ersten Mal:

„Die haben die Mauer aufgemacht.“
„Was für eine Mauer?“
„Die Grenzen. Du kannst jetzt in den Westen.“

Mehr als ein ungläubiges „Aha“ brachte ich zuerst nicht hervor. Ich stürzte den Sekt eher schicksalsergeben herunter. Dass wir an diesem Abend nicht mehr über pädagogische Konzepte sprechen würden, verstand sich irgendwie von selbst. Jemand meinte, er fahre jetzt mit seinem Auto zum Bahnhof, Fotos machen. Der Bahnhof lag auf dem Weg zu meiner Wohnung, ich stieg mit ins Auto. Am Bahnhof kam ich kurz mit raus, es wimmelte von Menschen, die sich an den Türen drängten, um hineinzukommen. Man hatte Sonderzüge bereitgestellt, die nach Kassel oder Frankfurt am Main fahren sollten. Ich wollte dieses aufgeregte Massengedränge nicht aus der Nähe sehen und ging zu Fuß nach Hause. Am nächsten Tag las ich in einer Zeitung, dass eine Frau im Gedränge unter einen Zug gekommen und gestorben ist.

Mit den Freunden aus der Arbeitsgruppe Volksbildung traf ich mich nur noch wenige Male. Wir stellten unsere Konzeptentwicklung ein.

Die Montagsdemonstrationen gingen weiter, aber es waren nicht mehr unsere. Anstelle freier Wahlen forderten die Demonstranten, Helmut Kohl solle auch der Kanzler des Ostens werden. Sie gingen für Wahlen auf die Straße, die ohnehin mit Sicherheit auf sie zukamen, und sie verkündeten schon jetzt, wen sie wählen würden.

Die Reformbestrebungen einer DDR waren erledigt. Alle Reformüberlegungen waren mit dem Gedanken einhergegangen, dass man die Reisefreiheit schrittweise einführen müsste. Mit dem Mauerfall von einem Tag auf den anderen war das Schnee von gestern. Unsere Revolution löste sich vor unseren Augen in Nichts auf, das Schicksal der Noch-DDR-Bürger war besiegelt. Und diese Bürger marschierten in Massen über die Straße und forderten ihr bereits besiegeltes Schicksal ein. Es wurde absurd.

Noch gab es letzte Hoffnungen. Runde Tische wurden eingerichtet und ehrenwerte Personen wie Kurt Masur in Leipzig oder Christa Wolf und Christoph Hein in Berlin riefen die Bevölkerung zur offenen Zukunftsdebatte „für unser Land“ auf.

Nur eine ganz kurze Zeit lang konnte man zumindest die Illusion haben, wirklich jeder Mensch könne in dieser neuen Gesellschaft mitbestimmen, wenn er nur den Mund auftäte.

Auch unsere Volksbildungsgruppe hatte noch nicht alle Hoffnung fahren lassen. Wir folgten einer Einladung des damaligen Stadtdezernenten für Bildung, Wolfgang Tiefensee, und nahmen an einem „Runden Tisch“ teil, bei dem es um das künftige Bildungskonzept von Sachsen gehen sollte.

Vertreter unserer Gruppe präsentierten das Modell der Nachbarschaftsschule. Ich erinnere mich an mehrere Blicke auf die Uhr, besonders bei Herrn Tiefensee und seinen Begleitern.

Am nächsten Tag erfuhren wir aus der Zeitung, dass sich Sachsen schon einige Tage zuvor entschieden hatte, das Bildungssystem von Bayern zu übernehmen.

Wir mussten kapieren, dass unsere Montagsdemos, unsere angebliche friedliche Revolution nur der Türöffner gewesen war, damit sich das westdeutsche System Zug um Zug in der zerfallenden DDR niederlassen konnte.

Heute erinnert kaum jemand daran, dass diejenigen, die diese Revolution begonnen hatten, die Macht eigentlich selbst übernehmen wollten. Natürlich nicht. Dann müsste man ja eingestehen, dass es sich genau genommen um eine gestohlene Revolution handelt.

Und wie kann man das, was dann folgte, überhaupt noch Revolution nennen? Wenn Massendemonstrationen in ihrer letzten Konsequenz dazu führen, dass gesellschaftliches Eigentum wieder privatisiert und zur kapitalistischen Profitmacherei freigegeben wird — in unserem Schulunterricht hieß so ein Vorgang „Konterrevolution“.

Die intellektuelle Enthauptung

Eine versuchte Revolution könnte man vielleicht noch einmal das nennen, was nach der Besetzung gesellschaftlicher Schaltzentralen im Osten durch Politiker und „Fachleute“ aus der BRD geschah. Einigermaßen bekannt sind noch die Aufstände ostdeutscher Arbeiter, die gegen die Schließung ihrer Betriebe durch die Treuhand protestierten. Was kaum noch auffindbar ist, sind Erinnerungen daran, dass man 1990 und in den Folgejahren die akademische Schicht des Ostens in die Wüste geschickt hat. Die DDR ist praktisch intellektuell enthauptet worden, obwohl es dagegen massiven Protest gab.

Im Dezember 1990, am ersten Tag der Weihnachtspause der Universitäten und Hochschulen in den inzwischen „neuen Bundesländern“, wurde bekannt gegeben, dass alle Universitäten und Hochschulen im Osten während dieser Pause neu besetzt werden sollten.

Man hatte einfach den ganz schnellen Prozess geplant, Ost-Professoren und -Dozenten weg, Fachleute aus dem Westen rauf auf die frei gewordenen Posten.

Zu den Begründungen für die geplante Akademiker-Entlassungswelle zählte unter anderem die Feststellung, dass alle DDR-Hochschullehrkräfte in der SED gewesen seien und daher aus ideologischen Gründen für ihre neuen Aufgaben nicht mehr tragbar.

Solche und andere Vorwürfe zeugten von einer kompletten Unkenntnis der DDR-Gesellschaft. Um eine bestimmte Karrierestufe in der DDR zu erreichen, war man gezwungen, Parteimitglied zu werden. Viele Wissenschaftler sind dabei einen Kompromiss eingegangen, weil er sie in die Lage versetzt hat, sich in ihrer Position für sozialen Fortschritt in der DDR einzusetzen. Viele haben einfach gute Arbeit geleistet und genossen nicht selten hohe internationale Anerkennung. Und warum soll das Bekenntnis, sich für Sozialismus und Weltfrieden einzusetzen, überhaupt ideologisch fragwürdig sein?

Dass man so gut wie alle amtierenden Dozenten und Professoren einfach absetzen wollte, löste massive Proteste bei den Studenten aus. Wochenlang besetzten sie in Berlin und Leipzig ihre Universitäten. Ich selbst nahm an der Uni-Besetzung in Leipzig teil. Der Protest bewirkte, dass sogenannte Berufungskommissionen unter studentischer Beteiligung eingeführt wurden. Was man in einer Hauruck-Aktion nicht durchsetzen konnte, wurde schließlich in langwierigen ermüdenden Diskussionsrunden durchgezogen, wo der prüfungsgeplagte Student in Zeitnot als einziger Befürworter eines geachteten Professors jedes Mal hoffnungslos unterlag.

Heute wird diese intellektuelle Enthauptung der ehemaligen DDR-Gesellschaft schulterzuckend in den allgemeinen Biografiebruch aller Ostdeutschen eingeordnet. Und in den heutigen Quellen sucht man vergeblich nach unseren Protesten gegen diese würdelose Entehrung verdienstvoller Wissenschaftler.

Aber es gab diese Proteste, wie so vieles andere, was es in der DDR und während der Wende gegeben hat und wovon am 30. Jahrestag der Erinnerung an jene Zeit wieder nicht die Rede sein wird. Weil die Geschichte eben vom Sieger der Geschichte geschrieben wird, und der lässt weg, verschweigt und beschönigt, wie es für ihn am besten ist. Und dass eine Revolution ohne die Revolutionäre gefeiert wird, geschieht ja auch nicht zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte.

Retten wir die Geschichte mit unseren Geschichten

Was wir aber tun können, ist unsere Geschichte zu retten, bevor sie im Schwarz-Weiß der Rückschau-Propaganda völlig verschwindet, bevor wir uns selbst kaum noch daran erinnern, dass es in den Siebzigern oder Achtzigern noch so viel mehr gab als Diktatur im Osten und Freiheit im Westen. Und überhaupt wird es längst Zeit, diese einseitige Rückschau auf den Osten zu beenden, der sich angeblich in den Westen hinein befreit hat. Auch die ehemalige BRD war vor 1989 ein anderes Land als das heutige Deutschland und auch da gibt es sicher sehr viel mehr Geschichten, die das übliche Klischee durchbrechen.

Ein Buchprojekt, das von Rubikon und Free21 unterstützt wird, möchte ein solcher Geschichtenretter sein. Interessierte können sich mit eigenen Beiträgen beteiligen.

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Die Säuberung der Wissenschaften
Dienstag, 12. November 2019, 13:00 Uhr
~8 Minuten Lesezeit

Die Säuberung der Wissenschaften

Nach der Wende wurde nicht nur der Marxismus an den Universitäten entsorgt — auch das ostdeutsche Personal wurde überwiegend durch westdeutsches ersetzt. Exklusivabdruck aus „Entsorgt und ausgeblendet“.

von Jürgen Angelow

Foto: LightField Studios/Shutterstock.com

Was sich im „Großen“ vollzieht, zeigt sich oft auch im „Kleinen“. Die Wende hat natürlich auch den Universitäten- und Wissenschaftsbetrieb der ehemaligen DDR grundlegend verändert. Ostdeutsche Akademiker-Biografien wurden bald nach der Wiedervereinigung obsolet. Das Personal an den Universitäten wurde Schritt für Schritt verwestlicht und vermännlicht. Und natürlich konnten die stramm antikommunistisch denkenden Eroberer aus dem Westen in den Sozialwissenschaften nicht einmal mehr Restbestände marxistischer Diskurse dulden. Diese Vorgänge zeigen deutlich einen Generalfehler derer, die aus dem Wettbewerb der Gesellschaftssysteme als Sieger hervorgegangen waren: Sie wollten den Bruch, keinen sanften Übergang; Umerziehung statt Bewahrung des Positiven am DDR-System; die Unterwerfung des „Gegners“ statt Kompromissen.

Der Umbau des ostdeutschen Wissenschaftssystems

Eingangs ist darauf hingewiesen worden, dass Eliten nicht nur Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen können, sondern ebenso mit Prestige ausgestattet sind und/oder die Möglichkeit besitzen, gesellschaftliche Orientierungen und Perspektiven zu formulieren und das Klima einer Gesellschaft zu formen. Dem sollte hinzugefügt werden, dass Hierarchien aus kulturellem Kapital immer wieder auf sozialem Terrain bestätigt werden müssen. Kulturelle Hierarchien sind etwas Ideelles. Sie können sich nur dann etablieren, wenn sie von anderen akzeptiert und sozial verstetigt werden. Dadurch sind sie immer mit sozialen Kämpfen um Klassifizierung verknüpft (1).

Wir haben weiterhin festgestellt, dass sich die ost- und die westdeutsche Gesellschaft vor der Herstellung der staatlichen Einheit 1990 mental sehr weit auseinander bewegt hatten.

Bis 1990 wurde der Osten Deutschlands von vielen Westdeutschen eher undifferenziert oder nur am Rande wahrgenommen. Dieser Zustand ist mit dem Beitritt der ostdeutschen Länder natürlich nicht schlagartig korrigiert worden.

Bis heute besteht in weiten Bevölkerungskreisen der alten Bundesländer eine große Unwissenheit über Ostdeutschland fort. An vielen Beispielen könnte gezeigt werden, dass diese Unkenntnis zu Missverständnissen und Fehldeutungen führt. Erinnert sei hier nur an den von einem ehemaligen niedersächsischen Justizminister konstruierten Zusammenhang von kollektivem „aufs Töpchen gehen“ und einer angeblichen Anfälligkeit für Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit (2).

Das Thema wurde bereits weiter vorn angesprochen. Es eignet sich bestenfalls für ironische Überhöhungen. Ein anderer prominenter Westdeutscher, ein ehemaliger Innenminister des Landes Brandenburg, stellte die Behauptung auf, die Tötung von Neugeborenen in Ostdeutschland sei auf die Kollektivierung der Landwirtschaft und eine damit einhergehende Verwahrlosung der Gesellschaft zurückzuführen (3).

Natürlich kann man etwas gegen die Ahnungslosigkeit tun und selbstverständlich können solche Fehldeutungen im Nachhinein richtiggestellt werden, aber wer möchte sich dem andauernd unterziehen? Wäre es da nicht besser, die Ostdeutschen gleich selbst und prominent zu Wort kommen zu lassen? Eine Gesellschaft, die durch so große kulturelle Differenzen gekennzeichnet ist wie die deutsche, und eine Welt, die disparat und voller Widersprüche sowie Paradoxien scheint, benötigt zwingend Deutungsangebote, die alle relevanten kulturellen Prägungen und Perspektiven abdecken, im deutschen Fall auch die der ostdeutschen Minderheit. Deutungsangebote gehen nicht nur von Politikern, sondern vor allem von den Medien und den Sozialwissenschaften aus. Daher sollen im Folgenden beide Bereiche in Bezug auf die Möglichkeit Ostdeutscher, sich an einflussreicher Stelle zu artikulieren, näher unter die Lupe genommen werden.

Aussonderung im Bereich der Sozialwissenschaften

Betrachten wir zunächst die Sozialwissenschaften. Das ostdeutsche Wissenschaftssystem hat sich nach 1990 gravierend verändert, nicht nur in Bezug auf Inhalte, sondern auch auf Personen. Dabei sind die bereits vor 1990 als reformwürdig erkannten strukturellen Probleme der westdeutschen Ordinarienuniversität mit ihren verfestigten Machtstrukturen, dem Übergewicht von Patronagebindungen und vertraglosen Austauschbeziehungen sowie dem damit verbundenen enormen Anpassungsdruck einfach auf die ostdeutschen Länder übertragen worden.

Da sie in bisherige Transaktionen nicht involviert waren und keinen Netzwerken angehörten, bestand für die ostdeutschen Wissenschaftler ein enormes Schwundrisiko. Ihre Abschlüsse waren zwar anerkannt, aber herabgesetzt, ihre Beziehungen abgerissen oder wertlos, ausstehende Gratifikationen irrelevant geworden.

Beinahe jede ostdeutsche Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler haben eine Veränderung ihres beruflichen Status erfahren, wobei die Aufwärtsmobilität deutlich geringer war als die Abwärtsmobilität (4).

Das ursprünglich tätige Personal ist deutlich dezimiert und in seiner Zusammensetzung vermännlicht sowie verwestlicht worden. Plausiblen Schätzungen zufolge wurden circa 60 Prozent des Personals der ostdeutschen Hochschulen und ebenso viel der außeruniversitären Akademieforschung (Ausnahmen bilden die Max-Planck-, Fraunhofer- und Blaue-Liste-Institute) sowie — durch das Wirken der Treuhandanstalt — etwa 85 Prozent der Industrieforschung abgebaut (5).

Besonders betroffen waren die Geisteswissenschaften, also jene in der DDR aufgeblähten Bereiche, die Deutungsangebote in Politik, Gesellschaft und Kultur unterbreiten (6). Eine neuere und differenziertere Statistik über die Besetzung der ostdeutschen Professuren und verstetigten Stellen ist nicht zugänglich. Die Angelegenheit wird offenbar als zu unwichtig angesehen, als dass sich dafür Forschungs- und Finanzressourcen fänden. Auch das ist ein Teil des Problems (7).

Bild

Während die ordentlichen Professuren der Politikwissenschaft nahezu vollständig westdeutsch besetzt sind, kann bei der Philosophie, der Geschichtswissenschaft und den Literaturwissenschaften von einer klaren Dominanz westdeutscher Professoren ausgegangen werden (8). Der Anteil der Ostdeutschen beschränkt sich hier inzwischen weithin auf untergeordnete und befristete Positionen sowie auf prekär Beschäftigte im Bereich der zahlreich vertretenen unbezahlten Lehrbeauftragten beziehungsweise Privatdozenten und außerplanmäßigen Professoren. Ostdeutsche Sozialwissenschaftler sind heute kulturell marginalisiert und weitgehend sozial desintegriert (9).

Der von Bourdieu beschriebene und eingangs erwähnte Zusammenhang von kultureller Positionierung und sozialer Bestätigung wurde bei den betreffenden ostdeutschen Gruppen eindeutig aufgelöst. Ihr kulturelles Kapital findet keine soziale Gratifikation. Sie können sich bestenfalls zwar noch „Professoren“ nennen, werden aber nicht als solche bezahlt und sozial geachtet. Ursache dieses Verdrängungsprozesses waren „wissenschaftstypische Konkurrenzstrukturen, habituelle Ost-West-Unverträglichkeiten sowie politische und fachliche Argumente unterschiedlicher Berechtigung“, wobei letztere oft angeführt wurden, um Konkurrenzstrukturen wie Schulbildungen oder Patronagesysteme sowie habituelle Differenzen nicht erwähnen zu müssen (10).

Die Aussortierung der Ostdeutschen hat die genuinen sozialen Konflikte der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft abmildern helfen und insbesondere den Ressourcenstau im Akademikerbereich für eine gewisse Zeit beseitigt. Reformansätze wurden für lange Zeit unterbunden. Es war die Stunde der westdeutschen Durchschnittsbegabungen, die ostdeutsche Hochbegabte ausstachen, ohne eine Chance zu besitzen, die im Osten errungene Position wieder zu verlassen, beispielsweise durch einen Ruf an eine westdeutsche oder ausländische Universität (11).

Keine Durchmischung von Personal und Perspektiven

Zwei Argumente werden immer wieder angeführt, die beweisen sollen, dass dieses Problem heute eigentlich irrelevant sei: Zum einen wird auf die Durchmischung des akademischen Personals und der Professuren in den Geisteswissenschaften abgehoben, die natürlich wünschenswert sind, um neue Gedanken und Ansätze in der Forschung zu implementieren und den Studierenden verschiedene Perspektiven aufzuzeigen. Doch die Praxis hat gezeigt, dass eine solche Durchmischung von Ideen und Konzepten nicht stattgefunden hat, stattdessen aber Verdrängung. Wieder einmal wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Den Geisteswissenschaften der neuen Länder sind nicht nur die ehemals dominierenden marxistisch basierten Ansätze abhanden gekommen, was im Falle deren orthodoxer Zuspitzungen vertretbar gewesen wäre, nicht jedoch in ihrer Ausnahmslosigkeit, die der antikommunistischen Grundprägung der westdeutschen Eliten geschuldet war.

Abhanden gekommen sind vielmehr die viel breiter gestreuten ostdeutschen Perspektiven insgesamt. Zum anderen wird angeführt, dass die Ostdeutschen vom Gesamtpool der Bevölkerung lediglich 21 Prozent ausmachen, sodass sich dieses Verhältnis auch bei der Besetzung von Stellen im akademischen Betrieb widerspiegeln muss. Ein solches Rechenexempel würde einleuchten, wenn man es denn ernst nehmen und sich eine entsprechende Anzahl von ostdeutschen Akademikern auch an den westdeutschen Universitäten befinden würde. Dies ist allerdings nicht der Fall (12).

Da die ostdeutschen Sprecher in den öffentlichen Diskursen der Bundesrepublik nicht mehr adäquat repräsentiert und kaum mehr wahrnehmbar sind, werden ostdeutsche Probleme oft ausgeblendet oder verzerrt wiedergegeben. Wenn überhaupt, dann ist ostdeutsche Deutungskompetenz nur bei ostdeutschen Themen gefragt, und da meistens auf einem subalternen Niveau, welches stets die wissenschaftliche Versachlichung aus Westperspektive erforderlich macht. Bei allgemeinen Deutungen politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Art fehlt eine kritische ostdeutsche Perspektive vollends.

Zu keinem einzigen essenziellen Problem des vereinigten Deutschlands, ob Steuerpolitik, innere Sicherheit, Außenpolitik, Verhältnis zu den USA und so weiter wurde jemals ein ostdeutscher Wissenschaftler prominent gehört. Ostdeutsche werden — abgesehen von Alibi-Vertretern — hierfür als nicht zuständig erklärt. Dies ist auch deshalb ein ernstes Problem, da Wissenschaft und Medien auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind und Deutungen sowie Formulierungsangebote aus dem akademischen Bereich von den Medien gern prominent und massenwirksam inszeniert beziehungsweise übernommen werden. Die massenhafte „Entsorgung“ ostdeutscher Vertreter im Bereich der Geisteswissenschaften setzt sich in der Marginalisierung ostdeutscher Perspektiven in der großen Öffentlichkeit fort.

Der Verzicht auf eine selbständige, nicht von Westdeutschen gelenkte ostdeutsche Deutungskompetenz hat schon jetzt dazu geführt, viele Facetten und spezifische Problemlagen der neuen Länder, aber auch allgemeiner Natur, zu verkleinern oder zu verkennen. Zwar ist die westdeutsche Perspektive auf die ostdeutsche Realität — sozusagen als Außenblick — nicht unwichtig, sie sollte allerdings, viel stärker, als dies nun geschieht, durch eine wissenschaftlich qualifizierte ostdeutsche Innenperspektive ergänzt werden, die ohne mühsame Übersetzungsanstrengungen typisch ostdeutscher Codes auskommt.

Umgekehrt wäre es denkbar, die westdeutsche — vor 1990 — oder gesamtdeutsche Realität — nach 1990 — mit ostdeutschen Wahrnehmungen zu konfrontieren und so tatsächlich Pluralismus und Perspektivenvielfalt zuzulassen. Doch hierfür müssten die Weichen erst gestellt werden.

Um ostdeutsche Perspektiven im akademischen Milieu dauerhaft zu verankern und sichtbarer zu machen, wäre eine Korrektur der gesamtdeutschen Berufungspraxis sowie der Personalpolitik an den ostdeutschen Universitäten und Hochschulen notwendig, die im Zusammenhang mit einer grundlegenden Reform der Hochschullandschaft zugunsten transparenterer, durchlässigerer und gerechterer Strukturen erfolgen sollte.

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Unerhörte Ostfrauen
Dienstag, 12. November 2019, 12:00 Uhr
~6 Minuten Lesezeit

Unerhörte Ostfrauen

Die Frauen aus der DDR haben Kind, Kegel und Karriere in beiden Systemen geschaukelt.

von Ellen Händler, Uta Mitsching-Viertel

Foto: Mitrofanov Alexander/Shutterstock.com

Es ist für Frauen ohnehin schwierig, sich Gehör zu verschaffen. Eine Frau aus dem Osten zu sein, wird von vielen als doppelt diskriminierend empfunden. Ihre reichen Erfahrungen waren von heute auf morgen nichts mehr wert. Die Deutungshoheit über ihr Leben beanspruchten andere, vor allem Männer aus dem Westen. Dabei gäbe es viel, worauf speziell Ost-Frauen stolz sein können: Die „Life-Work-Balance“ zu finden, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen, das haben sich West-Frauen erst nach und nach erobert, und bis heute wird von ihnen der nicht vollendete Emanzipationsprozess beklagt. In der DDR waren starke, berufstätige Frauen eher die Regel als die Ausnahme, auch dank gut organisierter staatlicher Kinderbetreuung. Höchste Zeit für Ost und West, einander zuzuhören. Ein neues Buch will die unerzählten Geschichten der Ost-Frauen für alle zugänglich machen.

30 Jahre ist der Mauerfall und damit die von vielen lang ersehnte Vereinigung von Ost- und Westdeutschland nun schon her. Nach der Wende konzentrierte man sich auf den sogenannten Aufbau Ost — und dabei wurde kaum geschaut, was im Osten vielleicht gut war und was zu bewahren sich gelohnt hätte. Zu den Fehlern der Wiedervereinigung gehört sicherlich die Frauen- und Familienpolitik. Denn flächendeckende Kinderbetreuung von der Krippe an, warmes Mittagessen in der Schule, frauenpolitische Maßnahmen zur Ausbildungsförderung oder Haushaltstage waren in der DDR lange etabliert. Heute, in der wiedervereinigten Bundesrepublik sind es Schlagworte, die für viele Frauen (und Männer), die Beruf und Familie verbinden möchten, noch immer nicht Wirklichkeit sind.

Anderes galt für diejenigen, die in den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren in der DDR lebten. Viel selbstverständlicher als ihre Geschlechtsgenossinnen im Westen haben die Ostfrauen gleichzeitig das Kind geschaukelt und im Beruf ihre Frau gestanden. Mit der Wende erschien es einigen, als seien sie in Sachen Gleichberechtigung ins Mittelalter zurückgefallen.

So berichten es die 37 Frauen, die wir, selbst Ostfrauen, für unser Buch „Unerhörte Ostfrauen. Lebensspuren in zwei Systemen“ interviewt haben. Unerhört sind unsere Protagonistinnen in zweifacher Hinsicht: Authentisch sind sie, emanzipiert und tatkräftig; sie nehmen kein Blatt vor den Mund.

Unerhört sind sie aber auch, weil sie in den vergangenen 30 Jahren nach der Wende so wenig zu Wort kamen, weil sie viele der Errungenschaften, die in der DDR schon erreicht waren, aufgeben mussten und ihre Erfahrungen auf einmal nichts mehr wert sein sollten.

Wir wollten das ändern. Das Buchprojekt war uns ein persönliches Anliegen — und so sind auch die Zugänge und Einblicke, die uns die Frauen gewährt haben, ganz persönlich. Alle hatten etwas zu sagen.

Da ist Marianne, die die Wende buchstäblich verschlafen hat. Am nächsten Morgen ist sie verwundert über all die Menschen, die in ihrem Supermarkt mit Sekt anstoßen. Einige Tage später macht sie sich auf zu ihrem ersten Besuch in das unbekannte Westberlin — und wird fast erschlagen von der Fülle an Waren und Angeboten. Von ihren fünfzehn Mark Begrüßungsgeld, darüber lacht sie noch heute, kauft sie eine Stricknadel in einer Stärke, die es in der DDR nicht gegeben habe. Heute hat die Stricknadel einen Ehrenplatz in ihrer Wohnung.

Oder Hanne, die der Wiedervereinigung zunächst mit großer Euphorie begegnete: „Wir erwarteten das Paradies“, sagt sie. Aber schon bald hält die Wirklichkeit Einzug in Hannes Leben. Zwei Jahre dauert es, bis sie ihre plötzliche Entlassung, den damit verbundenen Druck und die Angst meistert. Aber sie beißt sich, wie so viele Ostfrauen, durch und schafft einen Neuanfang. Im Westen wird auch nur mit Wasser gekocht, resümiert sie ihr Arbeitsleben.

Alle Frauen sind zurecht stolz auf ihre Lebensleistungen. Nach der Wende wurde sie ihnen jedoch häufig abgesprochen, ihnen mit Klischees über die DDR-Frauen begegnet: Kittelheldinnen, Rabenmütter, multitaskende Viertaktweiber oder gebärfreudige Arbeitsbienen sollten sie gewesen sein, die sich in einem System, in dem Berufsautomatismus herrschte, kaum individuell entwickeln hätten können — kollektivistische Gleichmacherei statt Gleichberechtigung, so der Vorwurf, den man noch in diesem Jahrzehnt in einigen Zeitungen lesen konnte.

Die von uns interviewten Frauen wehren sich engagiert und selbstbewusst. Entwaffnend offen ziehen sie persönliche Bilanz, berichten über fehlende Anerkennung und Vorurteile, die ihnen im Westen begegnet sind, über ihren Neuanfang nach der Wende und über ihren Erfahrungsvorsprung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, den sie in den Westen eingebracht haben.

Sie wollen die Deutungshoheit über ihr Leben nicht länger anderen überlassen, sondern ihre Wahrheit erzählen. Sie wollen auf die vielen frauenpolitischen Errungenschaften hinweisen, die in der DDR durchgesetzt waren und die auch heute noch ein Vorbild für die gesamte Republik sein könnten — traute man sich, aus der Vergangenheit zu lernen, die Ostfrauen und ihre Erfahrungen ernstzunehmen und als Bereicherung zu begreifen.

Und wenn nicht jetzt, wann dann? Dreißig Jahre nach der Wende muss es endlich an der Zeit sein, Mythen in Ost und West abzubauen und Illusionen zu begraben. Dabei geht es nicht um Beschönigungen: Auch in Sachen Gleichberechtigung war nicht alles gut im Osten. Die Frauen, heute zwischen sechzig und achtzig Jahre, berichten über schwere Zeiten vor und nach der Wende. Einige Narben spüren sie noch heute, wenn sie an gescheiterte Beziehungen und Scheidungen denken, oder an das Gefühl, nicht immer genug Zeit für die Kinder gehabt zu haben. Auch Doppelbelastung oder mangelnde Mithilfe der Männer im Alltag und bei der Kindererziehung kommen zur Sprache — Themen, die noch heute aktuell sind und Familien belasten.

Den meisten unserer Ostfrauen geht es heute gut, ein Zurück zur DDR ist für sie keine Option. Ihre Sicht ist nicht rückwärtsgewandt, Ostalgie oder die Verherrlichung des ewig Gestrigen hat in ihrem Leben keinen Platz.

Dazu haben sie zu viel erlebt, berichten auch von den Zwängen und Beschränkungen des Alltags in der DDR — und einige von ihrer Entscheidung zur Flucht in den Westen.

Unser Buch erschien am 8. März 2019. Seitdem lesen wir landauf und -ab aus den Lebenserinnerungen. In Graal-Müritz und Rostock, in Berlin und Erfurt, in der Uckermark, in Frankfurt am Main, in Lüneburg und München, selbst in Österreich fesseln die so unterschiedlichen Schicksale und Lebenseinstellungen Zuhörerinnen und Zuhörer aller Altersgruppen.

Jede Veranstaltung endet in interessanten und streitbaren Diskussionen. Da meinen schon Männer, immer für die Gleichberechtigung eingetreten zu sein: Schließlich hätten sie immer brav den Mülleimer geleert, wenn die Ehefrau es gewünscht habe. Weitere Ostfrauen berichten, wie ihnen nach der Wende die Anerkennung ihrer Selbstbestimmung und ihre ökonomische Unabhängigkeit ebenso abhandenkam wie das Recht auf Abtreibung. Oft sind die heutigen Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau Thema — denn gleicher Lohn für gleiche Arbeit, das war in der DDR eine Selbstverständlichkeit. Westfrauen teilen ihre Erfahrungen, etwa dass die Gesetze in der Bundesrepublik bis in die 1970er-Jahre eine Berufstätigkeit der Frauen von der Zustimmung des Ehemannes abhängig machten oder dass fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten vieles erschwerte.

Aufgefallen ist uns in den vielen Gesprächen nach unseren Lesungen, dass Ostfrauen sich vor allem über ihren Beruf definieren, bei vielen Westfrauen dagegen der Stolz über das Werden und die Karrieren ihrer Kinder im Vordergrund stehen. Ihre eigene, persönliche Entwicklung tritt dabei in den Hintergrund. Und dann enden viele dieser Gespräche doch wieder in Vergleichen. Wie war es im Osten, wie im Westen? Aber dieser Dialog ist es doch, der wichtig ist, der uns auf unseren Reisen bereichert und begeistert. Er ist es auch, der uns Hoffnung auf die Zukunft macht, auf künftige Generationen, die aus unseren Erfahrungen lernen können. Schließlich erleben wir auch, dass viele jüngere Frauen unser Buch ihren Müttern und Großmüttern schenken, um endlich mit ihnen, den unerhörten Frauen aus Ost und West, über die „alten Zeiten“ ins Gespräch zu kommen.

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Aus: Ausgabe vom 18.11.2019, Seite 15 / Politisches Buch
Geschichte der DDR

Spaltung durch »Wiedervereinigung«

Die DDR hat es gegeben: Siegfried Prokop über ostdeutsche Lebenswege
Von Holger Czitrich-Stahl
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Hubert Link dpa/lbn
Heinrich Dathe (1910-1991), Gründer und langjähriger Direktor des Tierparks von Berlin, Hauptstadt der DDR (hier 1991, kurz nach deren Anschluss an die BRD)

 

Siegfried Prokop: Lebenswege in der DDR. Skizzen und Beiträge zu Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Wissenschaft. Edition Bodoni, Neuruppin 2019, 287 Seiten, 20 Euro

Die Kritik des einseitig abwertenden Umgangs mit der DDR war bereits der rote Faden von Siegfried Prokops Buch »Die DDR hat’s nie gegeben« aus dem Jahr 2017. Mit diesem Band erreichte der Historiker ein breites Publikum, vor allem in den ostdeutschen Ländern (aber keineswegs nur dort). Hatte Prokop seinerzeit vor allem Weichenstellungen der DDR-Geschichte anhand von zum Teil schwer zugänglichen Quellen rekonstruiert und kommentiert, so geht er in seinem soeben erschienenen Buch »Lebenswege in der DDR« etwas anders vor.

 

Er will nun den subjektiven Faktor »und damit die Vielschichtigkeit, Kompliziertheit und Komplexität des Werdeganges der DDR« unterstreichen. Es ist nicht zuletzt angesichts aktueller politischer Verwerfungen notwendig, die DDR auch auf dieser Ebene so zu präsentieren, wie sie war, und nicht, wie sie nach Zweckmäßigkeitsüberlegungen zu sehen sei. Nicht ohne Grund zitiert Prokop aus der FAZ, dass Deutschland »das einzige Land ist, das durch eine Wiedervereinigung gespalten wurde«. Die anhaltende Denunziation der DDR als »Unrechtsstaat«, als »Diktatur« mit einer »maroden Wirtschaft« usw. stößt (nicht nur) bei den Menschen, die in ihr aufwuchsen, auf immer weniger Verständnis. Wo ausschließlich über die DDR und kaum oder gar nicht mit Zeitgenossen geredet wird, wo abgeurteilt statt beurteilt wird, ist es um die gerne beschworene »Einheit« nicht gut bestellt, um Günter Benser zu zitieren.

49 Texte aus mehreren Jahrzehnten versammelt Prokop in diesem Band. Darunter sind Buchbesprechungen, Vorträge und wissenschaftliche Beiträge, Artikel und Porträts, Interviews, Leserbriefe, Laudatien und Gedenkreden. Auch seltene Dokumente zu den vorgestellten Persönlichkeiten oder Sachverhalten werden präsentiert. Am Anfang des Bandes steht ein 1990 für die Weltbühne geschriebener Artikel, in dem die Hintergründe der Debatte um einen »besonderen deutschen Weg zum Sozialismus« in den Jahren 1946 bis 1948 beleuchtet werden. Anton Ackermann sei es mit dieser Orientierung nicht um ein anderes Gesellschaftsmodell als das des Sozialismus gegangen, sondern um einen auf die deutschen Nachkriegsverhältnisse bezogenen Weg dorthin, bilanziert Prokop. In anderen Texten geht es um den Naturwissenschaftler Manfred von Ardenne, den Zoologen Heinrich Dathe, den ersten Außenminister der DDR, Georg Dertinger, den Philosophen und Publizisten Wolfgang Harich, Erich Honecker, Hans Modrow, Walter Ulbricht. Nur bei wenigen der Porträtierten stellt man »glatte Karrieren« fest.

Heinrich Dathe (1910–1991) etwa gehörte als Direktor des 1954 gegründeten Tierparks in Berlin-Friedrichsfelde zu den bedeutendsten Zoodirektoren in Europa. Noch heute besticht die großräumige Anlage, die das Ideal eines »Volkstierparks« anstrebte, erschwinglich für alle Bürger und nicht dem Kostendeckungsprinzip unterworfen. Das war zu großen Teil das Verdienst Dathes, dessen Stimme die Hörer – auch im Westen übrigens wie ich als Kind – am Sonntag im Berliner Rundfunk vernehmen konnten. Ende 1990 regelrecht aus dem Amt gejagt, starb er wenige Tage nach seiner Entlassung.

Prokop gewährt, wie schon 2017 im Vorgängerband, wichtige, teils überraschende Einblicke in Tiefenschichten der DDR, in das Alltagsleben, aber auch in die politischen Strukturen. Er verdeutlicht Widersprüche und Hemmnisse, zeigt aber auch, wo die großen Chancen lagen. Die DDR hat es gegeben, und die Lebenswege ihrer Menschen zeigen, wie unzureichend die verordneten Sichtweisen sind.

 

Aus: Ausgabe vom 18.11.2019, Seite 8 / Abgeschrieben

Gedenken an DDR-Gründung: Antikapitalismus in Österreich verboten?

Stellungnahme der Organisatoren einer Veranstaltungsreihe zum 70. Jahrestag der DDR-Gründung in Wien, Linz und Innsbruck:

Nach zwei Veranstaltungen in Wien und Linz am 8. und 11. November sollte am 13. November 2019 auch in Innsbruck eine gemeinsame Veranstaltung des Kommunistischen StudentInnenverbandes (KSV), der Kommunistischen Jugend (KJÖ) und der Partei der Arbeit Österreichs (PdA) stattfinden. Das Thema lautete: »70 Jahre Gründung der DDR«, und ihr Ziel war es – so der Ankündigungstext –, »über die Verdienste, die Erfolge, aber natürlich auch über die fehlerhaften Entwicklungen der Deutschen Demokratischen Republik (zu) diskutieren« – und Schlüsse zu ziehen, wie ein zukünftiger Sozialismus besser zu gestalten wäre. Als Vortragender und Diskussionspartner wurde seitens der Veranstalter ein Zeitzeuge, der deutsche Jurist und Anwalt Dr. Hans Bauer, ehemaliger stellvertretender Generalstaatsanwalt der DDR, eingeladen. (…) Während die Veranstaltung in Wien mit gut 80 Besuchern erfolgreich und für alle Beteiligten informativ über die Bühne ging, fingen in Linz die Probleme an: Die vom ÖGB zugesagten Räumlichkeiten wurden nach einer medialen Diffamierungskampagne der ÖVP verweigert, die Stadt Linz sprang jedoch ein und stellte für den Termin einen Saal im Volkshaus Pichling zur Verfügung. Über 40 Interessierte kamen zur Veranstaltung und beteiligten sich an der Diskussion. (…)

 

Anders in Innsbruck: Auch hier wurde zunächst die lange vereinbarte Räumlichkeit storniert – dabei handelte es sich um den »Begegnungsbogen« des Integrationsbüros Innsbruck, das von der Stadtgemeinde und vom Land Tirol gefördert wird (…). Daher kam es zur ersten Verlegung: Der KSV als gewählte ÖH-Fraktion (Studentenvertretung, jW) wollte die Veranstaltung an der Universität Innsbruck durchführen. Doch das Rektorat untersagte dies mit fadenscheinigen Begründungen zwei Tage vor dem Termin. Daraufhin kam es zur zweiten Verlegung, nämlich in die Räumlichkeiten des Alevitischen Kulturvereins im Volkshaus Reichenau. Und dies wurde sodann mit unfassbaren Mitteln unterbunden: Dem türkisch-kurdischen ImmigrantInnenverein wurde noch am Tag des Termins vom Vermieter angedroht, den Mietvertrag zu kündigen und die Aleviten auf die Straße zu setzen, sollte die Veranstaltung mit Dr. Bauer dort durchgeführt werden – Verwalter des Volkshauses ist der SPÖ-nahe ASKÖ, eigentlicher Eigentümer der Liegenschaft ist die Stadtgemeinde Innsbruck. (…) Den Verantwortlichen blieb nichts anderes übrig, als abermals den Veranstaltungsort zu wechseln – zum insgesamt dritten Mal. Die Adresse wurde nun nicht mehr öffentlich bekanntgegeben, sondern nur interessierten Teilnehmern auf Anfrage mitgeteilt (…).

Diese Ereignisse in Innsbruck werfen doch einige Fragen auf. Ist es tatsächlich nicht mehr erlaubt, über Alternativen zum Kapitalismus zu sprechen? Ist Antikapitalismus neuerdings illegal? Sind wir in unserem Land tatsächlich wieder so weit, dass eine Diskussion über den Sozialismus nur mehr im »Untergrund«, im Geheimen durchführbar ist? (…) Offensichtlich ist: Die bloße Diskussion über Alternativen zum Kapitalismus und Imperialismus sollte verhindert, ja verboten werden, noch bevor nur ein Wort gesprochen wurde. Es zeugt von einer gewissen absurden Ignoranz, wenn man mit Verweisen auf ein »Unrechtsregime« der DDR ohne »Meinungsfreiheit« versucht, genau das durchzusetzen: Bei den Vorgängen in Innsbruck handelt es sich nämlich um nichts anderes als einen unverblümten Angriff auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. (…)

 

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Aus: Ausgabe vom 23.11.2019, Seite 12 / Thema

1989/90

Ein Volk, ein Staat

Ende November 1989 trat Helmut Kohl mit einem »Zehn-Punkte-Programm« zur »Überwindung der Teilung Deutschlands« an die Öffentlichkeit. Die Vorbehalte des Kanzlers gegenüber einer raschen Wiedervereinigung waren bald vergessen

Von Jörg Roesler

Ulrich Hässler/picture alliance

In Dresden wurde Helmut Kohl am 19. Dezember 1989 von Deutschlandfahnen schwenkenden Menschen empfangen. Im März 1990 wählten viele von ihnen die »AfD«, das sich »Allianz für Deutschland« nennende Bündnis aus Ost-CDU, Deutscher Sozialer Union und Demokratischem Aufbruch, das eine rasche Einführung des Kapitalismus versprach

Jörg Roesler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11. September 2019 über die Ausreisewelle aus der DDR im Spätsommer 1989

Jörg Roesler ist Wirtschaftshistoriker. Von ihm erschien zuletzt 2012 im Kölner Papyrossa-Verlag der Band »Geschichte der DDR«.

Für gewöhnlich war die Vorstellung des Staatshaushalts für das kommende Jahr 1990 durch die Bundesregierung und dessen Diskussion im Parlament ein Routineakt. Aber in der zweiten Lesung am 28. November 1989 geschah etwas Besonderes: Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) legte zusätzlich ein »Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas« vor. »Im Grunde war es ein Mehrstufenplan zur Wiedervereinigung«, kommentierte Kohl dieses Programm zehn Jahre später in seinen Memoiren. Bei seiner 1999 veröffentlichten Rückschau auf den Anschluss der DDR ging es ihm »um die Würdigung des klugen politischen Handelns in der Vergangenheit« – vor allem seines Handelns, versteht sich. Der Kanzler als Architekt der deutschen Einheit, klug und weitsichtig, anderen Politikern weit voraus – so wollte Kohl gesehen werden. »Nicht wenige erinnern sich an dieses wichtige historische Datum und sprechen von meiner weitsichtigen politischen Handlungsweise«, erfährt der Leser von ihm. Doch welche Rolle spielte der Kohl-Plan wirklich?

Die Straßenproteste von DDR-Bürgern gegen ihre Regierung in Leipzig, Dresden und anderen Städten im Oktober und November 1989, bei denen Tausende »Wir sind das Volk!« skandierten und für eine bessere, demokratischere DDR eintraten, bei denen eine wachsende Zahl der Demonstranten aber auch »Wir sind ein Volk«« rief und damit offensichtlich eine Vereinigung von DDR und BRD forderte, hatten Kohl keineswegs zu der Schlussfolgerung gebracht, dass nunmehr die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten auf der Tagesordnung stehe. Er blieb skeptisch. Auch nachdem am 9. November die Grenzen geöffnet worden waren. »Zehn Jahre werde der Einigungsprozess dauern, war der Kanzler überzeugt«, berichtet der Spiegel-Journalist und Kohl-Biograph Jürgen Leinemann über des Kanzlers damalige Einschätzung. Aber dann änderte er seine Meinung, wohl nicht zuletzt, weil Politiker anderer bundesdeutscher Parteien das Thema »Wiedervereinigung« längst aufgegriffen hatten. Willy Brandt (SPD) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) reisten bereits durch die DDR.

Alleingang

Dass die CDU zum damaligen medialen Hauptthema kaum etwas hören ließ, hatte seinen Grund: Die Partei war mit sich selbst beschäftigt. Einflussreiche Funktionäre wie Heiner Geißler, Lothar Späth und Rita Süssmuth hatten, an Kohls Attraktivität für die Wähler bei den nächsten Bundestagswahlen im Herbst 1990 zweifelnd, auf dem Bremer Parteitag im September 1989 den Parteivorsitzenden abwählen wollen. Mit ihrem Vorhaben waren sie nur knapp gescheitert. Die Partei blieb uneins.

Kohl, dem klargeworden war, dass die CDU zu den Ereignissen in der DDR rund um den 9. November nicht schweigen konnte, entschloss sich zum Alleingang – sowohl gegenüber seiner eigenen Partei als auch den Westalliierten, die er eigentlich hätte unterrichten müssen. Mit der Absicht, in der Diskussion um die deutsche Einheit politisch nicht weiter ins Hintertreffen zu geraten, formulierte er schließlich – unterstützt von seiner Frau Hannelore und zwei Geistlichen – in seinem Haus ein Programm. Hannelore Kohl tippte das »Zehn-Punkte-Programm zur Deutschen Einheit« in ihre Reiseschreibmaschine. Am 28. November, die angesagte Haushaltsdebatte nutzend, trug Kohl dann seine Vorstellungen im Parlament vor. Der Widerhall bei den Bundestagsabgeordneten hielt sich in Grenzen. Beachtung fand lediglich sein Vorschlag, beide deutsche Staaten sollten auf eine Konföderation hinarbeiten.

Bei dem in aller Eile zusammengeschusterten Programm konnte es sich kaum um mehr als eine Zusammenführung von bereits geäußerten Meinungen und Vorschlägen zur Entwicklung und Neugestaltung der »deutsch-deutschen Beziehungen« handeln, von welcher Seite diese auch immer gekommen waren. Provokativ im Ton, aber inhaltlich sicher treffend charakterisierte SPD-Vize Oskar Lafontaine den »Kohl-Plan« als ein »feuilletonistisch aufgeblähtes Sammelsurium von Gemeinplätzen, ergänzt durch Forderungen, die wir längst gestellt haben«.

Unabhängig von der inhaltlichen Ausgestaltung, die vom Kanzler beabsichtige Wirkung erzielte das Programm trotzdem: Die Medien wurden aufmerksam, und alle politischen Kräfte in der Bundesrepublik und der DDR sahen sich veranlasst, Stellung zu nehmen. Dabei pickten sie sich aus Kohls »Programm« jeweils diejenigen Punkte heraus, die zu ihren eigenen Vorstellungen über die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten passten.

Anders als der Parteilinke Lafontaine erklärte sich die SPD-Führung mit dem Kohl-Papier weitgehend einverstanden. Der Saarländer konnte mit Unterstützung einiger Parteikollegen aus dem Vorstand lediglich erreichen, dass die SPD noch eine eigene Resolution verabschiedete. Die SPD-Politiker, die da im Prinzip Kohls Programm zustimmten, teilten die Meinung von NRW-Ministerpräsident Johannes Rau: »Wir dürfen nicht die letzten sein, die die Einheit verweigern.«

Die FDP, obwohl als Koalitionspartner der CDU nicht konsultiert, billigte Kohls Programm ebenfalls. Der Parteivorsitzende Otto Graf Lambsdorff begründete dies damit, dass es im Einklang mit der von Außenminister Genscher verfolgten Politik »der Verständigung, der Abrüstung und Kooperation« stehe. Lediglich Politiker der Grünen lehnten den Vorschlag des Bundeskanzlers als einen »Dreistufenplan, mit dem die DDR ›heim ins Reich‹ geführt werden solle«, ab.

Auch der frischgewählte Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Hans Modrow, äußerte sich positiv zum »Kohl-Papier«, fand er doch darin Anknüpfungspunkte an seine am 17. November 1989 vorgetragene Regierungserklärung, in der er die Errichtung einer »Vertragsgemeinschaft« mit der BRD vorgeschlagen hatte. Kohls Vorschlag einer Konföderation zwischen beiden deutschen Staaten könne man als weitere Stufe der Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten betrachten. Doch das sei keine Aufgabe für die nächsten Monate, so Modrow: »Wir brauchen erst mal ein Fundament, das Ausbaufähigkeiten für weiteres schafft.« Seinen eigenen Vorschlag einer Vertragsgemeinschaft betrachtete Modrow als durchaus ausbaufähig in dieser Richtung. Er regte die Bildung gemeinsamer Kommissionen aus Mitgliedern beider deutscher Regierungen an. In diesem Sinne lud er Kohl zu Konsultationen nach Dresden ein.

»Keine Wiedervereinigung«

Seine Zustimmung zu etwaigen Konföderationsplänen knüpfte Modrow an Bedingungen. In einem am 4. Dezember veröffentlichten Spiegel-Interview nannte der DDR-Ministerpräsident als wichtigste Voraussetzung, dass von der Fortexistenz beider deutscher Staaten ausgegangen werde: »Es kann nur eine Lösung in den Grenzen von heute geben und nichts anderes. Keine Wiedervereinigung.«

Von der oppositionellen Bürgerbewegung in der DDR, die einen reformierten Sozialismus forderte, wurde Kohls Plan überwiegend abgelehnt. So warnte der Schriftsteller Stefan Heym im Spiegel ausdrücklich vor den Folgen einer Konföderation und »einem weiteren Ausbluten des Landes«.

Das vom DDR-Ministerpräsidenten angebotene Treffen mit dem Bundeskanzler fand am 19. Dezember in Dresden statt. Vorgesehen waren Verhandlungen im Hotel Bellevue in der Innenstadt, ganz in der Nähe der Ruine der Frauenkirche gelegen. Anschließend sollte es ein »Bad in der Menge« geben, das der Kanzler sich ausbedungen hatte.

Kohl landete in Dresden bereits am frühen Morgen. »Überall an den Fenstern der Flughafengebäude drängten sich Menschen, die dem Bonner Kanzler zuwinkten«, beschreibt Jürgen Leinemann den Auftakt des Besuchs in der Elbmetropole. Auch auf der Fahrt zum Hotel habe sich die Begeisterung der Menschen, die den Weg säumten, fortgesetzt. »Angesichts der vielen tausend Menschen war mir klar, wie wichtig dieser Augenblick war, zumal Kameras von Fernsehstationen aus der ganzen Welt auf mich gerichtet waren«, beschreibt Kohl in seinen Memoiren den Empfang durch die Bevölkerung.

Bildarchiv dpa

»Ich bin mit Ihnen, Herr Ministerpräsident, einig, dass Behutsamkeit, Geduld und (…) Augenmaß erforderlich sind, um eine organische Entwicklung zu ermöglichen«, äußerte Bundeskanzler Helmut Kohl (l.) am 19. Dezember 1989 während der gemeinsamen Pressekonferenz mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow. Wenig später begann er mit seiner forcierten Politik des Anschlusses der DDR

Im Kontrast dazu verliefen die Verhandlungen mit Modrow nüchtern und, wie der Kanzler in sein Tagebuch eintrug, ergebnislos: »In Aussicht gestellt wurde lediglich eine Vertragsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten für das Frühjahr 1990.« Anschließend folgte das »Bad in der Menge« auf dem Platz vor der Ruine der Frauenkirche, wo sich Zehntausende Menschen versammelt hatten. Kohl rief ihnen zu, dass sein Ziel »die Einheit unserer Nation« sei und das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für Deutsche gelte. »Brausender Jubel sei daraufhin losgebrochen«, schreibt Kohl in seinen Erinnerungen.

Kohl war von seinem Dresden-Besuch überwältigt. »Ein Schlüsselerlebnis« nannte er fortan diesen Empfang, »einen Wendepunkt schlechthin«. Tatsächlich betrieb er von Bonn aus nunmehr – das selbstverfasste »Programm« vom 29. November 1989, das für die Herstellung der deutschen Einheit ein Vorgehen in Stufen und Etappen angeregt hatte, ignorierend – die rasche staatliche Vereinigung als Anschluss der DDR an die BRD. Vergessen war seine Einschätzung, dass bis zur deutschen Einheit noch ein Jahrzehnt vergehen würde.

Hinsichtlich der Bereitschaft eines Großteils der DDR-Bevölkerung, einer baldigen Vereinigung zuzustimmen, hatte Kohl sich nicht geirrt. Bei den Wahlen zur Volkskammer im März 1990, die im Unterschied zu den Kommunalwahlen vom Mai 1989 – den letzten DDR-Wahlen – nicht manipuliert worden waren, erhielt die CDU 40,9 Prozent der Stimmen. Die besonders von Oskar Lafontaine unterstützten ostdeutschen Sozialdemokraten kamen lediglich auf 21,9 Prozent. Die SED, die Anfang Dezember den Zusatz »Partei des Demokratischen Sozialismus« in ihren Namen aufgenommen hatte und seit dem Februar 1990 unter dem Namen PDS firmierte, landete mit 16,3 Prozent der Stimmen abgeschlagen auf Platz drei. Die aus der Oppositionsbewegung hervorgegangenen kleineren Parteien wie Bündnis 90 blieben deutlich unter fünf Prozent.

Meinungsumschwung

Modrow hatte im besagten Spiegel-Interview unter Berufung auf Umfragen noch geglaubt, 80 Prozent der ostdeutschen Wähler seien »für eine sozialistische DDR«. Der Ministerpräsident führte diesen Grad der Zustimmung auf den Kurs »Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik« Honeckers zurück, der seit den 1970er Jahren die Legitimationsbasis der SED in der DDR-Gesellschaft erhöht hatte. Wenn die zitierten Umfragen die wirkliche Stimmung in der DDR-Bevölkerung erfasst haben, stellt sich die Frage, worauf der Meinungsumsturz der DDR-Bevölkerung innerhalb der folgenden vier Monate zurückzuführen ist.

Eine erste repräsentative Umfrage zu einer möglichen Vereinigung von DDR und BRD hatte Ende November das Leipziger Institut für Jugendforschung im Rahmen seines »Meinungsbarometer November 1989 – Einstellung zur Entwicklung in der DDR« durchgeführt. Ihr zufolge sprachen sich 45,6 Prozent der Befragten für eine Vereinigung aus (15,4 Prozent »sehr dafür«, 30,2 Prozent »eher dafür als dagegen«), 53,2 Prozent, also etwas mehr als die Hälfte, waren dagegen (24,5 Prozent »sehr dagegen«, 28,7 Prozent »eher dagegen als dafür«). Unter den Befragten, die sich einer Partei zugehörig fühlten, zeigte sich ein recht eindeutiges Bild: 62 Prozent der Anhänger des Neuen Forums waren für die Wiedervereinigung, bei den Mitgliedern der SED waren es nur 19 Prozent. Gert-Joachim Gläßner, Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und hervorgetreten mit Publikationen zur DDR, begründete in einer Beilage der Wochenzeitung Das Parlament Anfang Januar 1990 den Stimmungsumschwung innerhalb der DDR-Bevölkerung wie folgt: »Ohne Verständnis und ohne erkennbare politische Konzeption stand die SED-Führung den vielfältigen neuen sozialen Erscheinungen gegenüber: dem Wertewandel, vor allem in Teilen der jungen Generation, dem Aufkommen neuer ›Issues‹ wie Umwelt, Frieden, individuelle Selbstbestimmung usw. Innerhalb weniger Jahre verspielte die SED-Führung den Kredit, den sie sich in den 70er und frühen 80er Jahren erworben hatte. Was noch fünf Jahre zuvor als liberale Haltung gegolten hatte, erschien angesichts des dynamischen Veränderungsprozesses in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern als Festhalten an überholten Vorstellungen und als fortdauernde politische Repression.«

Auch der Regierung Modrow gelang es mit ihren Stabilisierungsversuchen nicht, das Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit zurückzugewinnen, was die Wahlen vom März 1990 dann dokumentierten. Bundeskanzler Kohl konnte fortan, legitimiert durch dieses Abstimmungsergebnis, das politische Ziel, das er nach seinem Dresden-Besuch formuliert hatte, die deutsche Einheit als Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik zu erreichen, mit Nachdruck verfolgen. Weder seine Gegner in der CDU, die von Lothar Späth angeführte »Putschgruppe«, wie sie Kohl in seinen Memoiren nannte, noch die PDS oder die sogenannte Bürgerbewegung waren in der Lage, ihn von der Verwirklichung seiner deutschlandpolitischen Ziele abzubringen oder ihn doch wenigstens zu veranlassen, das Tempo des Vereinigungsprozesses zu drosseln. Der durch den CDU-Wahlerfolg an die Spitze der DDR gekommene neue Ministerpräsident Lothar de Maizière erwies sich dabei als ergebener Gehilfe.

Die Maßnahmen der Kohl-Regierung erfolgten Schlag auf Schlag: Schon im Februar hatte Kohl der Regierung Modrow eine Währungsunion angeboten. Am 20. März 1990, kaum dass das Ergebnis der Wahlen bekanntgegeben war, erneuerte die Bundesregierung ihr Angebot einer »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« an die nunmehr neue DDR-Regierung. Knapp zwei Monate später, am 18. Mai, wurde der Vertrag über die Wirtschaftsunion beider deutscher Staaten von deren Finanzministern unterzeichnet. Weitere anderthalb Monate später, am 1. Juli 1990, trat die »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion«, die die DDR-Währung zugunsten der DM abschaffte, in Kraft. Die Treuhandanstalt, ursprünglich als Institution zur Absicherung des Produktivvermögens der DDR von der Regierung Modrow geschaffen, erhielt den Auftrag, die volkseigenen Betriebe so rasch wie möglich zu sanieren, zu privatisieren oder stillzulegen. Die Aufkaufmöglichkeit nutzten zu 80 Prozent westdeutsche Unternehmen. Ostdeutschen Interessenten fehlten dafür zumeist die Finanzmittel.

Auf staatspolitischer Ebene stimmte nach Abschluss der dritten Verhandlungsrunde beider Regierungen am 24. August 1990 die Volkskammer der DDR dem »Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes« zu. Der »Einigungsvertrag« wurde am 20. September von den Parlamentariern mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit verabschiedet und trat wie vorgesehen am 3. Oktober in Kraft.

Weit abgeschlagen

Die deutsche Einheit war zweifellos die Krönung von Helmut Kohls politischer Karriere. Wirtschaftlich war sie ein Desaster. Den Ostdeutschen brachte sie nicht die vom Kanzler versprochenen »blühenden Landschaften«, nicht die Angleichung an das wirtschaftliche Niveau des Westens und auch nicht den Lebensstandard, dessen sich die Bewohner der alten Bundesländer erfreuten.

Die Wirtschaftskraft der DDR, die – gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner – 1989 gut die Hälfte (55 Prozent) der bundesdeutschen betragen hatte, sackte 1991 auf ein Drittel des »Westniveaus« (33 Prozent) ab. Erst Mitte der 1990er Jahre wurde der Stand von 1989 wieder erreicht. Das Aufholen in den östlichen Bundesländern, gemessen am BIP je Einwohner, vollzog sich auch in den folgenden Jahren relativ langsam. Bis heute ist das westliche Niveau nicht erreicht (2018 lag das Ost-BIP bei 73 Prozent).

Im Rückblick stellt sich die Frage, ob der bis heute noch vorhandene ökonomische und soziale Rückstand des Ostens bei einer vorsichtigeren, auf längere Anpassungsfristen und ein etappenweises Vorgehen ausgelegten Vereinigungspolitik – vorausgesetzt, die wäre aus welchen Gründen auch immer wünschenswert gewesen – nicht hätte vermieden werden können. In diesem Zusammenhang ist es naheliegend, einen Blick auf die anderen osteuropäischen Länder zu werfen, die etwa zur gleichen Zeit wie die DDR den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft vollzogen, die aber die Transformation etappenweise und in eigener Regie vollziehen konnten.

Dieter Segert, Professor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien mit dem Forschungsschwerpunkt »Transformationsanalyse Osteuropas« hat die Berechtigung eines solchen Vergleichs zwischen der DDR und den »Volksdemokratien« unterstrichen. »Eine angemessene Vergleichsfolie für die Entwicklung, die die ehemaligen DDR-Bürger zu durchlaufen haben, findet sich (…) in den anderen postsozialistischen Transformationsgesellschaften.« In einer vergleichenden Analyse der Entwicklung der Wirtschaftsleistung der Länder, die dem »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe« angehört hatten, stellte Segert fest: »Das Bruttosozialprodukt pro Kopf brach in Ostmitteleuropa um 25 bis 30 Prozent ein, in Ostdeutschland dagegen um ca. 50 Prozent«.

Das Ergebnis des Vergleichs rechtfertigt ein hartes Urteil über Kohls Vereinigungspolitik. Denn zweifellos trug die von ihm nach seinem Dresden-Besuch beschlossene und rasch in Gang gesetzte Transformationsvariante entscheidend zum ostdeutschen Wirtschaftsdesaster bei. Ihr gerüttelt Maß Anteil an der Schuld haben aber auch jene DDR-Bürger, denen im November 1989 die Vereinigung beider deutscher Staaten und damit das Ende des Sozialismus über alles ging und die Kohl mutmaßlich erst zu der Überzeugung brachten, seine noch im »Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas« formulierte Zurückhaltung bezüglich einer raschen Wiedervereinigung aufzugeben.


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